VwGH 99/08/0096

VwGH99/08/00967.8.2002

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Sulyok, Dr. Köller und Dr. Moritz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, über die Beschwerde der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt, vertreten durch Dr. Vera Kremslehner, Dr. Josef Milchram, Dr. Anton Ehm, Rechtsanwälte in 1010 Wien, Singerstraße 12/9, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Niederösterreich vom 18. Mai 1999, Zl. GS8-8249/9-1999, betreffend Feststellung einer Beitragsgrundlage gemäß § 180 ASVG (mitbeteiligte Parteien: 1. B, 2. A, beide in Z und beide vertreten durch Dr. C, Rechtsanwalt in Z), zu Recht erkannt:

Normen

ASGG §65 Abs1 Z1;
ASGG §74 Abs1;
ASVG §180;
ASVG §354;
ASVG §355;
ASVG §410 Abs1 Z7;
AVG §38;
AVG §8;
VwGG §34 Abs1;
ASGG §65 Abs1 Z1;
ASGG §74 Abs1;
ASVG §180;
ASVG §354;
ASVG §355;
ASVG §410 Abs1 Z7;
AVG §38;
AVG §8;
VwGG §34 Abs1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für soziale Sicherheit und Generationen) hat der beschwerdeführenden Unfallversicherungsanstalt Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Ehemann der Erstmitbeteiligten und Vater des Zweitmitbeteiligten verunglückte am 12. April 1995 auf der Fahrt in die Rechtsanwaltskanzlei des nunmehrigen Vertreters der Mitbeteiligten, bei dem er als Rechtsanwaltsanwärter beschäftigt war, mit seinem PKW tödlich. Mit Bescheid vom 29. August 1995 anerkannte die beschwerdeführende Unfallversicherungsanstalt diesen Unfall als Arbeitsunfall und stellte die Bemessungsgrundlage für die Witwen- und Waisenrente gemäß § 179 Abs. 1 ASVG mit S 302.526,94 fest. Davon ausgehend berechnete die beschwerdeführende Unfallversicherungsanstalt die Rente für die Ehefrau und den Sohn des Verunglückten mit jeweils 20 % der Bemessungsgrundlage, daher mit je S 4.321,80.

Diesen Bescheid bekämpften die Mitbeteiligen mit der beim Landesgericht Krems als Arbeits- und Sozialgericht zu 8 Cga 287/95m eingebrachten Klage vom 25. September 1995, in der sie vorbrachten, die Bemessungsgrundlage für die Berechnung der Hinterbliebenenrenten hätte erheblich höher festgestellt werden müssen. Der Verunglückte sei am Unfallstag noch nicht 30 Jahre alt gewesen und habe sich als Rechtsanwaltsanwärter noch in Berufsausbildung befunden. Für die Errechnung der Bemessungsgrundlage hätte daher die Bestimmung des § 180 Abs. 1 ASVG herangezogen werden müssen. Ein Rechtsanwaltsanwärter verdiene nach Ablegung der Rechtsanwaltsprüfung S 40.000,-- brutto, 14 mal jährlich. Bei Heranziehung dieser Bestimmung hätte sich eine wesentlich höhere Bemessungsgrundlage ergeben. Sollte § 180 Abs. 1 ASVG nicht angewendet werden können, wäre die Bemessungsgrundlage jedenfalls gemäß § 180 Abs. 2 ASVG zu ermitteln gewesen. Auch für diesen Fall hätte sich eine wesentlich höhere Bemessungsgrundlage ergeben. In ihrer Klagebeantwortung wandte sich die dort beklagte und hier beschwerdeführende Unfallversicherungsanstalt gegen die Anwendung des § 180 ASVG für die Bildung der Bemessungsgrundlage, weil die Ausbildung des Verunglückten zum Rechtsanwaltsanwärter bis zu seinem 30. Lebensjahr nicht beendet gewesen wäre.

Mit Beschluss des genannten Gerichtes vom 27. Februar 1996 wurde das gerichtliche Verfahren gemäß § 74 Abs. 1 ASGG bis zur rechtskräftigen Entscheidung - einschließlich eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens - über "die Vorfrage der maßgebenden Beitragsgrundlage als Hauptfrage im Verfahren in Verwaltungssachen" unterbrochen. Dem gegen diesen Beschluss erhobenen Rekurs der Mitbeteiligten gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 27. Juni 1996 keine Folge, weil strittig sei, ob bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage nach § 179 Abs. 1 oder nach § 180 Abs. 1 ASVG vorzugehen sei, somit ein Streit über die Beitragsgrundlage vorliege.

In der Folge regte das erkennende Gericht bei der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse die Einleitung eines Verfahrens in Verwaltungssachen "in Gemäßheit des § 74 Abs. 1 2. Satz ASGG" an, woraufhin die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens mit Bescheid vom 2. März 1998 die allgemeinen Beitragsgrundlagen auf Grund der Beschäftigung des Verunglückten beim Vertreter der Mitbeteiligten wie folgte feststellte: Für das Jahr 1993 S 240.864,-- für das Jahr 1994 S 245.792,-- und für das Jahr 1995 S 100.000,--. An Sonderzahlungen seien in den ersten beiden Jahren je S 40.114,-- und 1995 S 14.424,-- angefallen. Nach der Begründung zog die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse für die Bildung der Beitragsgrundlage "in Beachtung der §§ 44 und 49 ASVG ... das mit dem Dienstgeber vereinbarte monatliche Entgelt" sowie die Sonderzahlungen heran.

Gegen diesen Bescheid erhoben die Mitbeteiligten insoweit Einspruch, als für die Berechnung der Bemessungsgrundlage für die Hinterbliebenenrenten nicht § 180 Abs. 1 ASVG herangezogen worden sei; dabei sei von einem (fiktiven) monatlichen Bruttogehalt des Verunglückten von S 40.000,--, 14 mal jährlich bezogen, auszugehen.

Mit dem angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde dem Einspruch "insoferne Folge gegeben, als die fiktive Jahresbeitragsgrundlage für den verstorbenen (Name) ab November 1995 mit brutto S 490.000,-- festgestellt wird. Das darüber hinausreichende Einspruchsbegehren auf Feststellung einer Beitragsgrundlage von monatlich brutto S 40.000.-- (somit S 560.000,-- pro Jahr) wird abgewiesen." Als Rechtsgrundlage ihrer Entscheidung nannte die belangte Behörde die §§ 180 Abs. 1 und 413 Abs. 1 Z 1 ASVG sowie § 66 Abs. 4 AVG. In der Bescheidbegründung gab die belangte Behörde den Verfahrensgang wieder und stellte im Wesentlichen fest, dass der Verunglückte jedenfalls im Oktober 1995 die Rechtsanwaltsprüfung hätte ablegen können. Nach absolvierter Rechtsanwaltsprüfung hätte er ab November 1995 als Rechtsanwaltsanwärter monatlich mindestens S 35.000,-- brutto, 14 mal jährlich, verdienen können. In rechtlicher Hinsicht stützte die belangte Behörde die Berechnung der Bemessungsgrundlage auf die Bestimmung des § 180 Abs. 1 ASVG. Der Verunglückte - so die belangte Behörde weiter - habe sich im Zeitpunkt des Versicherungsfalles noch in einer Berufs- oder Schulausbildung befunden, sodass die Bemessungsgrundlage jeweils nach jener Beitragsgrundlage zu errechnen sei, die für Personen gleicher Ausbildung durch Kollektivvertrag festgesetzt sei oder sonst von ihnen in der Regel erreicht werde. Der Zeitpunkt der Ablegung der Rechtsanwaltsprüfung sei der eigentliche Abschluss der Ausbildung des Rechtsanwaltsanwärters; dieser Zeitpunkt gehe regelmäßig auch mit einer deutlichen Gehaltserhöhung einher. Da der Verunglückte die Rechtsanwaltsprüfung deutlich vor Vollendung des 30. Lebensjahres hätte ablegen und danach S 35.000,-- brutto pro Monate hätte verdienen können, ergebe diese Berechnung die festgestellte Beitragsgrundlage. Zwar sei § 180 Abs. 1 ASVG eindeutig eine Bestimmung des Leitungsrechtes der Unfallversicherung, doch sei diese als speziellere Bestimmung im Verhältnis zu § 44 ASVG in Verwaltungssachen dann anzuwenden, wenn im entsprechenden Leistungsverfahren die Feststellung der Beitragsgrundlage erforderlich sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Rechtswidrigkeit des Inhaltes, Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.

Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie - ebenso wie die Mitbeteiligten - die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Vorweg ist zur Beschwerdelegitimation der beschwerdeführenden Unfallversicherungsanstalt festzuhalten, dass der angefochtene Bescheid insofern in ihre Rechte eingreift, als die von ihr festzustellende Bemessungsgrundlage an die von der belangten Behörde festgestellte Beitragsgrundlage - bindend - anknüpft. Vor dem Verwaltungsgerichtshof ist aber jedermann beschwerdeberechtigt, in dessen Rechte ein Bescheid einer Verwaltungsbehörde eingreift, auch wenn er im Verwaltungsverfahren keine Parteistellung hatte (vgl. die bei Dolp, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit3, auf Seite 413 zitierte Rechtsprechung).

In der Sache bestreitet die beschwerdeführende Unfallversicherungsanstalt vorrangig die Zuständigkeit der belangten Behörde zur Feststellung einer Beitragsgrundlage gemäß § 180 ASVG. Die Bemessungsgrundlage für Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach den §§ 178 ff ASVG könne nämlich nur auf dem für Leistungssachen nach § 354 ASVG zulässigen Rechtsweg festgestellt werden. Die belangte Behörde habe über einen Gegenstand, der ausschließlich in die Zuständigkeit der Arbeits- und Sozialgerichte falle, abgesprochen.

Die im Beschwerdefall maßgeblichen Bestimmungen des ASVG lauten auszugsweise:

"§180. (1) Befand sich der Versicherte zur Zeit des Eintrittes des Versicherungsfalles noch in einer Berufs- oder Schulausbildung, so wird von dem Zeitpunkt ab, in dem die begonnene Ausbildung voraussichtlich abgeschlossen gewesen wäre, die Bemessungsgrundlage jeweils nach der Beitragsgrundlage errechnet, die für Personen gleicher Ausbildung durch Kollektivvertrag festgesetzt ist oder sonst von ihnen in der Regel erreicht wird; hiebei sind solche Erhöhungen der Beitragsgrundlage nicht zu berücksichtigen, die der Versicherte erst nach Vollendung seines 30. Lebensjahres erreicht hätte.

(2) Die Bestimmung des Abs. 1 ist entsprechend für Versicherte anzuwenden, die zur Zeit des Eintrittes des Versicherungsfalles noch nicht 30 Jahre alt waren, sofern die Errechnung der Bemessungsgrundlage auf diese Art für den Versicherten günstiger ist.

§ 354. Leistungssachen sind die Angelegenheiten, in denen es sich handelt um

1. die Feststellung des Bestandes, des Umfanges oder des Ruhens eines Anspruches auf eine Versicherungsleistung ...

§ 355. Alle nicht gemäß § 354 als Leistungssachen geltenden Angelegenheiten .... sind Verwaltungssachen ...

§ 409. Die Versicherungsträger sind im Rahmen ihrer örtlichen und sachlichen Zuständigkeit zur Behandlung der Verwaltungssachen berufen. ..."

Gemäß § 74 Abs. 1 ASGG ist dann, wenn unter anderem in einer Rechtsstreitigkeit nach § 65 Abs. 1 Z 1 ASGG (das ist unter anderem eine Rechtsstreitigkeit über den Umfang eines Anspruches auf eine Versicherungsleistung) die maßgebende Beitragsgrundlage als Vorfrage strittig ist, das Verfahren zu unterbrechen, bis über diese Vorfrage als Hauptfrage im Verfahren in Verwaltungssachen rechtskräftig entschieden worden ist, dies einschließlich eines allenfalls anhängig gewordenen Verwaltungsgerichtshofverfahrens. Unter der "maßgebenden Beitragsgrundlage" als "Hauptfrage im Verfahren in Verwaltungssachen" und damit als "Vorfrage" in Leistungsstreitverfahren kann - vor dem Hintergrund der Abgrenzung von Leistungs- und Verwaltungssachen nach den §§ 354 und 355 ASVG - nur die Grundlage für die Bemessung der Beiträge und nicht die leistungsrechtliche Bedeutsamkeit dieser Grundlage verstanden werden; letztere stellt vielmehr schon ein Teilmoment der Hauptfrage des Leistungsstreitverfahrens dar (vgl. die Erkenntnisse vom 31. Mai 2000, Zl. 94/08/0059, und vom 16. Mai 1995, Zl. 94/08/0295, jeweils mit einem Hinweis auf die Entscheidung OGH, SSV-NF 3/143).

Gegenstand der rechnerischen Ermittlung im § 180 ASVG ist die für die Leistungsbemessung in der Unfallversicherung maßgebende Bemessungsgrundlage, die nicht in einem Feststellungsverfahren nach § 410 Abs. 1 Z. 7 ASVG, sondern als Tatbestandsmoment der Leistungsfeststellung im Leistungsverfahren zu ermitteln ist. Im Leistungsstreitverfahren hat daher das Gericht die Beitragsgrundlagen für Personen gleicher Ausbildung aus den maßgeblichen Kollektivverträgen selbst zu ermitteln bzw allenfalls unter Beiziehung eines berufskundlichen Sachverständigen zu klären, welche Beitragsgrundlage von solchen Personen "in der Regel erreicht wird".

Die mitbeteiligte Gebietskrankenkasse hat in ihrem erstinstanzlichen Bescheid tatsächlich Beitragsgrundlagen des verstorbenen Versicherten anhand von dessen tatsächlichen Arbeitsverdiensten festgestellt und damit eine Entscheidung im Sinne des § 410 Abs. 1 Z. 7 ASVG getroffen (vgl. etwa das Erkenntnis vom 17. November 1992, Zl. 92/08/0060). Die belangte Behörde hatte sich daher - ungeachtet des darüber hinausgehenden Einspruchsvorbringens - nur mit dieser Frage zu befassen. Sie durfte hingegen nicht über Beitragsgrundlagen vergleichbarer Personen gleicher Ausbildung im Sinne des § 180 ASVG absprechen.

In Verkennung dieser Rechtslage hat die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung BGBl. II Nr. 501/2001.

Wien, am 7. August 2002

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