VwGH 2008/19/0938

VwGH2008/19/093828.5.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Heinzl, sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. N. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. S. Giendl, über die Beschwerden der beschwerdeführenden Parteien

1.) L, 2.) M, 3.) Z, 4.) I und 5.) I, alle in Wien und vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates vom 1.) 20. Juni 2008, Zl. 319.801-1/3E-XVIII/58/08, 2.) 20. Juni 2008, Zl. 319.799-1/3E-XVIII/58/08,

  1. 3.) 20. Juni 2008, Zl. 319.802-1/2E-XVIII/58/08,
  2. 4.) 20. Juni 2008, Zl. 319.804-1/2E-XVIII/58/08, 5.) 20. Juni 2008, Zl. 319.803-1/2E-XVIII/58/08, jeweils betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

32003R0343 Dublin-II Art10 Abs1;
32003R0343 Dublin-II Art16 Abs1 litc;
32003R0343 Dublin-II Art3 Abs2;
AsylG 2005 §10 Abs1 Z1;
AsylG 2005 §10 Abs4;
AsylG 2005 §34;
AsylG 2005 §5 Abs1;
AVG §60;
AVG §67;
EMRK Art3;
EMRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
32003R0343 Dublin-II Art10 Abs1;
32003R0343 Dublin-II Art16 Abs1 litc;
32003R0343 Dublin-II Art3 Abs2;
AsylG 2005 §10 Abs1 Z1;
AsylG 2005 §10 Abs4;
AsylG 2005 §34;
AsylG 2005 §5 Abs1;
AVG §60;
AVG §67;
EMRK Art3;
EMRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Die angefochtenen Bescheide werden hinsichtlich der erstbeschwerdeführenden Partei wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, hinsichtlich der zweit- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Erstbeschwerdeführerin ist die Ehefrau des Zweitbeschwerdeführers und Mutter der minderjährigen dritt- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien. Alle beschwerdeführenden Parteien sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit.

Die beschwerdeführenden Parteien reisten Anfang Dezember 2007 über die weißrussisch-polnische Grenze in das Gebiet der Europäischen Union ein, beantragten im Folgenden in Polen Asyl und gelangten - ohne das Ende der polnischen Asylverfahren abzuwarten - noch im Dezember 2007 nach Österreich, wo sie (neuerlich) um internationalen Schutz ansuchten. Die Republik Polen erklärte sich im Konsultationsverfahren bereit, die beschwerdeführenden Parteien gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung wieder aufzunehmen.

Mit den im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheiden wies die belangte Behörde die Anträge auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, stellte fest, dass für die Prüfung der Anträge gemäß Art. 10 Abs. 1 iVm Art. 16 Abs. 1 lit. c Dublin-Verordnung Polen zuständig sei, wies die beschwerdeführenden Parteien gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen aus, und stellte fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig sei.

Dagegen wendet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Die Beschwerde rügt im Wesentlichen, die österreichischen Asylbehörden hätten von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen müssen, weil die Erstbeschwerdeführerin eine enge familiäre Beziehung zu ihrer in Österreich als anerkannter Flüchtling lebenden Schwester habe und aufgrund ihrer psychischen Erkrankung deren Unterstützung benötige. Die belangte Behörde habe sich mit diesen Fragen nur mangelhaft auseinandergesetzt. Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde einen relevanten Verfahrensmangel in Bezug auf das Verfahren der Erstbeschwerdeführerin auf.

Nach dem gemäß § 67 AVG auch von der Berufungsbehörde anzuwendenden § 60 AVG sind in der Begründung des Berufungsbescheides die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenzufassen. Demnach muss in der Bescheidbegründung in einer eindeutigen, die Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichenden und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugänglichen Weise dargetan werden, welcher Sachverhalt der Entscheidung zu Grunde gelegt wurde, aus welchen Erwägungen die Behörde zu der Ansicht gelangte, dass gerade dieser Sachverhalt vorliege, und aus welchen Gründen sie die Subsumtion dieses Sachverhaltes unter einen bestimmten Tatbestand als zutreffend erachtete (vgl. dazu aus der ständigen hg. Rechtsprechung etwa das Erkenntnis vom 26. Mai 2004, 2001/20/0550, mwN).

Diesen Anforderungen wird der die Erstbeschwerdeführerin betreffende Berufungsbescheid nicht gerecht.

Die insgesamt 31 Seiten umfassende Bescheidbegründung enthält im Wesentlichen allgemeine Rechtsausführungen und nimmt auf den individuellen Fall - soweit für das verwaltungsgerichtliche Verfahren von Relevanz - nur in folgenden Passagen Bezug:

"Im gegenständlichen Fall besteht - im Zweifel für den BW - ein Familienverhältnis zu den von der BW genannten, ihr nahe stehenden Personen, insbesondere ihrer Schwester, ...

Eine besondere, qualifizierte Beziehungsintensität im Sinne von Unterstützungsleistungen, welche den zwingenden Aufenthalt in Österreich voraussetzen, ist nicht erkennbar. Ebenso wird auf die nachfolgenden Ausführungen zum Gesundheitszustand des BWs verwiesen, woraus ebenfalls nicht die gegenteilige Annahme ableitbar ist (Seite 10(.

...

Es ist auch darauf hingewiesen, dass eine Rückverbringung der BW nach Polen, diese nicht zwingt, den Kontakt zu in Österreich aufhältigen, ihr nahestehenden Personen vollständig abzubrechen. Es steht ihr frei, diesen auf sonstige Weise (z.B. Brief- und Telefonverkehr, bzw. gelegentliche Besuche unter Einhaltung der Bestimmungen des FPG und NAG) zu pflegen, was möglich und im ausreichenden Maße zumutbar ist. Eine Trennung in der hier vorliegenden Form erscheint daher auch im Lichte des Art. 3 EMRK vertretbar, da keinerlei im Lichte der genannten Bestimmung qualifizierter Sachverhalt - etwa in Form einer qualifiziert psychischen Abhängigkeit von einer in Österreich aufhältigen und zurückbleibenden Person - vorliegt, wobei hier in Ergänzung auch auf die noch zu treffenden Ausführungen im Lichte dieser Bestimmung hinzuweisen ist (Seiten 15f( .

...

Aus den im Akt ersichtlichen Bescheinigungsmitteln kann letztlich bei Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen nicht festgestellt werden, dass eine Überstellung nach Polen aufgrund des Gesundheitszustandes des BWs nicht zulässig ist (Seite 28(."

Mit diesen Ausführungen begründet die belangte Behörde nicht, warum sie - entgegen dem Vorbringen der Erstbeschwerdeführerin - von keiner "qualifizierten Beziehungsintensität" zwischen der Erstbeschwerdeführerin und ihrer Schwester ausgeht. Im Übrigen wird zwar mehrfach auf "nachfolgende Ausführungen" zum Gesundheitszustand der Erstbeschwerdeführerin verwiesen; diesbezügliche Feststellungen und eine dazugehörende Beweiswürdigung enthält die Bescheidbegründung aber nicht.

Es lässt sich daher nicht abschließend beurteilen, ob die Asylbehörden vor allem unter Blickwinkel des Art. 8 EMRK im gegenständlichen Fall von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch machen hätten müssen (vgl. zur grundrechtskonformen Interpretation des AsylG 2005 unter Bedachtnahme auf die Bestimmungen der EMRK im Allgemeinen das hg. Erkenntnis vom 23. Jänner 2007, 2006/01/0949, mwN; zum Familienleben unter Erwachsenen etwa das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 9. Juni 2006, B 1277/04, VfSlg. 17851; zur möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Überstellung psychisch Kranker im Dublin-System etwa das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 6. März 2008, B 2400/07).

Der angefochtene Bescheid betreffend die Erstbeschwerdeführerin war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 AsylG 2005 auch auf die übrigen beschwerdeführenden Parteien durch. Die sie betreffenden angefochtenen Bescheide waren deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich im Rahmen des gestellten Begehrens auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 28. Mai 2009

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