VwGH 2010/22/0206

VwGH2010/22/020619.9.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des E, vertreten durch Lic. Mag. Dr. iur. Thomas Nirk, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Prinz-Eugen-Straße 56/7, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 28. Oktober 2010, Zl. 155.428/2-III/4/10, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

12010E020 AEUV Art20;
62011CJ0256 Dereci VORAB;
NAG 2005 §11 Abs4 Z1;
NAG 2005 §21 Abs1;
12010E020 AEUV Art20;
62011CJ0256 Dereci VORAB;
NAG 2005 §11 Abs4 Z1;
NAG 2005 §21 Abs1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, vom 28. Mai 2009 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gemäß § 21 Abs. 1 und 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Zur Begründung verwies sie im Wesentlichen darauf, dass der Beschwerdeführer im Jahr 1989 nach Österreich gekommen sei und in den Jahren 1993 bis 1997 über Aufenthaltsbewilligungen für den Aufenthaltszweck "unselbständige Erwerbstätigkeit" verfügt habe.

Im Zug einer Amtshandlung am 3. Mai 2004 habe er sich mit einem verfälschten, auf seinen Cousin ausgestellten türkischen Reisepass, in dem ein unbefristeter Aufenthaltstitel eingeklebt gewesen sei, ausgewiesen. Gegen den Beschwerdeführer sei in zweiter Instanz mit Bescheid vom 26. Mai 2004 ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen worden. Die dagegen gerichtete Beschwerde habe der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 14. Dezember 2006, 2004/18/0148, als unbegründet abgewiesen. Dieses Aufenthaltsverbot sei mittlerweile abgelaufen.

Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 21. September 2004 sei der Beschwerdeführer nach den §§ 146 , 147 Abs. 1 Z 1 , 223 Abs. 1 und 224 StGB rechtskräftig zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt worden.

Während der an die Erlassung des Aufenthaltsverbotes anschließenden Schubhaft habe er am 18. Juni 2004 einen Asylantrag gestellt, weshalb die geplante Abschiebung unterblieben sei. Am 22. November 2004 habe er eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet.

Sein Asylantrag sei mit Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 19. Juni 2008 abgewiesen worden. Dieser habe zwar wegen der familiären Bindungen die Ausweisungsentscheidung des Bundesasylamtes aufgehoben, allerdings seien in diesem Bescheid die gerichtlichen Verurteilungen unberücksichtigt geblieben.

Am 28. Mai 2009 habe der Beschwerdeführer den gegenständlichen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" sowie einen Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG gestellt.

Der gegenständliche Antrag sei zweifelsfrei als Erstantrag zu qualifizieren, bei dem § 21 Abs. 1 NAG zu beachten sei, der die Verpflichtung normiere, den Antrag im Ausland zu stellen und das Verfahren im Ausland abzuwarten.

Der Beschwerdeführer sei in den letzten 13 Jahren nach Ablauf seines letzten Aufenthaltstitels lediglich für die Dauer von vier Jahren auf Grund des Asylantrages vorläufig aufenthaltsberechtigt gewesen. Allein dieses Verhalten zeige, dass der Beschwerdeführer nicht gewillt sei, sich an die in Österreich geltende Rechtsordnung zu halten.

§ 21 Abs. 3 NAG ermögliche zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK die Zulassung der Antragstellung im Inland, wenn die Ausreise des Fremden nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar sei. Die bloße Aufenthaltsdauer sei dabei nicht allein maßgeblich, sondern es sei anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalles zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt habe, sich sozial und beruflich zu integrieren.

Durch den langjährigen Aufenthalt in Österreich, die hier absolvierte schulische und berufliche Ausbildung, die Erwerbstätigkeit und die mit einer österreichischen Staatsbürgerin eingegangene Ehe bestünden unbestritten private und familiäre Interessen des Beschwerdeführers an einem Verbleib im Bundesgebiet. Allerdings habe der Beschwerdeführer wiederholt unter Beweis gestellt, dass er keinerlei Wert auf die Einhaltung der in Österreich geltenden Rechtsvorschriften lege. Er sei am 4. Juli 1997 rechtskräftig nach § 83 Abs. 1 StGB verurteilt worden. Weiters habe er sich im Jahr 2004 mit einem verfälschten türkischen Reisepass ausgewiesen und sei deswegen verurteilt worden. Sein Aufenthalt sei zum damaligen Zeitpunkt nahezu sieben Jahre unrechtmäßig gewesen und der Beschwerdeführer habe sich unter Verwendung eines gefälschten Reisepasses nicht nur ein Beschäftigungsverhältnis und die daran geknüpfte Sozialversicherung erschlichen, sondern auch versucht, einen legalen Aufenthalt in Österreich vorzutäuschen. Deswegen sei gegen ihn im Jahr 2004 ein auf fünf Jahre befristetes Aufenthaltsverbot erlassen worden. Ein Antrag auf Aufhebung dieses Aufenthaltsverbotes sei erfolglos geblieben. Trotz aufrechten Aufenthaltsverbotes sei der Beschwerdeführer weiter im Bundesgebiet geblieben und habe somit sämtliche die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Vorschriften in erheblicher Weise missachtet. Am 18. Juni 2004 habe er im Bereich des Flughafens einen mündlichen Asylantrag in der Absicht gestellt, die geplante Abschiebung zu verhindern bzw. den Verbleib im Bundesgebiet zu erzwingen.

Diese Vorgangsweise, nach einem sieben Jahre andauernden Aufenthalt einen Asylantrag zu stellen, um sich fremdenpolizeilichen Maßnahmen zu entziehen und vorläufig einen rechtmäßigen Aufenthalt im Inland zu erlangen und dann nach Abweisung des Asylantrages unrechtmäßig im Inland zu bleiben, gefährde in massiver Weise das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens.

Der Beschwerdeführer habe die Ehe zu einem Zeitpunkt geschlossen, als er bloß auf Grund eines Asylantrages zum vorläufigen Aufenthalt berechtigt gewesen sei.

Es lägen daher in Bezug auf das Privat- und Familienleben trotz der schon sehr langen Aufenthaltsdauer keine derart außergewöhnlichen Umstände vor, dass dem Beschwerdeführer ein direkt aus Art. 8 EMRK ableitbares Aufenthaltsrecht bzw. ein Recht zur Zulassung der Inlandsantragstellung zugestanden werden müsste.

Eine allfällige Berechtigung nach dem "ARB Nr. 1/80" (nach dem Beschluss des - durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten - Assoziationsrates vom 19. September 1980, Nr. 1/80, über die Entwicklung der Assoziation - ARB) habe der Beschwerdeführer durch das Fehlen einer ordnungsgemäßen Beschäftigung ab September 1997 verloren.

Nach Abschluss des Asylverfahrens halte sich der Beschwerdeführer wiederum illegal im Bundesgebiet auf.

Der Beschwerdeführer habe keine konkreten Angaben dazu gemacht, warum eine Rückkehr in die Türkei zwecks Antragstellung unzumutbar sein sollte.

Somit sei der vorliegende Antrag mangels rechtskonformer Antragstellung abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde - in einem nach § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

Der Beschwerdefall gleicht vor dem Hintergrund der Ausführungen des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) im Urteil vom 15. November 2011, C-256/11 "Dereci u.a.", darin, dass die belangte Behörde in Verkennung der durch den EuGH nunmehr klargestellten Rechtslage nicht anhand des unionsrechtlich vorgegebenen Maßstabes geprüft hat, ob der vorliegende Fall einen solchen Ausnahmefall, wonach es das Unionsrecht gebietet, dem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt zu gewähren, darstellt, jenem Fall, der dem hg. Erkenntnis vom 19. Jänner 2012, 2011/22/0309, zu Grunde lag. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird sohin insoweit auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.

Im vorliegenden Fall wird die belangte Behörde im fortzusetzenden Verfahren nach Einräumung von Parteiengehör - diese Frage ist nicht mit der Beurteilung nach Art. 8 EMRK gleichzusetzen und war bisher nicht Gegenstand des behördlichen Verfahrens - entsprechende Feststellungen zu treffen haben.

Für den Fall, dass Gründe im genannten Sinn vorliegen sollten, wird bei der Beurteilung, ob der Aufenthalt des Beschwerdeführers eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen könnte, zu beachten sein, dass die Verweigerung des Aufenthaltstitels dann zulässig wäre, wenn die Trennung des Beschwerdeführers von seiner die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Ehefrau trotz Vorliegens oben beschriebener außerordentlicher Gründe hinzunehmen wäre. Bei dieser Beurteilung ist jener Maßstab anzulegen, den das Unionsrecht im Fall eines Angehörigen eines sonstigen Unionsbürgers vorgibt (vgl. das hg. Erkenntnis vom 28. März 2012, 2008/22/0140).

Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 19. September 2012

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