Normen
AsylG 1997 §23 idF 2003/I/101;
AsylG 1997 §28;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8 Abs1 idF 2003/I/101;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1997 §23 idF 2003/I/101;
AsylG 1997 §28;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8 Abs1 idF 2003/I/101;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der Volksgruppe der Kumyken in der Republik Dagestan, reiste im September 1999 in das Bundesgebiet ein und beantragte Asyl. Bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 25. Oktober 1999 gab er an, er sei im August 1999 bei Beginn der Kampfhandlungen im Grenzgebiet zwischen Tschetschenien und Dagestan als Reservist einberufen und in die Berge gebracht worden, wo die Kampfhandlungen stattgefunden hätten. Nach einigen Tagen sei er desertiert, weil er den Krieg ablehne und nicht auf "Verwandte" auf tschetschenischer Seite schießen wolle. Im Falle einer Rückkehr fürchte er wegen Desertion festgenommen und inhaftiert zu werden. Möglicherweise würde man ihn wieder zu seiner Einheit bringen und er müsste dann an Kampfhandlungen teilnehmen, die er ablehne.
Über die Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 3. November 1999, mit dem der Asylantrag gemäß § 7 AsylG abgewiesen und die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Russland für zulässig erklärt worden war, führte die belangte Behörde am 22. November 2000 eine mündliche Berufungsverhandlung durch.
In dieser Berufungsverhandlung wurde dem Beschwerdeführer zunächst ein (nicht aktenkundiger) Bericht der österreichischen Botschaft in Moskau vom 13. September 2000 vorgehalten, wonach das russische Strafgesetz für Desertion einen Strafrahmen von drei bis sieben Jahren vorsehe und bei Begehung der Tat in Kriegszeiten die Todesstrafe verhängt werden könne. Fälle, in denen Letzteres geschehen sei, seien jedoch nicht bekannt.
Der Beschwerdeführer brachte u.a. vor, da er "in Kriegszeiten desertiert" sei und damals "ein Ausnahmezustand im Zusammenhang mit der Tschetschenienkrise" bestanden habe, treffe der Strafrahmen von drei bis sieben Jahren auf ihn als Offizier sicher nicht zu.
Im weiteren Verlauf der Verhandlung wurden dem Beschwerdeführer aus einem Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 22. Mai 2000 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation Ausführungen über die Bestrafung u. a. von Desertion (mit Freiheitsstrafe von bis zu 7 Jahren), über eine Amnestieverordnung von 1997, deren Erweiterung im Jahr 1998 und eine am 13. Dezember 1999 vom russischen Parlament beschlossene "ähnliche Amnestie" vorgehalten. Letztere sei zuletzt bis zum 25. Mai 2000 verlängert worden. "Wie bei der ersten Amnestie" fielen darunter "nur Straftaten, für die als maximales Strafmaß nicht mehr als 5 Jahre Freiheitsentzug vorgesehen sind".
Der Beschwerdeführer bezweifelte die Anwendbarkeit dieser Amnestie auf seinen Fall und führte aus, ihm bliebe, wenn er zurückkehren müsste, zur Vermeidung einer mindestens zehnjährigen Haft nur die Möglichkeit, "zu den tschetschenischen Räubern überzulaufen". Die belangte Behörde hielt fest, weitere Beweise würden "wegen Entscheidungsreife der Sache nicht mehr aufgenommen", und schloss die Beweisaufnahme.
Im Jänner 2004 übermittelte das Bundesasylamt der belangten Behörde Kopien von Übersetzungen im angefochtenen Bescheid nicht erwähnter, den Beschwerdeführer betreffender Dokumente, die ihrem Inhalt zufolge 2003 in Dagestan ausgestellt wurden.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom 30. Juli 2004 wies die belangte Behörde die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab (Spruchpunkt I) und stellte gemäß § 8 Abs. 1 AsylG (i.d.F. der Novelle BGBl. I Nr. 101/2003) die Zulässigkeit der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation fest (Spruchpunkt II).
Diese Entscheidung gründete die belangte Behörde - ausgehend von dem vom Beschwerdeführer behaupteten Fluchtgrund ("Der Heimatstaat wurde verlassen, da die berufende Partei sich einem Strafverfahren wegen Desertion entziehen wollte") - auf Feststellungen, die im Wesentlichen dem Vorhalt von Teilen des deutschen Außenamtsberichtes vom 22. Mai 2000 in der Berufungsverhandlung am 22. November 2000 entsprachen.
Beweiswürdigend führte die belangte Behörde dazu Folgendes aus:
"Bei der herangezogenen Quelle zur Situation in der russischen Föderation hinsichtlich des Fragenkomplexes Militärdienst, Desertion, Strafverfahren und Amnestie wurde von einer anerkannten staatlichen Institution erstellt, die sich eingehend aufgrund örtlicher Recherchen über asyl- und abschiebungsrelevante Fragen in der russischen Föderation befasst, es sind keine Umstände hervorgekommen, diese Quellen in Zweifel zu ziehen. Auch die berufende Partei konnte mit ihrem undifferenziertem Vorbringen keine Zweifel an der Stichhaltigkeit der zugrundegelegten Feststellungen hervorrufen."
In rechtlicher Hinsicht ging die belangte Behörde - im Anschluss an allgemein gehaltene Textteile über die Voraussetzungen einer Asylgewährung - mit folgenden Worten auf den Asylantrag des Beschwerdeführers ein:
"In ihrem Asylantrag hat die berufende Partei ihrem Herkunftsstaat zurechenbare Verfolgung behauptet indem sie vorbrachte, dass sie fürchte, wegen Desertion in der russischen Föderation streng bestraft zu werden. Aufgrund der ins Verfahren eingezogenen Länderdokumente steht fest, dass der Asylwerber selbst im Falle einer Bestrafung mit keiner exzessiven Strafe zu rechnen hätte und dass für ihn wegen seiner Desertion das zitierte Amnestiegesetz zur Anwendung kommen würde. Festzuhalten ist, dass es einem Staat nicht verwehrt werden kann, wegen Wehrdienstverweigerung oder Desertion Strafen zu verhängen, die aus asylrelevanter Sicht unbedenklich sind, wenn sie nicht exzessiv oder unverhältnismäßig sind. Dies ist im vorliegenden Fall nicht gegeben, sodass die Abweisung des Asylantrages durch die Erstbehörde zu Recht erfolgt ist."
Die rechtliche Begründung zu Spruchpunkt II besteht - abgesehen von allgemein gehaltenen Rechtsausführungen und einem Verweis auf die Gründe für die Abweisung des Asylantrages - aus folgendem Satz:
"Was die Frage des Vorliegens einer Folge im Sinne des § 57 Abs. 1 FrG betrifft, so ist festzuhalten, dass eine solche nicht vorliegt".
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Der angefochtene Bescheid kann schon auf Grund des - in der Beschwerde gerügten - Zeitabstandes von mehr als drei Jahren zwischen der Berufungsverhandlung und der Erlassung des angefochtenen Bescheides auf der Grundlage eines inzwischen mehr als vier Jahre alten Berichtes nicht Bestand haben (vgl. zur Verpflichtung der Behörden, aktuelles Berichtsmaterial heranzuziehen, etwa die Nachweise in dem hg. Erkenntnis vom 1. April 2004, Zl. 2002/20/0440). Die belangte Behörde hätte sich dessen ungeachtet auch im Falle einer früheren Bescheiderlassung nicht auf die Heranziehung dieses einen Berichtes beschränken dürfen (vgl. dem gegenüber - in einem einen Staatsangehörigen der Russischen Föderation betreffenden Verfahren - etwa die zahlreichen Quellennachweise in dem Bescheid der belangten Behörde vom 1. Dezember 2003, Zl. 233.096/0-VIII/23/02).
In Bezug auf die Schlussfolgerungen der belangten Behörde aus dem herangezogenen Bericht erscheinen darüber hinaus die "undifferenzierten" Einwände des Beschwerdeführers zumindest insoweit als berechtigt, als der Tatbestand der Desertion wegen des Strafrahmens von bis zu 7 Jahren nach den zugrunde gelegten Berichtsteilen nicht unter die von der belangten Behörde angenommene Amnestie fallen würde (vgl. zum weiteren Erfordernis von Feststellungen über die praktische Wirksamkeit von "Amnestien" zuletzt etwa das hg. Erkenntnis vom 9. November 2004, Zl. 2003/01/0458).
Die belangte Behörde hat sich auch - wortlos - über die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur rechtlichen Beurteilung von Sachverhalten der im vorliegenden Fall gegenständlichen Art hinweggesetzt und im Besonderen nicht darauf Bedacht genommen, dass nach den hg. Erkenntnissen vom 22. November 2001, Zl. 98/20/0261, und vom 21. März 2002, Zl. 99/20/0401, auch der Art des Militäreinsatzes - vor allem unter dem Gesichtspunkt der Beeinträchtigung der Zivilbevölkerung -
Bedeutung zukommen kann. Die belangte Behörde hätte in dieser Hinsicht - anders, als sie offenbar annahm - auch die Ausführungen in dem von ihr herangezogenen Außenamtsbericht über die Beschießung von Flüchtlingen durch russische Truppen, über "massive Menschenrechtsverletzungen (willkürliche Tötung von Zivilisten, Vergewaltigungen, Plünderungen und Raub)", über systematische Folterungen in "Filtrationslagern" sowie über "Exekutionen ... Vergewaltigungen, Plünderungen und Brandstiftungen" bei der Einnahme bestimmter Ortschaften in Tschetschenien durch russische Soldaten im Zuge der Kämpfe, an denen sich der Beschwerdeführer nicht beteiligen wollte, in ihre Betrachtungen einbeziehen müssen.
Der Vollständigkeit halber ist hinzuzufügen, dass auch die Begründung des zweiten Spruchpunktes des angefochtenen Bescheides - der aber schon angesichts der Aufhebung des ersten Spruchpunktes nicht Bestand haben kann - nicht ausreichend wäre.
Der angefochtene Bescheid war aus diesen Gründen - in vorrangiger Wahrnehmung der Verkennung rechtlich maßgeblicher Gesichtspunkte durch die belangte Behörde - gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.
Wien, am 21. April 2005
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)