VwGH 2008/23/0334

VwGH2008/23/033415.9.2010

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall sowie die Hofräte Dr. Hofbauer, Mag. Dr. Wurdinger, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Mag. Feiel als Richter, im Beisein des Schriftführers MMag. Stelzl, über die Beschwerden von 1. ET, geboren 1993, 2. AT, geboren 1972, und 3. AT, geboren 1976, alle vertreten durch Dr. Peter Eigenthaler, Rechtsanwalt in 3180 Lilienfeld, Babenbergerstraße 30/2, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates jeweils vom 2. Februar 2007, Zlen. 301.996-C1/3E-VII/19/06 (ad 1.), 228.444/0/5E-VII/19/06 (ad 2.) und 228.445/0/6E-VII/19/06 (ad 3.), betreffend §§ 7, 8 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8 Abs1;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8 Abs1;

 

Spruch:

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40, insgesamt somit EUR 3.319,20, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Zweitbeschwerdeführerin ist die Ehefrau des Drittbeschwerdeführers; sie sind die Eltern der minderjährigen Erstbeschwerdeführerin. Alle sind georgische Staatsangehörige armenischer Volksgruppenzugehörigkeit.

Die beschwerdeführenden Parteien reisten am 27. Jänner 2001 in das Bundesgebiet ein und beantragten am selben Tag Asyl. Zu den Fluchtgründen gaben sie im Wesentlichen an, sie seien Mitglieder der Glaubensgemeinschaft "Word of Life". Diese Glaubensgemeinschaft sei "so gut wie" verboten. Der Drittbeschwerdeführer sei wegen seiner religiösen Überzeugung im August 1997 desertiert; seitdem werde von der Militärpolizei nach ihm gefahndet. Die beschwerdeführenden Parteien seien aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit Verfolgungen durch die Polizei ausgesetzt und gezwungen gewesen, öfters den Aufenthaltsort zu wechseln. Die Zweitbeschwerdeführerin sei am 22. Jänner 2001 anlässlich einer Demonstration gegen die Errichtung eines Klosters auf einem armenischen Friedhof von der Polizei festgenommen, verhört und am nächsten Tag freigelassen worden. Der Drittbeschwerdeführer habe gemeinsam mit der Erstbeschwerdeführerin entkommen können. Der Zweitbeschwerdeführerin sei dabei von der Polizei ihr Personalausweis abgenommen und über sie ein Ausreiseverbot verhängt worden. Am 29. Jänner 2001 hätte sie wegen dieses Vorfalls zu einer ergänzenden Vernehmung zur Polizei kommen müssen. Es gebe deswegen bereits einen Gerichtsakt. Am 24. Jänner 2001 hätten die beschwerdeführenden Parteien Georgien verlassen.

Das Bundesasylamt wies mit den Bescheiden vom 16. April 2002 die Asylanträge gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien nach Georgien gemäß § 8 AsylG für zulässig.

Es stellte zur Situation in Georgien fest, Berichte über systematische staatliche Verfolgung aufgrund der Religionszugehörigkeit würden nicht vorliegen und wegen Desertion sei nicht mit "politischer Verfolgung" zu rechnen, und ging in den Beweiswürdigungen vom Fluchtvorbringen aus. Rechtlich erkannte das Bundesasylamt keinen "asylbegründenden Sachverhalt", weil die Verfolgung des Drittbeschwerdeführers wegen Desertion nicht asylrelevant sei, die Festnahme der Zweitbeschwerdeführerin anlässlich der Demonstration "Ermittlungscharakter" habe und nicht auf eine persönliche Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention hindeute und durch die Aufnahme von Georgien in den Europarat das Erreichen eines allgemeinen adäquaten Menschenrechtsstandards bestätigt werde. Im Bescheid betreffend den Drittbeschwerdeführer wird zu dessen Zugehörigkeit zur religiösen Gruppe "Word of Life" ergänzend ausgeführt, in Georgien herrsche Religionsfreiheit und Berichte über eine Verfolgung von religiösen Gruppen würden nicht vorliegen. Zur Begründung der Refoulemententscheidungen führte das Bundesasylamt aus, die "vorgebrachten Befürchtungen" der beschwerdeführenden Parteien mögen zwar "persönlich unangenehm erscheinen", das Ausmaß einer "Erniedrigung" im Sinne des Art. 3 EMRK werde nicht erreicht.

Mit den angefochtenen Bescheiden wies die belangte Behörde die Berufungen ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 7 AsylG ab und stellte fest, dass gemäß § 8 AsylG iVm § 50 Fremdenpolizeigesetz 2005 die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien nach Georgien zulässig sei.

In den Begründungen übernahm die belangte Behörde die Länderfeststellungen in den Bescheiden des Bundesasylamtes, bezweifelte das Fluchtvorbringen auch aufgrund eigenständiger beweiswürdigender Überlegungen, erkannte keine aktuelle Gefährdung der beschwerdeführenden Parteien und bezeichnete es als "notorisch, dass von einer generellen Verfolgung religiöser Minderheiten in Georgien keine Rede sein" könne. Die beschwerdeführenden Parteien hätten Georgien "aufgrund der wirtschaftlichen Lage" verlassen. Ihnen drohe dort keine asylrelevante Verfolgung. Ihre allfällige Abschiebung verstoße insbesondere nicht gegen Art. 3 EMRK.

Der Verfassungsgerichtshof hat die Behandlung der gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden mit Beschluss vom 20. Juni 2007,

B 412/07-9, B 413/07-8, B 414/07-8, abgelehnt und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten. Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerden nach Verbindung zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung erwogen:

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist von den Asylbehörden zu erwarten, dass sie insoweit, als es um Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern geht, von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch machen und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einbeziehen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 11. November 2008, Zl. 2007/19/0279, mwN zur Pflicht der Asylbehörden, von Amts wegen aktuelles Berichtsmaterial heranzuziehen, sowie das hg. Erkenntnis vom 19. März 2009, Zl. 2008/01/0738).

Hinsichtlich der behaupteten Verfolgung der beschwerdeführenden Parteien als Anhänger der Glaubensgemeinschaft "Word of Life" hat die belangte Behörde - wie die Beschwerden im Ergebnis zutreffend aufzeigen - dieser Verpflichtung durch die Übernahme der Länderfeststellungen des Bundesasylamtes, die auf Berichten aus dem Zeitraum 1998 bis Anfang 2000 basieren, und der von ihr als "notorisch" bezeichneten und durch kein Berichtsmaterial belegten Begründung, "dass von einer generellen Verfolgung religiöser Minderheiten in Georgien keine Rede sein" könne, nicht entsprochen. So wird etwa im Bericht der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen vom 16. Dezember 2003 ("Civil and political rights, including the question of religious intolerance - Visit to Georgia", S. 13, Pkt. 59; zitiert in der ACCORD Anfragebeantwortung vom 6. Dezember 2006, "Religiöse Gruppierung 'Fünfziger' (Pfingstgemeinden, Pentecostals)") unter anderem ausgeführt, dass Mitglieder der "Word of Life Church" wiederholt Opfer von religiöser Gewalt geworden seien. Da die belangte Behörde auf den realen Hintergrund der behaupteten Verfolgung aus religiösen Gründen nicht eingegangen ist und keine aktuellen Berichte zur Situation von Mitgliedern dieser Glaubensgemeinschaft in ihre Beurteilung einbezogen hat, erweist sich die Begründung der angefochtenen Bescheide schon aus diesem Grund als mangelhaft.

2. Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass die Voraussetzung eines aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärten Sachverhalts gemäß Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG, der eine Berufungsverhandlung entbehrlich macht, dann nicht erfüllt ist, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird oder der Berufungsbehörde ergänzungsbedürftig oder in entscheidenden Punkten nicht richtig erscheint, wenn rechtlich relevante und zulässige Neuerungen vorgetragen werden oder wenn die Berufungsbehörde ihre Entscheidung auf zusätzliche Ermittlungsergebnisse stützen will (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 15. Jänner 2009, Zl. 2007/01/0352, und vom 19. März 2009, Zl. 2008/01/0738, jeweils mwN).

Die belangte Behörde nahm - abweichend vom Bundesasylamt - eine umfangreiche, auch beweiswürdigende Bewertung der von den beschwerdeführenden Parteien vorgetragenen Ausreisegründe vor. Dies hätte die belangte Behörde aber nicht ohne Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung vornehmen dürfen (vgl. u.v.a. die hg. Erkenntnisse vom 26. Jänner 2006, Zl. 2005/01/0106, und vom 15. Jänner 2009, Zl. 2007/01/0352).

3. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei Einhaltung der außer Acht gelassenen Verfahrensvorschriften für die beschwerdeführenden Parteien ein anderes Verfahrensergebnis zu erzielen gewesen wäre, waren die angefochtenen Bescheide wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

4. Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 15. September 2010

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte