VwGH 2010/21/0522

VwGH2010/21/052222.3.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde des N, vertreten durch Kocher & Bucher Rechtsanwälte GmbH, in 8010 Graz, Friedrichgasse 31, gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft St. Johann im Pongau vom 8. November 2010, Zl. 30206-353/806/1/2-2002, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §50 impl;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3 idF 2009/I/029;
NAG 2005 §44 Abs4 idF 2009/I/029;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
FrPolG 2005 §50 impl;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3 idF 2009/I/029;
NAG 2005 §44 Abs4 idF 2009/I/029;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 8. November 2010 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" gemäß § 44 Abs. 4 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG ab.

Begründend führte sie aus, der Beschwerdeführer sei am 18. Dezember 2001 illegal nach Österreich eingereist und habe am selben Tag einen Asylantrag gestellt. Seither sei er durchgängig im Bundesgebiet aufhältig gewesen. Mit 13. Dezember 2002 sei sein Asylantrag in erster Instanz abgewiesen worden. Die gegen diese Entscheidung eingebrachte Berufung sei in der Folge abgewiesen und das Asylverfahren "gemäß §§ 7, 8 AsylG per 28.12.2009 rechtskräftig negativ abgeschlossen" worden. Von der Möglichkeit, das Bundesgebiet freiwillig zu verlassen, habe der Beschwerdeführer nicht Gebrauch gemacht, vielmehr habe er den gegenständlichen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "beschränkt" gemäß § 44 Abs. 4 NAG gestellt.

Nach der Darstellung der Rechtslage führte die belangte Behörde weiter aus, dass der Beschwerdeführer ohne Zweifel seit 1. Mai 2004 im Bundesgebiet aufhältig sei und dieser "Aufenthaltszeitraum" jedenfalls zur Hälfte rechtmäßig gewesen sei; es bestehe weder ein Aufenthaltsverbot noch ein Rückkehrverbot noch sei eine Aufenthaltsehe oder eine Aufenthaltsadoption "eingegangen" worden, und der Beschwerdeführer sei strafrechtlich unbescholten.

Die Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung nach § 44 Abs. 4 NAG habe unter Berücksichtigung des Grades der Integration des Beschwerdeführers zu erfolgen. Das erste maßgebliche Kriterium sei die Kenntnis der deutschen Sprache. Bei den fremdenpolizeilichen Einvernahmen sei festgestellt worden, dass sich der Beschwerdeführer derartige grundlegende Kenntnisse der deutschen Sprache angeeignet habe, um einfach gehaltenen Gesprächen folgen und sich in einfacher Form ausdrücken zu können. Er besitze offensichtlich derartige Kenntnisse der deutschen Sprache, wie sie sich jeder durchschnittlich intelligente Mensch während eines Zeitraumes von ca. neun Jahren aneignen könne. Nachweise über den Besuch von Sprachkursen bzw. ein "Sprachkenntnisnachweis" seien nicht vorgelegt worden.

Für den Spracherwerb und somit auch für den Grad der Integration seien neben Motivation auch die regelmäßigen Kontakte zu Einheimischen von Vorteil, was sich wiederum in der Teilnahme am öffentlichen Leben - Engagement in Sportvereinen, Kulturvereinen usw. - widerspiegle. Der Beschwerdeführer habe im Ermittlungsverfahren keinerlei Nachweise oder Unterlagen vorgelegt, aus denen eine Teilnahme am öffentlichen Leben bzw. über das Umfeld am Arbeitsplatz hinausgehende soziale Kontakte zu erkennen gewesen wären. Vielmehr werde in der Stellungnahme vom 9. Februar 2010 neben Kontakten am "unmittelbaren" Arbeitsplatz und Kontakten zur angeblich in Salzburg lebenden Familie seines verstorbenen Bruders lediglich ein in Deutschland lebender Freund, der immer wieder auf Besuch komme, genannt.

Auch die im Asylverfahren behauptete Mitgliedschaft bei einem kurdischen Kultur- und Sportverein in Österreich und die zeitweise Teilnahme an Demonstrationen und Kulturveranstaltungen vermöchten eine Integration in die österreichische Gesellschaft jedenfalls nicht nachzuweisen. Eine wirkliche Identifikation, welche die mentale und emotionale Verbundenheit des Beschwerdeführers mit der österreichischen Gesellschaft meine, könne daraus nicht abgeleitet werden.

Die in der Stellungnahme vom 9. Februar 2010 aufgestellten Behauptungen, der Beschwerdeführer habe seit seiner Einreise nach Österreich nur "wenig intensive" Beziehungen mit seinem Herkunftsstaat und seiner dort lebenden Kernfamilie (Ehefrau und dreizehnjährige Tochter), er telefoniere lediglich regelmäßig mit seinen Eltern und sei seit drei Jahren von seiner Ehefrau geschieden, wobei er auch mit seiner Tochter nur eingeschränkten Kontakt pflege, erschienen - was die belangte Behörde in der Folge näher begründete - nicht lebensnah und wenig glaubwürdig.

Die Teilnahme am Arbeitsmarkt und dadurch die Selbsterhaltungsfähigkeit gelte bereits als eine "Minimaldefinition" der Integration. Der Beschwerdeführer habe laut dem Versicherungsdatenauszug der österreichischen Sozialversicherung seit dem 11. Oktober 2001 mit zwei Unterbrechungen von jeweils wenigen Wochen als Arbeiter in einem näher bezeichneten Hotelleriebetrieb gearbeitet. Eine Bestätigung über die aufrechte Beschäftigung sei ebenso vorgelegt worden wie eine Arbeits- und Lohnbestätigung, wonach der monatliche Verdienst EUR 1.184,82 ausmache. Eine Dienstunterkunft im Personalhaus werde dem Beschwerdeführer ebenfalls zur Verfügung gestellt. Daraus lasse sich ableiten, dass der Beschwerdeführer während seines fast neunjährigen Aufenthalts in Österreich überwiegend einer erlaubten Erwerbstätigkeit als Abwäscher nachgegangen sei, wobei es sich bei der Art der Beschäftigung um eine wenig qualifizierte handle.

Bei der Beantragung des Aufenthaltstitels gemäß § 44 Abs. 4 NAG sei von der Möglichkeit einer Patenschaftserklärung Gebrauch gemacht worden. Der Arbeitgeber des Beschwerdeführers habe notariell beglaubigt erklärt, dass er für die Erfordernisse einer alle Risiken abdeckenden Krankenversicherung, eine Unterkunft und entsprechende Unterhaltsmittel aufkomme und für den Ersatz der "Kosten gesetzesgemäß" hafte. Nachweise über eine Tragfähigkeit der Patenschaftserklärung seien nicht vorgelegt worden, auf Grund des amtsbekannten Jahresgewinns des Arbeitgebers werde daran aber nicht gezweifelt. Die Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 Z 2 bis 4 NAG seien durch die Abgabe der Patenschaftserklärung erfüllt worden.

Eine stabile und existenzsichernde Beschäftigung setze zum einen gute berufliche Qualifikationen und zum anderen ausreichende Sprachkenntnisse voraus. Der Beschwerdeführer habe in seiner Heimat lediglich fünf Jahre die Grundschule besucht und in weiterer Folge in der Landwirtschaft seiner Eltern gearbeitet. Weiterreichende Qualifikationen hätten nicht ermittelt werden können. Fehlende oder ungenügende Ausbildung sei jedoch einer der Hauptrisikofaktoren für Arbeitslosigkeit, was die Behörde veranlasse, den Grad der Integration am Arbeitsmarkt als minimal einzustufen.

Im Rahmen des Asylverfahrens sei festgestellt worden, dass der Beschwerdeführer in seiner Heimat keinerlei Bedrohung oder unmenschliche Behandlung zu befürchten habe. Im Rahmen der Gesamtaufenthaltsdauer habe der Beschwerdeführer zwar über einen längeren Zeitraum gearbeitet, es habe sich dabei jedoch um eine wenig qualifizierte Hilfstätigkeit im Gastgewerbe gehandelt. Weiters sei er alleinstehend, ohne maßgebliche familiäre Bindungen in Österreich. Zum Zeitpunkt der illegalen Einreise sei er bereits ca. dreißig Jahre alt gewesen, es sei daher davon auszugehen, dass er auch im Heimatland gesellschaftlich integriert gewesen sei.

Hinsichtlich der zu prüfenden Kriterien gemäß § 44 Abs. 4 NAG sei jeweils ein minderer Grad der Integration - den jeder in dieser Lage erfüllen würde - erkannt worden. Es lägen auch keine Fakten vor, um den Sachverhalt als einen besonders berücksichtigungswürdigen Fall beurteilen zu können, da nicht davon auszugehen sei, dass jeder "Altfall" gemäß § 44 Abs. 4 NAG als ein solcher anzusehen sei. Es sei daher spruchgemäß zu entscheiden gewesen.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

§ 44 Abs. 4 NAG (in der hier anzuwendenden Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009) ermöglicht die Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" für besonders berücksichtigungswürdige "Altfälle", wofür solche Fremde in Betracht kommen, die sich zumindest seit 1. Mai 2004 durchgängig in Österreich aufhalten. Wann ein "besonders berücksichtigungswürdiger Fall" vorliegt, sagt das Gesetz nicht ausdrücklich. Es sieht aber vor, dass die Behörde "dabei" den Grad der Integration des Fremden, insbesondere die Selbsterhaltungsfähigkeit, die schulische und berufliche Ausbildung, die Beschäftigung und die Kenntnisse der deutschen Sprache zu berücksichtigen hat.

Die Gesetzesmaterialien (ErläutRV 88 BlgNR 24. GP 10 f) deuten darauf hin, dass andere Kriterien, die im Rahmen einer Prüfung nach Art. 8 EMRK zu berücksichtigen wären, keine Bedeutung haben sollen. Gleichwohl können die in § 11 Abs. 3 NAG genannten, bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK zu beachtenden Gesichtspunkte auch in die Beantwortung der Frage einfließen, ob ein "besonders berücksichtigungswürdiger Fall" vorliegt, und zwar in dem Maße, als sie auf den Integrationsgrad des betreffenden Fremden Auswirkungen haben. Daran kann auch deshalb kein Zweifel bestehen, weil § 44 Abs. 4 NAG im Rahmen der erwähnten "Altfälle" erkennbar vor allem jene Konstellationen erfassen soll, in denen die Schwelle des Art. 8 EMRK, sodass gemäß den Kriterien des § 11 Abs. 3 NAG ein Aufenthaltstitel zu erteilen wäre, noch nicht erreicht wird (vgl. das hg. Erkenntnis vom 29. April 2010, Zl. 2009/21/0255, mwN).

Vor diesem Hintergrund vermag der Verwaltungsgerichtshof die von der belangten Behörde vertretene Ansicht, die Voraussetzungen für die Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" nach § 44 Abs. 4 NAG seien im vorliegenden Fall zu verneinen, nicht zu teilen:

Der Beschwerdeführer erfüllt nämlich - mit Ausnahme einer schulischen und beruflichen Aus- und Weiterbildung - alle Kriterien, die nach der genannten Gesetzesstelle im Rahmen der der Behörde aufgetragenen Abwägung zu berücksichtigen sind. Aber auch das Fehlen besonderer Qualifikationen ist der (abgesehen von zwei Unterbrechungen von jeweils wenigen Wochen) kontinuierlichen unselbständigen Beschäftigung seit dem 11. Oktober 2002 nicht entgegengestanden.

Allfällige Bindungen zum Heimatstaat können im vorliegenden Zusammenhang, weil sie im Sinn des Vorgesagten nicht den Integrationsgrad des Beschwerdeführers betreffen, im Hinblick auf den klaren Gesetzeszweck der Bereinigung von "Altfällen" unter isolierter Bewertung allein des dargestellten faktischen (zum Teil rechtmäßigen) Aufenthaltes sowie des Integrationsgrades im Bundesgebiet keine Rolle spielen (vgl. auch dazu das bereits zitierte hg. Erkenntnis vom 29. April 2010). Ebenso wenig kommt es im Verfahren nach § 44 Abs. 4 NAG darauf an, dass der Fremde im Herkunftsstaat keiner Gefährdung (im Sinn des § 50 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG) ausgesetzt wäre.

Unter Berücksichtigung des neunjährigen Aufenthalts, der Wohnmöglichkeit, der beruflichen Integration infolge langjähriger Ausübung einer unselbständigen Berufstätigkeit (bei einem Arbeitgeber, der im Verfahren eine Patenschaftserklärung zugunsten des Beschwerdeführers abgegeben hat), der daraus resultierenden Selbsterhaltungsfähigkeit, der Beziehung zu in Österreich lebenden Verwandten, aber auch zu Arbeitskollegen in dem Betrieb, in dem er seit acht Jahren beschäftigt ist, und der Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers ist somit von einem solchen Integrationsgrad auszugehen, dass von einem "besonders berücksichtigungswürdigen Fall" gesprochen werden kann.

Da die belangte Behörde diesbezüglich die Rechtslage verkannt hat, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 22. März 2011

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