VwGH 2009/21/0255

VwGH2009/21/025529.4.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher, Dr. Pfiel und Mag. Eder als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Henk, über die Beschwerde des K, vertreten durch Dr. Manfred Fuchsbichler, Rechtsanwalt in 4600 Wels, Traungasse 14, gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Gmunden vom 16. Juli 2009, Zl. Sich40-38112, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §59 Abs1 impl;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3 idF 2009/I/029;
NAG 2005 §19 Abs8;
NAG 2005 §19 Abs9;
NAG 2005 §44 Abs4 idF 2009/I/029;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
AVG §59 Abs1 impl;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3 idF 2009/I/029;
NAG 2005 §19 Abs8;
NAG 2005 §19 Abs9;
NAG 2005 §44 Abs4 idF 2009/I/029;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Zum Verfahren betreffend die Ausweisung des 1975 geborenen Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, wird auf das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2009/21/0300, verwiesen.

Mit dem vorliegend angefochtenen Bescheid vom 16. Juli 2009 wies die belangte Behörde die Anträge des Beschwerdeführers vom 6. Mai 2009 auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" gemäß § 44 Abs. 4 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) sowie vom 3. Juni 2009 auf Heilung von Verfahrensmängeln gemäß § 19 Abs. 8 NAG ab.

Begründend führte sie aus, der Beschwerdeführer sei am 28. Jänner 2002 illegal nach Österreich eingereist und habe am 31. Jänner 2002 einen Asylantrag gestellt. Das Verfahren sei mit erstinstanzlichem Bescheid vom 30. April 2003 samt feststellendem Ausspruch nach § 8 Asylgesetz 1997 "negativ entschieden" worden. Seit 19. Dezember 2008 liege eine zweitinstanzliche und damit rechtskräftige negative Entscheidung vor. Mit Beschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 24. Februar 2009 sei die Behandlung einer dagegen erhobenen Beschwerde abgelehnt worden. Der Beschwerdeführer halte sich seit dem 4. März 2009 illegal in Österreich auf. Ihm sei nämlich weder ein Einreisetitel nach dem FPG noch ein Aufenthaltstitel nach dem NAG erteilt worden.

Der Beschwerdeführer befinde sich, so argumentierte die belangte Behörde weiter, seit dem 28. Jänner 2002 durchgehend im Bundesgebiet, und zwar infolge des erwähnten Asylantrages großteils rechtmäßig. Er lebe im gemeinsamen Haushalt - in ortsüblicher Unterkunft - mit seinem Bruder, weise gute Deutschkenntnisse auf, sei unbescholten und gehe seit dem 25. Juli 2003 einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach, sodass er auch Krankenversicherungsschutz genieße. Ihm sei daher eine recht hohe Integration zuzugestehen.

Allerdings sei er unverheiratet und kinderlos. In der Türkei habe er die Grundschule besucht und in der Landwirtschaft gearbeitet. Auch in Österreich habe er keine schulische oder beruflich Weiterbildung absolviert und sei "großteils in verschiedenen beschäftigungsrechtlichen Dienstverhältnissen" tätig gewesen. In der Türkei lebten noch die Eltern und acht Geschwister. Sollten sich die Bindungen ihnen gegenüber während des Aufenthalts in Österreich gelockert oder verschlechtert haben, bestünde die Chance, diese wieder zu intensivieren. Zudem werde das Gewicht der Integration dadurch gemindert, dass sich der Beschwerdeführer seit der erstinstanzlichen Abweisung seines Asylantrages am 30. April 2003 seines unsicheren Aufenthaltsstatus stets bewusst gewesen sei.

Insgesamt sei somit das Vorliegen eines besonders berücksichtigungswürdigen Falles nach § 44 Abs. 4 NAG zu verneinen. Da die Einreise aus der Türkei nach Österreich erst im Alter von 27 Jahren erfolgt sei, sei dem Beschwerdeführer sein Heimatland nicht unbekannt, sodass ihm zuzumuten sei, sich mit den Gegebenheiten in diesem Staat erneut "auseinanderzusetzen".

Der Antrag auf Heilung von Verfahrensmängeln sei abzuweisen gewesen, weil der Beschwerdeführer bereits früher ausreichend Zeit gehabt hätte, sich um die antragsgegenständliche Beschaffung der notwendigen Dokumente für die Erlangung eines türkischen Reisepasses zu kümmern.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

§ 11 Abs. 1 bis 3 und § 44 Abs. 4 NAG in der hier anzuwendenden Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 29/2009 lauten wie folgt:

"Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel

§ 11. (1) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nicht erteilt werden, wenn

1. gegen ihn ein aufrechtes Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot gemäß §§ 60 oder 62 FPG besteht;

2. gegen ihn ein Aufenthaltsverbot eines anderen EWR-Staates besteht;

3. gegen ihn in den letzten zwölf Monaten eine Ausweisung gemäß § 54 FPG oder § 10 AsylG 2005 rechtskräftig erlassen wurde, sofern er nicht einen Antrag gemäß § 21 Abs. 1 eingebracht hat, nachdem er seiner Ausreiseverpflichtung freiwillig nachgekommen ist;

4. eine Aufenthaltsehe oder Aufenthaltsadoption (§ 30 Abs. 1 oder 2) vorliegt;

5. eine Überschreitung der Dauer des erlaubten sichtvermerksfreien Aufenthalts im Zusammenhang mit § 21 Abs. 6 vorliegt oder

6. er in den letzten zwölf Monaten wegen Umgehung der Grenzkontrolle oder nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet rechtskräftig bestraft wurde.

(2) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nur erteilt werden, wenn

1. der Aufenthalt des Fremden nicht öffentlichen Interessen widerstreitet;

2. der Fremde einen Rechtsanspruch auf eine Unterkunft nachweist, die für eine vergleichbar große Familie als ortsüblich angesehen wird;

3. der Fremde über einen alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt und diese Versicherung in Österreich auch leistungspflichtig ist;

4. der Aufenthalt des Fremden zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte;

5. durch die Erteilung eines Aufenthaltstitels die Beziehungen der Republik Österreich zu einem anderen Staat oder einem anderen Völkerrechtssubjekt nicht wesentlich beeinträchtigt werden, und

6. der Fremde im Fall eines Verlängerungsantrages (§ 24) die Integrationsvereinbarung nach § 14 oder ein einzelnes Modul bereits erfüllt hat, soweit er bereits ein Jahr niedergelassen war und ihm kein Aufschub gemäß § 14 Abs. 8 gewährt wurde.

(3) Ein Aufenthaltstitel kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß Abs. 1 Z 3, 5 oder 6 sowie trotz Ermangelung einer Voraussetzung gemäß Abs. 2 Z 1 bis 6 erteilt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, geboten ist. Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen rechtswidrig war;

  1. 2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;
  2. 3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;
  3. 4. der Grad der Integration;
  4. 5. die Bindungen zum Heimatstaat des Drittstaatsangehörigen;
  5. 6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;
  6. 7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

    8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Drittstaatsangehörigen in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren. ...

    Niederlassungsbewilligung - beschränkt

§ 44. ...

(4) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen kann trotz Vorliegens eines Erteilungshindernisses gemäß § 11 Abs. 1 Z 3, 5 oder 6 in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen auf begründeten Antrag, der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, eine quotenfreie 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' erteilt werden, wenn

1. der Drittstaatsangehörige nachweislich seit dem 1. Mai 2004 durchgängig im Bundesgebiet aufhältig ist und

2. mindestens die Hälfte des Zeitraumes des festgestellten durchgängigen Aufenthalts im Bundesgebiet rechtmäßig gewesen ist. Die Behörde hat dabei den Grad der Integration des Drittstaatsangehörigen, insbesondere die Selbsterhaltungsfähigkeit, die schulische und berufliche Ausbildung, die Beschäftigung und die Kenntnisse der Deutschen Sprache, zu berücksichtigen. Der Nachweis einer oder mehrerer Voraussetzungen des § 11 Abs. 2 Z 2 bis 4 kann auch durch Vorlage einer Patenschaftserklärung (§ 2 Abs. 1 Z 18) erbracht werden. Ein einem bereits rechtskräftig erledigten Antrag nachfolgender weiterer Antrag (Folgeantrag) ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn aus dem begründeten Antragsvorbringen ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt. Die §§ 44b Abs. 2 sowie 74 gelten."

In den ErläutRV zu § 44 Abs. 4 NAG (88 BlgNR 24. GP 10 f) heißt es auszugsweise:

"Die Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung nach Abs. 4 hat unter Berücksichtigung des Grades der Integration des Fremden zu erfolgen. Diese Beurteilung hat sich insbesondere an den in Abs. 4 genannten Kriterien zu orientieren, welche wiederum im Wesentlichen den auch zu Z 4 des § 11 Abs. 3 von der Judikatur entwickelten Kriterien entsprechen. Dabei ist aber jedenfalls zu beachten, dass die Beurteilung des Integrationsgrades gemäß Abs. 4 nicht in einer gesamtheitlichen Prüfung der Kriterien zu Art. 8 EMRK besteht, sondern lediglich in einer 'isolierten' Bewertung des zitierten Integrationsgrades. Es soll eben gerade auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Abs. 4 an 'Altfälle' ermöglicht werden, denen gemäß den Kriterien des § 11 Abs. 3 ein Aufenthaltstitel nicht zu erteilen wäre. Die Qualifikation eines Falles als 'besonders berücksichtigungswürdig' wird sich im Allgemeinen auch entlang der Beurteilung des Integrationsgrades und an der bisherigen Praxis zum ehemaligen § 72 in vergleichbaren Fällen zu orientieren haben."

§ 44 Abs. 4 NAG ermöglicht die Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" somit für besonders berücksichtigungswürdige "Altfälle", wofür solche Fremde in Betracht kommen, die sich zumindest seit 1. Mai 2004 durchgängig in Österreich aufhalten. Wann ein "besonders berücksichtigungswürdiger Fall" vorliegt, sagt das Gesetz nicht ausdrücklich. Es sieht aber vor, dass die Behörde "dabei" den Grad der Integration des Fremden, insbesondere die Selbsterhaltungsfähigkeit, die schulische und berufliche Ausbildung, die Beschäftigung und die Kenntnisse der deutschen Sprache zu berücksichtigen hat.

Die zitierten Gesetzesmaterialien deuten darauf hin, dass andere Kriterien, die im Rahmen einer Prüfung nach Art. 8 EMRK zu berücksichtigen wären, keine Bedeutung haben sollen. Gleichwohl können die in § 11 Abs. 3 NAG genannten, bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK zu beachtenden Gesichtspunkte auch in die Beantwortung der Frage einfließen, ob ein "besonders berücksichtigungswürdiger Fall" vorliegt, und zwar in dem Maße, als sie auf den Integrationsgrad des betreffenden Fremden Auswirkungen haben. Daran kann auch deshalb kein Zweifel bestehen, weil § 44 Abs. 4 NAG im Rahmen der erwähnten "Altfälle" erkennbar vor allem jene Konstellationen erfassen soll, in denen die Schwelle des Art. 8 EMRK, sodass gemäß den Kriterien des § 11 Abs. 3 NAG ein Aufenthaltstitel zu erteilen wäre, noch nicht erreicht wird (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 27. Jänner 2010, Zl. 2009/21/0270).

Vor diesem Hintergrund vermag der Verwaltungsgerichtshof die von der belangten Behörde vertretene Ansicht, die Voraussetzungen für die Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" nach § 44 Abs. 4 NAG seien im vorliegenden Fall zu verneinen, nicht zu teilen:

Der Beschwerdeführer erfüllt nämlich - mit Ausnahme einer schulischen und beruflichen Aus- und Weiterbildung - alle Kriterien, die nach der genannten Gesetzesstelle im Rahmen der der Behörde aufgetragenen Abwägung zu berücksichtigen sind. Aber auch das Fehlen eines Erwerbs besonderer Qualifikationen ist der - im Übrigen (etwa nach der Art der notwendigen Kenntnisse) nicht präzise festgestellten - kontinuierlichen unselbständigen Beschäftigung seit dem 25. Juli 2003 nicht entgegengestanden.

Allfällige Bindungen zum Heimatstaat oder der weiters ins Treffen geführte Umstand des bislang gegebenen "unsicheren Aufenthaltsstatus" des Beschwerdeführers in Österreich können im vorliegenden Zusammenhang, weil sie - insoweit sind die im genannten Erkenntnis Zl. 2009/21/0270 noch offen gelassenen Überlegungen weiterzuführen - im Sinne des Vorgesagten nicht den Integrationsgrad des Beschwerdeführers betreffen, im Hinblick auf den klaren Gesetzeszweck der Bereinigung von "Altfällen" unter isolierter Bewertung allein des dargestellten faktischen (zum Teil rechtmäßigen) Aufenthaltes sowie des Integrationsgrades im Bundesgebiet keine Rolle spielen. Unter Berücksichtigung der Wohnmöglichkeit, des Zusammenlebens mit dem Bruder, eines Freundeskreises, der unstrittigen Selbsterhaltungsfähigkeit infolge langjähriger Ausübung einer unselbständigen Berufstätigkeit und der guten Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers ist somit von einem solchen Integrationsgrad auszugehen, dass von einem "besonders berücksichtigungswürdigen Fall" gesprochen werden kann.

Da die belangte Behörde durch ihre vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilte Auslegung des § 44 Abs. 4 NAG die Rechtslage verkannt hat, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG - zur Gänze - wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben. Mit der Aufhebung des einen Antrag nach § 44 Abs. 4 NAG abweisenden Bescheides kann nämlich im Grunde des § 19 Abs. 9 NAG die zurück- oder abweisende Entscheidung der Behörde über einen Antrag nach § 19 Abs. 8 NAG keinen selbständigen Bestand haben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil die gesondert verzeichnete Umsatzsteuer von der genannten Pauschalierung bereits umfasst ist.

Wien, am 29. April 2010

Stichworte