VwGH 2008/01/0618

VwGH2008/01/061828.6.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Blaschek und Dr. Hofbauer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Jäger, über die Beschwerde der M O in L, geboren 1969, vertreten durch Dr. Thomas Schweiger, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Huemerstraße 1/Kaplanhofstraße 2, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 13. Juni 2008, Zl. 313.921-2/2E-XV/54/08, betreffend §§ 3, 8, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
AVG §58 Abs2;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AVG §58 Abs2;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Ghana, beantragte am 13. September 2006 die Gewährung von internationalem Schutz.

Diesen Antrag wies das Bundesasylamt mit Bescheid vom 25. Juli 2007 ab und erkannte der Beschwerdeführerin den Status der Asylberechtigten nicht zu, erkannte ihr den Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ghana ebenfalls nicht zu und wies sie aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Ghana aus.

Mit Bescheid vom 19. Dezember 2007 behob die belangte Behörde diesen Bescheid des Bundesasylamtes gemäß § 66 Abs. 2 AVG und verwies die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesasylamt zurück. Das Bundesasylamt habe es unterlassen, trotz der nur mangelhaften Beherrschung der englischen Sprache durch die Beschwerdeführerin eine Einvernahme in deren Muttersprache (Twi) durchzuführen.

Bei ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 21. Februar 2008 gab die Beschwerdeführerin - unter Beiziehung eines Dolmetschers für die Sprache Twi - zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, sie hätte aufgrund ihrer familiären Herkunft gezwungen werden sollen, die Nachfolgerin der verstorbenen "Königin" von Nkorkor - der Tochter der Schwester ihrer Mutter - zu werden. Sie habe jedoch nicht "auf den Thron" gewollt, da sie in diesem Fall "beschnitten" und ihr Blut einem Geist geopfert hätte werden sollen. Es sei nur dann üblich, noch im Alter von 37 Jahren "beschnitten" zu werden, wenn man "auf den Thron gehen" müsse. Nachdem die Beschwerdeführerin sich geweigert habe, die Nachfolge anzutreten, sei sie von den Brüdern ihrer Mutter bedroht worden. Zur Polizei habe sie nicht gehen können, weil diese bei einem "Familienproblem" wie dem der Beschwerdeführerin nichts unternommen hätte. Von Juli 2006 bis zu ihrer Ausreise aus Ghana im September 2006 habe sie sich bei einer alten Frau im Dorf Nanapa aufgehalten, ihre Familie habe jedoch von ihrem Aufenthaltsort erfahren. Auch in anderen Teilen Ghanas hätte sie gefunden werden können. Ihr Bruder habe ihr schließlich zur Flucht verholfen. Im Falle ihrer Rückkehr würde sie auf Grund ihrer Weigerung, den Thron zu besteigen, von den Brüdern ihrer Mutter getötet werden.

Mit Bescheid vom 29. April 2008 wies das Bundesasylamt den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz (abermals) gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab und erkannte ihr den Status der Asylberechtigten nicht zu, erkannte ihr gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ghana ebenfalls nicht zu und wies sie gemäß § 10 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Ghana aus.

Das Bundesasylamt wertete das Vorbringen der Beschwerdeführerin als unglaubwürdig und führte dazu beweiswürdigend im Wesentlichen aus, diese habe ihre Behauptung, sie hätte von ihrer Familie im Alter von 37 Jahren "beschnitten" werden sollen, nur allgemein in den Raum gestellt, ohne sie belegen oder durch konkrete Anhaltspunkte glaubhaft machen zu können. Der allgemeinen Lebenserfahrung entspreche es, dass Menschen über persönliche Erlebnisse detailreich, oft weitschweifend und unter Angabe der eigenen Gefühle bzw. unter spontaner Rückerinnerung an auch unwesentliche Details und Nebenumstände berichteten. Demgegenüber habe die Beschwerdeführerin in leeren Floskeln und der Präsentation einiger äußerst rudimentärer Eckpunkte ihrer Fluchtgeschichte "verharrt". Es habe somit während des gesamten Verlaufes der Einvernahme vor dem Bundesasylamt den Anschein gehabt, dass sie lediglich Vorgegebenes bzw. Eingelerntes wiedergebe. Weiters hätten sich Widersprüche zwischen den Angaben der Beschwerdeführerin bei ihrer Einvernahme vom 21. Februar 2008 sowie jenen bei ihrer (im ersten Rechtsgang und in englischer Sprache erfolgten) Einvernahme vom 27. März 2007 ergeben: So habe die Beschwerdeführerin nunmehr angegeben, sich vor ihrer Ausreise von Juli bis September 2006 bei einer Frau im Dorf "Nanapa" aufgehalten zu haben, während sie zuvor davon gesprochen habe, von Februar 2006 bis zu ihrer Ausreise (im September 2006) im Dorf "Enesi" gewesen zu sein. Anzumerken sei schließlich, dass die Beschwerdeführerin bei ihren früheren Einvernahmen angegeben habe, einen Sohn und eine Tochter, zuletzt aber, zwei Söhne zu haben. Auch aufgrund dieser Widersprüche könne dem gesamten Vorbringen keine Glaubwürdigkeit zukommen.

In ihrer dagegen erhobenen Berufung wandte sich die Beschwerdeführerin - unter Hinweis auf konkrete Passagen der Niederschrift über ihre Einvernahme vom 21. Februar 2008 - gegen die Ansicht des Bundesasylamtes, sie habe sich auf abstrakte und allgemein gehaltene Darstellungen beschränkt. Aufgetretene Widersprüche ließen sich dadurch erklären, dass die Einvernahme nunmehr nicht - wie im ersten Rechtsgang vor dem Bundesasylamt - in Englisch, sondern in ihrer Muttersprache durchgeführt worden sei; diese Widersprüche würden die Notwendigkeit der Beiziehung eines Twi-Dolmetschers (nachträglich) bestätigen. So handle es sich beispielsweise bei "Enesi" um eine Stadt, die auf dem Weg zum Dorf "Nanapa" liege. Schließlich habe es das Bundesasylamt verabsäumt, die Angaben der Beschwerdeführerin unter Bezugnahme auf die - auch aus den Länderfeststellungen hervorgehenden - realen Gegebenheiten in Ghana hinsichtlich der Praxis der Genitalverstümmelung zu prüfen. Im Hinblick darauf könne auch nicht von mangelnder Nachvollziehbarkeit des Vorbringens gesprochen werden.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung der Beschwerdeführerin ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ab, erkannte ihr gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 den Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Ghana nicht zu und wies sie gemäß § 10 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Ghana aus.

Sie verwies auf die Feststellungen des Bundesasylamtes zur Lage in Ghana, erklärte diese zum Inhalt auch des Berufungsbescheides und schloss sich der Ansicht des Bundesasylamtes an, wonach "auf Grund des uneinheitlichen Vorbringens" der Beschwerdeführerin nicht vom Wahrheitsgehalt ihrer Angaben auszugehen gewesen sei. Darüber hinaus stellte die belangte Behörde eigene - im Wesentlichen auf Plausibilitätsüberlegungen und auf Widersprüchen zwischen den Angaben der Beschwerdeführerin bei ihren Einvernahmen am 19. September 2006 und 27. März 2007 sowie am 21. Februar 2008 abstellende - beweiswürdigende Überlegungen zur Unglaubwürdigkeit des Vorbringens an. Selbst bei Zugrundelegung des Vorbringens sei im Hinblick auf die dem Bescheid zugrunde gelegten einschlägigen Länderberichte nicht ersichtlich, dass die "nigerianische" (gemeint offenbar: ghanaische) Polizei nicht in der Lage oder Unwillens gewesen sei, der Beschwerdeführerin vor einer drohenden körperlichen Beeinträchtigung Schutz zu gewähren. Die Beschwerdeführerin habe nicht einmal versucht, sich mit ihren Problemen an die Polizei zu wenden. Die Vornahme von Genitalverstümmelungen an Frauen werde in Ghana nachweislich strafrechtlich verfolgt. Selbst wenn die Zahl der Verurteilungen noch gering sei, könne nicht von einer gänzlichen Passivität der Behörden gesprochen werden. Zudem bestünden in Ghana zahlreiche Hilfsorganisationen, die sich um in Not geratene Frauen kümmern und ihnen helfen würden, ihre verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte durchzusetzen. Von der Durchführung einer Berufungsverhandlung habe gemäß Art. II Abs. 2 Z. 43a EGVG und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgesehen werden können.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Die Beschwerde wendet sich gegen das Unterbleiben der Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung durch die belangte Behörde und zeigt damit einen relevanten Verfahrensmangel auf.

Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass die Voraussetzung eines aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärten Sachverhalts gemäß dem (im gegenständlichen Verwaltungsverfahren noch anzuwendenden) Art. II Abs. 2 Z. 43a EGVG, der eine Berufungsverhandlung entbehrlich macht, dann nicht erfüllt ist, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird, die Beweiswürdigung der Berufungsbehörde ergänzungsbedürftig oder in entscheidenden Punkten nicht richtig erscheint, wenn rechtlich relevante und zulässige Neuerungen vorgetragen werden oder die Berufungsbehörde ihre Entscheidung auf zusätzliche Ermittlungsergebnisse stützen will (vgl. etwa das - bereits zum AsylG 2005 ergangene - hg. Erkenntnis vom 11. Juni 2008, Zlen. 2008/19/0216, 0217, mwH, sowie das hg. Erkenntnis vom 17. Mai 2011, Zl. 2008/01/0400).

Die belangte Behörde stellte - neben dem Verweis auf Teile der erstinstanzlichen Beweiswürdigung - ausführliche (mehr als drei Seiten des angefochtenen Bescheides umfassende) beweiswürdigende Erwägungen an, wobei sie deren Schwerpunkt auf vom Bundesasylamt nicht in seine Beweiswürdigung einbezogene Widersprüche in den Angaben der Beschwerdeführerin legte. Demgegenüber machte sie sich dessen (von der Berufung bekämpftes) zentrales Argument, die Beschwerdeführerin habe ihr Vorbringen nicht ausreichend zu konkretisieren vermocht, nicht zu Eigen. Hielt es die belangte Behörde aber für notwendig, die Beweiswürdigung der Erstbehörde um zusätzliche (über bloße Zusatzbemerkungen oder Eventualausführungen hinausgehende) eigene Argumente zu ergänzen, dann widersprach dies der Annahme eines hinreichend geklärten Sachverhaltes im Sinne des Art. II Abs. 2 lit. D Z. 43a EGVG, sodass auf die Durchführung einer Berufungsverhandlung nicht verzichtet werden konnte (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 13. Dezember 2010, Zl. 2008/23/0877, mwH).

Dieser Verfahrensfehler ist auch relevant, ist doch auch die Eventualbegründung der belangten Behörde, die ghanaischen Behörden seien gegenüber einer der Beschwerdeführerin drohenden "körperlichen Beeinträchtigung" schutzfähig und schutzwillig, nicht mängelfrei begründet.

Die Länderfeststellungen im Bescheid des Bundesasylamtes, auf die die belangte Behörde dazu verweist, enthalten zwar einen (auf dem Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Ghana vom 22. Jänner 2007 beruhenden) Abschnitt zur Praxis der Genitalverstümmelung. Ausführungen zum Bestehen effektiven staatlichen Schutzes für Frauen, die sich dem familiären Zwang zu deren Durchführung zu entziehen versuchen (die Beschwerdeführerin hatte ausdrücklich behauptet, die Polizei würde bei einem solchen "Familienproblem" nichts unternehmen), finden sich darin jedoch nicht. Allein aus dem Hinweis, wonach seit 1994 zwölf Strafverfahren durchgeführt und dabei fünf Beschuldigte zu je mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden seien, auf den sich die belangte Behörde zu beziehen scheint, kann auf das Bestehen effektiven staatlichen Schutzes nicht geschlossen werden. Auch der Verweis auf die in Ghana tätigen Nichtregierungsorganisationen vermag die Annahme des Bestehens ausreichenden Schutzes nicht zu begründen, wird doch zu diesen in den Länderfeststellungen nur ausgeführt, einige von ihnen würden sich speziell mit Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen aufgrund von traditionellen Riten "befassen" (vgl. zum Ganzen auch das hg. Erkenntnis vom 28. Oktober 2009, Zl. 2006/01/0793).

Da somit nicht ausgeschlossen werden kann, dass die belangte Behörde bei Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung zu einem anderen (für die Beschwerdeführerin günstigeren) Ergebnis gekommen wäre, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Von der beantragten Durchführung einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 3 und 6 VwGG Abstand genommen werden.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 28. Juni 2011

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