VwGH 2007/18/0149

VwGH2007/18/014919.6.2008

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höfinger und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Enzenhofer und Dr. Strohmayer sowie die Hofrätin Mag. Merl als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Schmidl, über die Beschwerde der F A in W, geboren am 20. April 1978, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2-4/II/23, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 23. November 2006, Zl. SD 1504/05, betreffend Behebung eines Bescheides gemäß § 66 Abs. 2 AVG i.A. Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

ARB1/80 Art6 Abs1;
ARB1/80 Art7;
AVG §66 Abs2;
EheG §23;
FrG 1997 §36 Abs1;
FrG 1997 §36 Abs2 Z9;
FrPolG 2005 §54;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z6;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z8;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z9;
FrPolG 2005 §61 Z2;
FrPolG 2005 §63 Abs1;
NAG 2005 §11 Abs1 Z4;
NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
ARB1/80 Art6 Abs1;
ARB1/80 Art7;
AVG §66 Abs2;
EheG §23;
FrG 1997 §36 Abs1;
FrG 1997 §36 Abs2 Z9;
FrPolG 2005 §54;
FrPolG 2005 §60 Abs1;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z6;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z8;
FrPolG 2005 §60 Abs2 Z9;
FrPolG 2005 §61 Z2;
FrPolG 2005 §63 Abs1;
NAG 2005 §11 Abs1 Z4;
NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I.

1. Die Bundespolizeidirektion Wien hat die Beschwerdeführerin, eine türkische Staatsangehörige, mit Bescheid vom 7. Juli 2005 gemäß § 34 Abs. 1 Fremdengesetz 1997 - FrG, BGBl. I Nr. 75, ausgewiesen. Zur Begründung führte diese Behörde im Wesentlichen aus, dass die Beschwerdeführerin am 15. November 2001 einen österreichischen Staatsangehörigen nur zum Schein geheiratet habe, ohne ein gemeinsames Familienleben zu führen. Die Beschwerdeführerin habe die von ihr beantragte Niederlassungsbewilligung nur auf Grund dieser rechtsmissbräuchlich eingegangenen Ehe erhalten.

Mit Bescheid vom 23. November 2006 hat die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien (die belangte Behörde) diesen Bescheid gemäß § 66 Abs. 2 AVG behoben und die Angelegenheit an die Behörde erster Instanz zurückverwiesen.

Zur Begründung führte die belangte Behörde aus, dass das gegenständliche Verfahren gemäß § 125 Abs. 1 des mit 1. Jänner 2006 in Kraft getretenen Fremdenpolizeigesetzes 2005 - FPG, BGBl. I Nr. 100, nach den Bestimmungen dieses Gesetzes weiterzuführen sei. Im FPG finde sich keine dem § 34 Abs. 1 Z. 3 FrG entsprechende Bestimmung, wonach Fremde ausgewiesen werden könnten, wenn der Aufenthaltstitel erteilt worden sei, weil sich der Fremde auf eine Ehe berufen habe, obwohl er ein gemeinsames Familienleben im Sinn von Art. 8 EMRK nicht geführt habe. Hingegen stelle es gemäß § 60 Abs. 2 Z. 9 FPG einen Grund für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots dar, wenn ein Fremder eine Ehe geschlossen, sich für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung oder eines Befreiungsscheines auf die Ehe berufen, aber mit dem Ehegatten ein gemeinsames Familienleben im Sinn von Art. 8 EMRK nie geführt habe. Die Behörde erster Instanz werde daher zu prüfen haben, ob gegen die Beschwerdeführerin ein Aufenthaltsverbot gemäß § 60 Abs. 2 Z. 9 FPG erlassen werden könne.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde, inhaltliche Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde mit dem Begehren, ihn aufzuheben.

3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Die Beschwerdeführerin ist türkische Staatsangehörige und seit 15. November 2001 mit einem Österreicher verheiratet. Sie befindet sich nach dem Akteninhalt seit 11. März 2002 in Österreich und ist seit August 2002 beim selben Arbeitgeber beschäftigt, wobei sie die Berechtigung zur Ausübung der Beschäftigung auf Grund der Ehe erlangt hat.

2. Nach Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des auf Grund des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrats vom 19. September 1980 (im Folgenden: ARB) hat ein türkischer Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat (erster Gedankenstrich) nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt; (zweiter Gedankenstrich) nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben.

Einer Fremden, die - wie die Beschwerdeführerin - den Zugang zum Arbeitsmarkt rechtsmissbräuchlich im Weg einer Scheinehe erlangt hat, kommt jedoch die Begünstigung nach dem ARB nicht zugute (vgl. aus der ständigen hg. Judikatur etwa das Erkenntnis vom 1. Juli 2004, Zl. 2004/18/0164).

Für türkische Staatsangehörige, denen eine Rechtsposition nach Art. 6 oder Art. 7 ARB zukommt, ist es geboten, den Instanzenzug zu einem Tribunal einzurichten und § 9 Abs. 1 Z. 1 FPG, wonach über Berufungen gegen Entscheidung nach diesem Bundesgesetz im Fall von EWR-Bürgern, Schweizer Bürgern und begünstigten Drittstaatsangehörigen die unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern entscheiden, anzuwenden (vgl. das hg. Erkenntnis vom 13. Juni 2006, Zl. 2006/18/0138).

Im vorliegenden Fall hätte die Beschwerdeführerin die Rechtsstellung nach Art. 6 ARB erworben, wenn sie die ihr den Zugang zum Arbeitsmarkt verschaffende Ehe nicht in rechtsmissbräuchlicher Weise nur zum Schein geschlossen hätte. Diesfalls wäre nicht die belangte Behörde, sondern der unabhängige Verwaltungssenat als Berufungsbehörde zuständig.

Sollte hingegen - wie von der Behörde erster Instanz angenommen - die Ehe nur zum Schein geschlossen worden sein, wäre gemäß § 9 Abs. 1 Z. 2 FPG die belangte Behörde als Berufungsbehörde zuständig. Der Umstand, dass die Beschwerdeführerin mit einem Österreicher verheiratet ist, könnte daran nichts ändern, weil sich weder aus der Beschwerde noch aus dem sonstigen Akteninhalt Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Gatte der Beschwerdeführerin sein gemeinschaftsrechtliches Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen habe und die Beschwerdeführerin daher als begünstigte Drittstaatsangehörige im Sinn von § 2 Abs. 4 Z. 11 FPG anzusehen sei (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 16. Jänner 2007, Zl. 2006/18/0495). Der von der Beschwerde weiter ins Treffen geführte Umstand, dass die Eheschließung im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides (um wenige Tage) länger als fünf Jahre zurücklag, wäre dafür schon deshalb unerheblich, weil der Verwaltungsgerichtshof seine zum FrG ergangene Judikatur, wonach eine fünf Jahre oder länger zurückliegende rechtsmissbräuchliche Eheschließung die Annahme einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Aufenthalt des Fremden nicht mehr rechtfertigen könne (vgl. etwa das Erkenntnis vom 17. Februar 2000, Zl. 99/18/0252), für den Anwendungsbereich des FPG nicht übernommen hat (siehe das Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2007/18/0228).

3. Die belangte Behörde hat damit, dass sie die angefochtene (Formal-)Entscheidung erlassen hat, konkludent ihre Zuständigkeit als Berufungsbehörde bejaht. Der angefochtene Bescheid enthält jedoch keine Ausführungen zur nach dem oben Gesagten für die Zuständigkeit der belangten Behörde wesentlichen Frage, ob die Eheschließung der Beschwerdeführerin rechtsmissbräuchlich erfolgt ist, und keine zur Beurteilung dieser Frage erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen.

Damit belastete die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid mit einem Verfahrensmangel.

4. Hinzugefügt sei, dass das Vorliegen einer Aufenthaltsehe den Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z. 4 NAG erfüllt. Überdies kann auf Grund der von der rechtsmissbräuchlichen Eingehung einer Ehe bewirkten Störung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens der Versagungsgrund gemäß § 11 Abs. 2 Z. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG, BGBl. I Nr. 100/2005 erfüllt sein (vgl. das hg. Erkenntnis vom heutigen Tag, Zl. 2007/18/0041). Ein derartiges Fehlverhalten kann daher - entgegen der offenbaren Ansicht der belangten Behörde - einen Grund für eine Ausweisung gemäß § 54 FPG darstellen.

Sollte der Niederlassungsbehörde jedoch bei Erteilung des bisher letzten - nach der Aktenlage von 16. Februar 2006 bis 16. Februar 2008 gültigen - Aufenthaltstitels an die Beschwerdeführerin der Sachverhalt, aus dem sich nach Ansicht der Behörde die rechtsmissbräuchliche Eheschließung ergibt, bereits bekannt gewesen sein, so wäre der Versagungsgrund nicht nachträglich eingetreten oder bekannt geworden, weshalb keine Ausweisung nach § 54 FPG erlassen werden dürfte; diesfalls könnte gemäß § 61 Z. 2 FPG auch kein Aufenthaltsverbot erlassen werden (vgl. das zu den in den hier wesentlichen Punkten inhaltsgleichen Bestimmungen der §§ 34 Abs. 1 und 38 Abs. 1 Z. 2 FrG ergangene hg. Erkenntnis vom 3. August 1999, Zl. 99/18/0259).

Weiters sei festgehalten, dass nach dem klaren Wortlaut des § 66 Abs. 2 AVG die Ansicht der Berufungsbehörde, dass die Behörde erster Instanz eine andere als die verhängte fremdenpolizeiliche Maßnahme ergreifen hätte sollen, für sich allein keine Grundlage für ein Vorgehen nach dieser Gesetzesbestimmung bietet. Insoweit hat die belangte Behörde die Rechtslage verkannt.

5. Auf Grund der aufgezeigten Verkennung der Rechtslage war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

6. Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 4 VwGG Abstand genommen werden.

7. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003.

Wien, am 19. Juni 2008

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