VwGH 96/21/1076

VwGH96/21/107614.12.2000

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Robl, Dr. Rosenmayr, Dr. Pelant und Dr. Enzenhofer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Ferchenbauer, über die Beschwerde

1. der am 1. Juli 1971 geborenen AD und 2. des am 3. September 1994 geborenen MD, beide vertreten durch BD und dieser vertreten durch Dr. Wilfried Ludwig Weh, Rechtsanwalt in 6900 Bregenz, Wolfeggstraße 1, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Vorarlberg vom 4. Dezember 1996, Zl. Frb-4250b-22/96, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

61997CJ0329 Ergat VORAB;
ARB1/80 Art6 Abs1;
ARB1/80 Art6;
ARB1/80 Art7;
FrG 1993 §17 Abs1;
FrG 1993 §19;
EMRK Art8 Abs2;
EMRK Art8;
61997CJ0329 Ergat VORAB;
ARB1/80 Art6 Abs1;
ARB1/80 Art6;
ARB1/80 Art7;
FrG 1993 §17 Abs1;
FrG 1993 §19;
EMRK Art8 Abs2;
EMRK Art8;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Vorarlberg (der belangten Behörde) vom 4. Dezember 1996 wurden die Erstbeschwerdeführerin, eine türkische Staatsbürgerin, und die zweitbeschwerdeführende Partei, ihr zweijähriges Kind, gemäß § 17 Abs. 1 des Fremdengesetzes - FrG, BGBl. Nr. 838/1992, aus dem Bundesgebiet ausgewiesen.

Zur Begründung dieser Maßnahme führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die Beschwerdeführer mit einem bis zum 14. Februar 1995 gültigen Touristensichtvermerk nach Österreich eingereist seien, nach dessen Ablauf sie sich weiter in Österreich aufgehalten hätten, wo die Erstbeschwerdeführerin am 16. Oktober 1995 ihr zweites Kind zur Welt gebracht habe. Dass sich die Beschwerdeführer nach Ablauf des Touristensichtvermerkes ohne Aufenthaltsberechtigung weiterhin in Österreich aufgehalten hätten, werde von diesen nicht bestritten. Sie brächten vielmehr vor, dass sie auf Grund des Assoziationsabkommens EWG-Türkei und des hiezu ergangenen Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 aufenthaltsberechtigt wären. Ihr Ehegatte bzw. Vater sei im Besitz eines Befreiungsscheines der regionalen Geschäftsstelle Bregenz des Arbeitsmarktservice vom 11. Juli 1996, gültig bis zum 14. Juli 2001, und sohin "assoziationsintegriert".

Die belangte Behörde führte aus, Art. 7 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 sehe vor, dass Familienangehörige eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers gewisse arbeits- und aufenthaltsrechtliche Begünstigungen hätten, sofern sie unter anderem die Genehmigung erhalten hätten, zu ihm zu ziehen. Die Beschwerdeführer seien jedoch mit einem Touristensichtvermerk nach Österreich eingereist, der ihnen nur einen zeitlich befristeten Aufenthalt erlaubt habe. Diesbezüglich sei von ihnen auch gar nicht der Antrag gestellt worden, eine dauernde Aufenthaltsberechtigung in Österreich zu erlangen, sondern eben nur dieser zeitlich befristete Antrag gestellt worden. Unabhängig von der Frage, ob somit der Familienvater als assoziationsintegriert anzusehen sei, sei zumindest diese Voraussetzung des Art. 7 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 nicht gegeben. Somit hielten sich die Beschwerdeführer nach Ablauf ihres Touristensichtvermerks ab dem 15. Februar 1995 unrechtmäßig in Österreich auf und seien daher gemäß § 17 FrG auszuweisen gewesen.

Hiebei sei auf § 19 FrG Bedacht zu nehmen. Der Ehegatte bzw. Vater der Beschwerdeführer lebe in Österreich und verfüge über einen Befreiungsschein bis zum 14. Juli 2001. Am 16. Oktober 1995 habe die Erstbeschwerdeführerin ein weiteres Kind bekommen, welches sich seit seiner Geburt in Österreich aufhalte. Bei diesem Kind handle es sich um eine Frühgeburt, das Kind bedürfe einer intensiven psychotherapeutischen und später auch ergotherapeutischen Betreuung. Es sei daher davon auszugehen, dass durch die Ausweisung in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführer eingegriffen werde. Die Beschwerdeführer hielten sich seit mehr als eineinhalb Jahren in Österreich auf, wobei sie lediglich während der Dauer des Touristensichtvermerkes rechtmäßig hier gewesen seien. Die Integration, die auf Grund ihres unrechtmäßigen Aufenthaltes erfolgt sei, könnten sie sich nunmehr nicht zugute halten lassen. Um die Zielsetzungen, die Art. 8 Abs. 2 EMRK vorgebe, erreichen zu können, sei es von Bedeutung, einen Überblick über alle im Bundesgebiet aufhältigen Personen zu haben. Dazu diene vor allem die Sichtvermerkspflicht. Es sei daher dringend geboten, Fremde, die, obwohl sichtvermerkspflichtig, seit nunmehr über eineinhalb Jahren illegal im Bundesgebiet aufhältig seien, auszuweisen. Die Notwendigkeit ergebe sich vor allem daraus, dass die Beschwerdeführer durch ihr bisheriges Verhalten zum Ausdruck gebracht hätten, dass sie nicht gewillt seien, sich an die österreichische Rechtsordnung, insbesondere im Bereich des Fremdenwesens, zu halten. So seien sie nach Ablauf ihres Touristensichtvermerkes nicht aus Österreich ausgereist. Auch die von ihnen immer wieder versprochene freiwillige Ausreise sei bis heute nicht erfolgt. Durch ihr Verhalten brächten die Beschwerdeführer eindeutig zum Ausdruck, dass sie "in keinster Weise" gewillt seien, sich an die österreichische Rechtsordnung im Bereich des Fremdenwesens zu halten. Die Ausweisung sei auch insofern erforderlich, als die Erteilung eines Sichtvermerkes zu versagen sei, wenn der Sichtvermerk zeitlich an einen Touristensichtvermerk anschließen solle. Somit sei jedenfalls erforderlich, dass die Beschwerdeführer ausreisten und einen allfälligen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung nach dem Aufenthaltsgesetz vom Ausland aus einbrächten. Ein weiterer Grund für die Notwendigkeit einer Ausweisung liege darin, dass die Beschwerdeführer offensichtlich von vornherein die Absicht gehabt hätten, zu ihrem Ehegatten bzw. Vater nach Österreich zu ziehen und hier zu bleiben. Dies ergebe sich daraus, dass sie innerhalb eines kurzen Zeitraumes mit Touristensichtvermerken "zur Einreise gelangt" und anschließend ohne gültige Aufenthaltsberechtigung in Österreich verblieben seien. Schon um einer negativen Vorbildwirkung entgegenzuwirken sei es erforderlich, jenen Zustand herzustellen, der bei einem rechtmäßigen Verhalten der Fremden gegeben wäre, um nicht jene Familienangehörigen zu benachteiligen, die sich gesetzesentsprechend vor ihrer Einreise nach Österreich um die notwendigen Aufenthaltsberechtigungen bemühten und die Erteilung im Ausland abwarteten. Die Ausweisung sei daher dringend erforderlich und müsse auch das öffentliche Interesse an der Erlassung der Ausweisung trotz intensiver Bindungen zu in Österreich aufhältigen Familienmitgliedern höher gewertet werden.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 17 Abs. 1 FrG sind Fremde mit Bescheid auszuweisen, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten; hiebei ist auf § 19 leg. cit. Bedacht zu nehmen. Nach letzterer Vorschrift ist eine Ausweisung, mit der in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen würde, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Die Beschwerdeführer bestreiten die Feststellung der belangten Behörde nicht, dass sie sich nach Ablauf ihrer Touristensichtvermerke ohne Sichtvermerk und ohne Bewilligung nach dem Aufenthaltsgesetz im Bundesgebiet aufhielten. Sie halten den angefochtenen Bescheid aber deswegen für rechtswidrig, weil der Ehegatte der Erstbeschwerdeführerin und Vater der zweitbeschwerdeführenden Partei über einen vom 11. Juli 1996 bis zum 14. Juli 2001 gültigen Befreiungsschein des Arbeitsmarktservice Bregenz verfüge und sohin im Sinn des Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des nach dem Abkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei vom 12. September 1963 eingerichteten Assoziationsrates (ARB Nr. 1/80) "assoziationsintegriert" sei. Aus den Art. 6 und 7 ARB Nr. 1/80 sei auch für die Beschwerdeführer iVm Art. 8 EMRK ein Recht auf Familiennachzug und ein Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet abzuleiten. Insofern regen die Beschwerdeführer die Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens des Verwaltungsgerichtshofes an den Europäischen Gerichtshof an. Durch die gegen die Beschwerdeführer verfügte Ausweisung werde auch unverhältnismäßig in ihr Privat- und Familienleben eingegriffen.

Der Ansicht der Beschwerdeführer, ihnen stünde ein unmittelbar auf dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 gegründetes Aufenthaltsrecht zu, kann nicht gefolgt werden. Die Beschwerdeführer verkennen nämlich, dass der Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 nicht den Familiennachzug regelt, sondern nur die beschäftigungsrechtliche Stellung der Familienangehörigen, die auf Grund anderer Rechtsgrundlagen der Mitgliedstaaten die Genehmigung erhalten haben, zu einem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen (vgl. dazu etwa die hg. Erkenntnisse vom 2. Oktober 1996, Zl. 96/21/0641, und vom 17. Dezember 1997, Zl. 97/21/0394). Der Europäische Gerichtshof hat auch in seiner jüngeren Rechtsprechung keinen Zweifel daran gelassen, dass beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts die Mitgliedstaaten nach wie vor befugt sind, sowohl Vorschriften über die Einreise der Familienangehörigen türkischer (gemäß Art. 6 ARB Nr. 1/80 berechtigter) Arbeitnehmer in ihr Hoheitsgebiet zu erlassen als auch die Bedingungen ihres Aufenthalts während der ersten drei Jahre zu regeln (vgl. das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 16. März 2000 in der Rechtssache C-329/97 , Ergat, RandNr. 42, mwN). Der belangten Behörde ist daher kein Vorwurf zu machen, wenn sie den Aufenthalt der Beschwerdeführer im Bundesgebiet als rechtswidrig ansah.

Zwar ist es Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass ein unrechtmäßiger Aufenthalt eines Fremden in Österreich eine erhebliche Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden im Bundesgebiet regelnden Vorschriften darstellt. Gegenüber diesem öffentlichen Interesse haben verschiedentlich private und familiäre Interessen von Fremden mit rechtswidrigem Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 19 FrG zurückzutreten. Bei Anwendung des § 19 FrG ist allerdings das öffentliche Interesse an der Beendigung eines unrechtmäßigen Aufenthaltes nicht stets höher zu bewerten als die privaten und familiären Interessen des betroffenen Fremden. Eine derartige Auslegung würde dem § 19 FrG jeden Anwendungsbereich entziehen, was dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden kann. Ist gemäß § 19 FrG die Erlassung einer Ausweisung nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der in Art. 8 EMRK genannten Ziele "dringend geboten ist", so bedeutet dies, dass die Ausweisung zur Erreichung zumindest eines dieser Ziele ein "zwingendes soziales Bedürfnis" im Sinn der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte darstellen muss (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 5. März 1999, Zl. 96/21/0526, mwN).

Im Rahmen der nach § 19 FrG gebotenen Abwägung ist der langjährige inländische Aufenthalt des Ehegatten bzw. Vaters der beschwerdeführenden Parteien zu Gunsten der Beschwerdeführer zu berücksichtigen, wobei diesem Umstand im Hinblick darauf beachtliches Gewicht zukommt, dass der Ehegatte bzw. Vater der Beschwerdeführer gemäß Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 zum Aufenthalt in Österreich berechtigt ist und insoweit eine stärkere Rechtsposition hat als ein Fremder, dem eine solche Berechtigung nicht zukommt.

Im Beschwerdefall lag noch ein weiterer, das Gewicht des Privat- und Familienlebens der Erstbeschwerdeführerin betreffender Umstand vor, auf den die belangte Behörde bei ihrer Beurteilung im Grund des § 19 FrG nicht Bedacht genommen hat, und zwar die von ihr festgestellte Tatsache, dass die Erstbeschwerdeführerin im Oktober 1995 ein weiteres Kind zur Welt gebracht hat, welches einer intensiven psychotherapeutischen und späterhin einer ergotherapeutischen Betreuung bedarf.

Das Gewicht der genannten Umstände in ihrem Zusammenhalt übersteigt das Gewicht der durch den rechtswidrigen Aufenthalt der Erstbeschwerdeführerin bewirkten Störung der öffentlichen Ordnung. Ihre Ausweisung erweist sich demnach im Grund des § 19 FrG als rechtswidrig.

Entsprach aber die Ausweisung der Erstbeschwerdeführerin nicht dem Gesetz, so ist bezüglich jener der zweitbeschwerdeführenden Partei die hg. Rechtsprechung maßgeblich, wonach die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gegen ein Kleinkind, das in Österreich von seiner Mutter betreut wird, gegen die eine aufenthaltsbeendende Maßnahme nicht zulässig ist, in der Regel § 19 FrG widerspricht, weil dafür ein zwingendes soziales Bedürfnis im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK regelmäßig nicht gegeben ist (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 22. Mai 1997, Zl. 96/21/0142). Dass diese Maßnahme zur Erreichung eines der in Art. 8 EMRK genannten Ziele aus besonderen Gründen dennoch dringend geboten wäre, hat die belangte Behörde im vorliegenden Fall in Verkennung der Rechtslage nicht ausgeführt.

Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 14. Dezember 2000

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