VwGH 2010/22/0035

VwGH2010/22/003526.6.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des V, vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/2, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 14. Dezember 2009, Zl. 142.625/14-III/4/09, betreffend Daueraufenthaltskarte, zu Recht erkannt:

Normen

11997E039 EG Art39;
12010E021 AEUV Art21;
12010E045 AEUV Art45;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art10 Abs2;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 lita;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs2;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art8 Abs1;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art8 Abs2;
61998CJ0224 D'Hoop VORAB;
62008CJ0022 Vatsouras und Koupatantze VORAB;
FrPolG 2005 §54;
NAG 2005 §54;
NAG 2005 §57;
11997E039 EG Art39;
12010E021 AEUV Art21;
12010E045 AEUV Art45;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art10 Abs2;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs1 lita;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art7 Abs2;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art8 Abs1;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art8 Abs2;
61998CJ0224 D'Hoop VORAB;
62008CJ0022 Vatsouras und Koupatantze VORAB;
FrPolG 2005 §54;
NAG 2005 §54;
NAG 2005 §57;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers, eines nigerianischen Staatsangehörigen, vom 9. März 2009 auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte gemäß § 54 iVm § 57 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Zur Begründung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer habe am 16. Dezember 2005 eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet, nachdem er am 4. März 2003 eingereist sei und einen Asylantrag gestellt habe. Sein Asylantrag sei am 19. Dezember 2005 rechtskräftig abgewiesen worden. Sein Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung sei rechtskräftig abgewiesen worden. (Die gegen den zweitinstanzlichen Bescheid vom 27. November 2007 erhobene Beschwerde wurde mit hg. Erkenntnis vom 18. März 2010, 2008/22/0007, als unbegründet abgewiesen.)

Der Beschwerdeführer habe nunmehr einen Erstantrag auf Ausstellung einer Daueraufenthaltskarte eingebracht. Seine Ehefrau sei seit 27. Juni 2001 durchgehend mit Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet und weise im Zeitraum vom 15. Jänner 2008 bis 15. Mai 2009 ebenfalls nahezu durchgehend Versicherungszeiten als Arbeiterin, als geringfügig beschäftigte Arbeiterin und als mehrfach geringfügig beschäftigte Arbeiterin auf. Im Zuge seiner Antragstellung habe er eine am 3. März 2008 auf ihn ausgestellte spanische Niederlassungsbewilligung und eine am 30. Jänner 2008 auf seine Ehefrau ausgestellte spanische Anmeldebescheinigung vorgelegt. Für die korrekte Ausübung des Freizügigkeitsrechts im Sinn der Richtlinie 2004/38/EG sei jedoch ein Aufenthalt von mehr als drei Monaten erforderlich. Seine Ehefrau habe in ihrer Stellungnahme vom 10. März 2009 bestätigt, dass sie neben ihren aufrechten Beschäftigungsverhältnissen in Österreich lediglich an freien Tagen mit dem Auto nach Spanien gefahren wäre. Weiters habe sie in ihrer Stellungnahme ausgeführt, keine Beschäftigung in Spanien ausgeübt zu haben. In der Berufung vom 18. August 2009 habe der Beschwerdeführer ausgeführt, dass es seiner Ehefrau auf Grund der Rezession nicht möglich gewesen wäre, in Spanien eine Beschäftigung aufzunehmen. Für die belangte Behörde stehe "daher" fest, dass der Beschwerdeführer nicht dargetan habe, dass seine Ehefrau das Recht auf die gemeinschaftliche Freizügigkeit in Anspruch genommen habe. Auch sonst sei weder der Berufung noch dem bekämpften Bescheid noch dem Akteninhalt ein Anhaltspunkt für die Inanspruchnahme dieses Rechts zu entnehmen. Darüber hinaus stünden einer korrekten Ausübung der Freizügigkeit nahezu durchgehende Versicherungszeiten in Österreich und eine durchgehende Hauptwohnsitzmeldung in Österreich entgegen. Der Beschwerdeführer sei somit die Ehe mit einem "nicht freizügigkeitsberechtigten" (gemeint : das Freizügigkeitsrecht nicht in Anspruch genommen habenden) Unionsbürger eingegangen und falle daher nicht unter § 54 NAG.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage samt Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Angesichts der Zustellung des angefochtenen Bescheides durch Hinterlegung am 22. Dezember 2009 sind die Bestimmungen des NAG im

4. Hauptstück über das gemeinschaftsrechtliche Niederlassungsrecht (§§ 51 bis 57) in der Stammfassung maßgeblich.

Im vorliegenden Fall brachte der Beschwerdeführer in der Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid vor, seine österreichische Ehefrau habe in Spanien versucht, eine Beschäftigung aufzunehmen, allerdings sei es damals auf Grund des angespannten Arbeitsmarktes in Spanien nicht möglich gewesen, eine Arbeit zu finden. Eine (tatsächliche) Erwerbstätigkeit im Aufnahmeland sei zur Ausübung des Freizügigkeitsrechts nach Art. 7 der Richtlinie 2004/38/EG (im Folgenden: RL) nicht erforderlich.

Mit dem Beschwerdehinweis auf dieses Vorbringen zeigt der Beschwerdeführer eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides auf. Die belangte Behörde hat nämlich - wie der Bescheidbegründung eindeutig zu entnehmen ist - die Inanspruchnahme des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts ausschließlich damit verneint, dass es der Ehefrau des Beschwerdeführers nicht möglich gewesen sei, eine Beschäftigung aufzunehmen. Allein schon durch das Fehlen einer tatsächlichen Beschäftigung dürfe die Freizügigkeitsinanspruchnahme verneint werden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis vom 23. Februar 2012, 2010/22/0011, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, ausführlich dargelegt, dass auch Angehörige eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung suchen, in den Anwendungsbereich von Art. 39 EG (nunmehr Art. 45 AEUV) fallen, solange der Begünstigte ernsthaft im Aufnahmestaat einen Arbeitsplatz sucht, sich nachhaltig um eine Arbeitsstelle bemüht und sein Bemühen objektiv nicht aussichtslos ist. Ausgehend von der verfehlten Rechtsansicht, dass eine Beschäftigung über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten tatsächlich ausgeübt werden müsse, um von einer Inanspruchnahme der unionsrechtlichen Freizügigkeit sprechen zu können, hat es die belangte Behörde unterlassen, zu den wiedergegebenen Behauptungen des Beschwerdeführers Feststellungen zu treffen bzw. ihn allenfalls zur Vorlage von Beweismitteln aufzufordern. Die belangte Behörde hat auch nicht konkret und nachvollziehbar begründet, dass der Beschwerdeführer und seine Ehefrau die genannten spanischen Dokumente nur deswegen für sich hätten ausstellen lassen, um damit - in Missbrauchsabsicht - eine österreichische Berechtigung zu erwirken, jedoch nicht tatsächlich eine effektive Inanspruchnahme der Freizügigkeit in Spanien beabsichtigt hätten. Die Bescheidbegründung, in der lediglich auf durchgehende Beschäftigungs- und Meldezeiten in Österreich verwiesen wird, lässt offen, ob die belangte Behörde von einem solchen Verhalten ausgeht.

Zur Klarstellung sei angemerkt, dass die Beschwerde nicht im Recht ist, wenn sie für die Inanspruchnahme der Freizügigkeit bereits die Ausstellung der genannten spanischen Dokumente für ausreichend erachtet und diesen Dokumenten nicht bloß Indiz-, sondern eine Bindungswirkung zukommen lassen möchte. Gemäß Art. 8 Abs. 1 RL kann der Aufnahmemitgliedstaat von Unionsbürgern für Aufenthalte von über drei Monaten verlangen, dass sie sich bei den zuständigen Behörden anmelden. Dann wird dem Unionsbürger eine Anmeldebescheinigung ausgestellt, in der gemäß Art. 8 Abs. 2 RL Name und Anschrift der die Anmeldung vornehmenden Person sowie der Zeitpunkt der Anmeldung angegeben werden. Dass einer solchen bloßen Anmeldebescheinigung schon von vornherein die Wirkung zukäme, dass die Behörden anderer Mitgliedstaaten die tatsächliche Inanspruchnahme der Freizügigkeit bindend anzunehmen hätten, kann keiner gesetzlichen - auch nicht unionsrechtlichen - Vorschrift entnommen werden. Auch für die Ausstellung der Aufenthaltskarte für die Familienangehörigen eines Unionsbürgers verlangen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 10 Abs. 2 RL - soweit hier wesentlich - bloß die Anmeldebescheinigung des Unionsbürgers. Somit kann auch diesem Dokument eine Bindungswirkung weder für die nationalen Behörden noch für die Behörden anderer Mitgliedstaaten zukommen. Im Übrigen zeigt auch das zitierte Erkenntnis 2010/22/0011 im Ergebnis, dass von einer Bindungswirkung der ausländischen Dokumentationen keine Rede sein kann. Soweit die Beschwerde irrig meint, dass die unionsrechtliche Freizügigkeit allein schon durch die Reise in einen anderen Mitgliedstaat ausgeübt und dadurch der Tatbestand des § 57 NAG verwirklicht werde, genügt der Hinweis auf die ausführliche Begründung des zitierten Erkenntnisses vom 23. Februar 2012.

Letztlich gleich der Beschwerdefall vor dem Hintergrund der Ausführungen des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) im Urteil vom 15. November 2011, C-256/11 , "Dereci u.a.", darin, dass die belangte Behörde in Verkennung der durch den EuGH nunmehr klargestellten Rechtslage nicht anhand des unionsrechtlich vorgegebenen Maßstabes geprüft hat, ob der vorliegende Fall einen solchen Ausnahmefall, wonach es das Unionsrecht gebietet, dem Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt zu gewähren, darstellt, jenem Fall, der dem hg. Erkenntnis vom 19. Jänner 2012, 2011/22/0309, zu Grunde lag. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird sohin insoweit auch auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.

Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 26. Juni 2012

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