VwGH 2011/23/0075

VwGH2011/23/007527.4.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofräte Dr. Hofbauer und Dr. Fasching, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Feiel als Richter, im Beisein des Schriftführers MMag. Stelzl, über die Beschwerde des SG, geboren 1986 (auch 1990), vertreten durch Dr. Hannes Arnold, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Franz-Josef-Kai 1, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 28. Februar 2007, Zl. 309.825- 1/3E-XIII/65/07, betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

32003R0343 Dublin-II Art10 Abs1;
32003R0343 Dublin-II Art3 Abs2;
AsylG 2005 §5;
EMRK Art3;
32003R0343 Dublin-II Art10 Abs1;
32003R0343 Dublin-II Art3 Abs2;
AsylG 2005 §5;
EMRK Art3;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, reiste illegal über eine Außengrenze Griechenlands in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein und gelangte - ohne vorher einen Asylantrag gestellt zu haben - in der Folge nach Österreich, wo er am 6. November 2006 internationalen Schutz beantragte.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde diesen Antrag gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück und erklärte gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin-Verordnung Griechenland als für dessen Prüfung zuständig. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 wies die belangte Behörde den Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Griechenland aus; demzufolge sei gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Griechenland zulässig.

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer von der Türkei kommend am Seeweg illegal nach Griechenland und damit in den EU-Raum eingereist sei. Infolge nicht fristgerechter Beantwortung des österreichischen Aufnahmegesuchs sei gemäß Art. 18 Abs. 7 Dublin-Verordnung die Zuständigkeit Griechenlands eingetreten. Die Zuständigkeit eines anderen Staates der Europäischen Union sei nicht hervorgekommen. Es bestünden keine Hinweise, dass im griechischen Asylwesen (nach Überstellungen im Zuge der Dublin-Verordnung) systematisch Verletzungen der EMRK erfolgten. Anhaltspunkte, dass Griechenland unvertretbare rechtliche Sonderpositionen verträte, seien ebenfalls nicht ersichtlich. Eine - in der Berufung verlangte - nähere Überprüfung der griechischen Rechtslage im Asylverfahren und deren Anwendungspraxis sowie hinsichtlich des Refoulement-Schutzes seien nicht erforderlich. Eine niedrige Asylanerkennungsquote sei für sich allein genommen noch keine ausreichende Grundlage dafür, um vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen. Zum behaupteten mangelnden Refoulement-Schutz des griechischen Asylrechts sei auf die im ECRE Country Report 2005 dargestellten Fälle zu verweisen, in welchen Griechenland subsidiären Schutz gewährt habe. Der Beschwerdeführer habe keine Bedenken glaubhaft machen können und es lägen auch keine von Amts wegen aufzugreifenden Hinweise dafür vor, dass dem Beschwerdeführer der Zugang zu einem inhaltlichen Asylverfahren verweigert würde und für ihn bei Glaubhaftmachung seiner Fluchtgründe ein über eine bloße Möglichkeit hinausgehendes "real risk" bestehe, von Griechenland dennoch nach Beendigung des erstinstanzlichen Verfahrens in seinen Herkunftsstaat verbracht zu werden.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

1. Soweit die Beschwerde nähere Erhebungen und Feststellungen zum Zeitpunkt der illegalen Einreise des Beschwerdeführers nach Griechenland begehrt, weil nach Art. 10 Abs. 1 zweiter Satz Dublin-Verordnung die Zuständigkeit Griechenlands zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts ende, kann sie einen relevanten Verfahrensmangel nicht aufzeigen.

So gab der Beschwerdeführer bei seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes an, Afghanistan vor etwa zehn Monaten verlassen zu haben, und bei einer Dauer der Reise von neun Monaten etwa vor zweieinhalb Monaten über eine griechische Außengrenze in die Europäische Union eingereist zu sein. Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt gab der Beschwerdeführer ebenfalls eine Reisedauer von ca. neun Monaten an; in Griechenland habe er sich etwa 35 Tage aufgehalten. Letzteres wird auch in der Berufung wiederholt.

Die vom Beschwerdeführer angegebene Aufenthaltsdauer im Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vor Stellung des Antrags auf internationalen Schutz beträgt somit nicht auch nur annähernd zwölf Monate; auch der Beschwerde ist ein solches Vorbringen nicht zu entnehmen. Von einem Erlöschen der Zuständigkeit gemäß Art. 10 Abs. 1 zweiter Satz Dublin-Verordnung kann daher nicht ausgegangen werden.

2. Die Beschwerde macht im Übrigen - zusammengefasst - geltend, dass die belangte Behörde zu Unrecht das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung verneint habe, weil der Beschwerdeführer eine ihm drohende Gefährdung im Fall seiner Abschiebung dargetan habe.

Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde im Ergebnis einen relevanten Verfahrensmangel auf.

3. Eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte könnte einem Asylwerber dadurch drohen, dass er bei Überstellung nach Griechenland trotz Berechtigung seines Schutzbegehrens der Gefahr einer - direkten oder indirekten - Abschiebung in den Herkunftsstaat ausgesetzt wäre (Kettenabschiebung; vgl. etwa Punkt

2.2. der Entscheidungsgründe des hg. Erkenntnisses vom 25. April 2006, Zl. 2006/19/0673, mwN), dass er dort (schutzlos) körperlichen Misshandlungen insbesondere durch Sicherheitskräfte ausgesetzt wäre (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 8. Juni 2006, Zl. 2005/01/0317, mwN) oder dass ihm Unterkunft und Versorgung nicht (rechtzeitig) zur Verfügung gestellt würden und er deshalb keine Lebensgrundlage vorfände (vgl. dazu allgemein etwa das hg. Erkenntnis vom 6. November 2009, Zl. 2008/19/0174, und im Besonderen zur Lage in Griechenland das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 7. Oktober 2010, U 694/10).

Es ist daher erforderlich, dass die Asylbehörden, wenn insofern vom Asylwerber konkrete Anhaltspunkte dargetan werden oder solche von Amts wegen bekannt sind, fallbezogen eine Gefahrenprognose erstellen, die sich auf die persönliche Situation des betroffenen Asylwerbers zu beziehen hat und in ganzheitlicher Bewertung beurteilt, ob ein - über eine bloße Möglichkeit hinausgehendes - "real risk" besteht, der Asylwerber könnte im Zielstaat eine Behandlung erfahren, die zur Folge hätte, dass den österreichischen Behörden durch die Überstellung in diesen Staat eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorzuwerfen wäre (vgl. das oben zitierte hg. Erkenntnis vom 8. Juni 2006).

4. Diesen Anforderungen wird der angefochtene Bescheid nicht gerecht. Der Beschwerdeführer hat in seiner Berufung, gestützt auf die Ausführungen in einem ein anderes Verfahren betreffenden Bescheid der belangten Behörde, Mängel im griechischen Asylverfahren dargelegt, die sich auch in seinem Fall konkret auswirken würden. Insbesondere wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass griechische Behörden regelmäßig den Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht gewährten. Gerade Personen, die Gefahr liefen, Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder allgemeiner Gewalt in einer Konfliktsituation ausgesetzt zu sein, werde der humanitäre Status regelmäßig nicht gewährt.

§ 5 Abs. 3 AsylG 2005 enthält zwar eine Beweisregel, die es - im Hinblick auf die vom Rat der Europäischen Union vorgenommene normative Vergewisserung - grundsätzlich nicht notwendig macht, die Sicherheit des Asylwerbers vor "Verfolgung" in dem nach der Dublin-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat (insbesondere gemeint im Sinne der Achtung der Grundsätze des Non-Refoulements durch diesen Staat) von Amts wegen in Zweifel zu ziehen. Die damit aufgestellte Sicherheitsvermutung ist jedoch widerlegt, wenn besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder bei der Behörde offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung in diesem Mitgliedstaat sprechen (vgl. dazu grundlegend bereits das hg. Erkenntnis vom 23. Jänner 2007, Zl. 2006/01/0949, und zu Griechenland im Besonderen das hg. Erkenntnis vom 19. November 2010, Zl. 2008/19/0593, mwN).

Angesichts der Bedenken, die seit vielen Jahren wiederholt und von namhaften internationalen Stellen (wie etwa dem UNHCR) an der griechischen Asylpraxis geäußert werden, und in Kenntnis um die allgemeine Situation von Asylsuchenden in Griechenland, durfte die belangte Behörde jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden nicht von der zuvor beschriebenen Sicherheitsvermutung ausgehen. Vielmehr wären ergänzende Erhebungen und weitere Feststellungen erforderlich gewesen, insbesondere um sicher sein zu können, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rücküberstellung nach Griechenland nicht durch eine Kettenabschiebung - oder durch eine mangelnde Versorgung - in seinen nach Art. 3 EMRK garantierten Rechten verletzt würde.

Damit lässt sich aber noch nicht abschließend beurteilen, ob die Asylbehörden vor allem unter dem Blickwinkel des Art. 3 EMRK im gegenständlichen Fall vom Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch hätten machen müssen.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Die Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 27. April 2011

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte