VwGH 94/20/0806

VwGH94/20/080623.5.1995

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Leukauf und die Hofräte Dr. Kremla, Dr. Händschke, Dr. Baur und Dr. Bachler als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Klebel, über die Beschwerde der N in F, vertreten durch Dr. W, Rechtsanwalt in G, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 27. September 1994, Zl. 4.344.873/1-III/13/94, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1991 §1 Z1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1991 §1 Z1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug gemäß § 66 Abs. 4 AVG erlassenen Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 27. September 1994 wurde die gegen den abweislichen Bescheid des Bundesasylamtes vom 29. Juli 1994 erhobene Berufung der Beschwerdeführerin - einer Staatsangehörigen der Türkei, die am 6. Juni 1994 in das Bundesgebiet eingereist war und am 15. Juni 1994 durch ihren Rechtsvertreter Dr. P einen schriftlichen Asylantrag gestellt hatte - abgewiesen und damit die Asylgewährung versagt.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof unter Abstandnahme von der beantragten Verhandlung gemäß § 39 Abs. 2 Z. 4 VwGG erwogen hat:

Die belangte Behörde legte ihrer rechtlichen Beurteilung jenen Sachverhalt zugrunde, der sich aus den Angaben der Beschwerdeführerin in ihrem schriftlichen Asylantrag sowie ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 18. Juli 1994 ergab. Danach habe sie zuletzt in K, einem Dorf in der Nähe der Stadt Erzurum, welche in Ostanatolien, also im Kurdengebiet liege, gelebt, wo der Krieg gegen das "Türkenvolk" ausgetragen werde. Sie verfüge zwar über einen türkischen Personalausweis, sei jedoch kurdischer Nationalität, könne weder lesen noch schreiben noch die türkische Sprache sprechen, beherrsche jedoch zwei kurdische Dialekte. Der Grund für ihre Flucht sei in stetig zunehmenden, sich bis zur Unerträglichkeit steigernden Repressionen der "türkischen Besatzungsmacht" gelegen, die sich darin auswirkten, daß einerseits das türkische Militär mit einer gewissen Regelmäßigkeit mehr oder minder schwere Luftangriffe auf die Umgebung von K fliege, welche sich einerseits durch den Abwurf von Bomben als auch Maschinengewehrangriffen aus der Luft gegen Zivilisten ausdrücke. Einerseits werde die Bevölkerung, die im Grunde genommen nur ihren Frieden haben wolle, durch das türkische Militär bedrängt, andererseits auch durch die kurdischen Freischärler, die die Bevölkerung zum Widerstand und zur Unterstützung der Sache der PKK aufforderten. Sie selbst sei bereits mehrfach von der PKK aufgefordert worden, durch Sach- und Geldspenden sowie persönliche Mitarbeit diese Organisation zu unterstützen. Sie identifiziere sich jedoch mit den Interessen der PKK nicht, wiewohl es positiv sei, daß diese die Anliegen des kurdischen Volkes vertrete. Ihre Söhne hätten entweder die Türkei verlassen oder vor den türkischen Behörden untertauchen müssen; die türkische Behörde versuche seither, sie mit allen Mitteln dazu zu bringen, einzugestehen, Mitglied der PKK zu sein, andererseits die Aufenthaltsorte ihrer Söhne preiszugeben. Zuletzt sei die türkische Polizei drei bis viermal wöchentlich in ihrer Wohnung erschienen und habe sie sowohl zu Hause als auch auf dem Polizeirevier jeweils mehrere Stunden lang verhört, beschimpft, insbesondere auf den Kopf geschlagen, wodurch sie nicht nur andauernd unter schweren Kopfschmerzen leide, sondern auch Sehstörungen in stärkerem Ausmaß erlitten habe. Ausschlaggebend für ihre Flucht sei es letzten Endes gewesen, daß ihr von der Polizei angedroht worden sei, man werde "künftighin ihren Willen mit Gewalt beugen" und sie zusätzlich zu den Schlägen auch noch ins Gefängnis sperren. In ihrem Heimatland sei sie der Gewalt der Polizei und der Willkür aufs heftigste ausgesetzt, sie habe Angst davor, grundlos verhaftet und ohne faires Gerichtsverfahren verurteilt zu werden. Insbesondere habe sie auch Angst davor, wiederum in "gewisser Regelmäßigkeit" auf den Kopf geschlagen zu werden und dadurch Schmerzen und Sehstörungen zu erleiden. Diese in ihrem schriftlichen Asylantrag enthaltenen Angaben wiederholte die Beschwerdeführerin anläßlich ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt im wesentlichen und ergänzte, immer wieder sei nach ihren im Ausland befindlichen Söhnen gefragt worden, und zwar durch verschiedene in Zivil gekleidete Personen, die sich nicht ausgewiesen hätten, aber unzweifelhaft staatliche Organe gewesen seien. Im Mai 1994 sei von diesen mitgeteilt worden, daß der Beschwerdeführerin eine Frist von zwei Monaten eingeräumt würde, um die Aufenthaltsorte ihrer Söhne bekannt zu geben, ansonsten sie eingesperrt würde. Sie sei von diesen in Zivil gekleideten Personen auch des öfteren mit Fäusten geschlagen und gegen die Wand gestoßen worden. Sie könne zwar nicht angeben, wie oft sie geschlagen worden sei, sie habe sich aber nicht mehr sicher gefühlt. Im Jahr 1987 sei ihr Mann in Erzurum von uniformierten Soldaten derart mißhandelt worden, daß er an den Folgen dieser Folter gestorben sei. Ihr Gatte hätte als "Dorfschütze" tätig sein sollen, habe dies jedoch nicht gewollt.

Diesen Sachverhalt qualifizierte die belangte Behörde im wesentlichen dahingehend, daß die von der Beschwerdeführerin ins Treffen geführten "Verhöre und Mißhandlungen seitens der türkischen Polizei allein schon mangels Vorliegens eines der fünf in § 1 Z. 1 Asylgesetz 1991 taxativ aufgezählten Gründe, die staatlichen(r) Verfolgung erst asylrechtliche Relevanz zu verleihen vermögen, nicht geeignet" sei, die Flüchtlingseigenschaft zu indizieren:

"Die Mißhandlungen und Verhöre sollen ja erfolgt sein, um von Ihnen Informationen über Ihre Söhne zu erlangen; es wäre in diesem Fall der Grund, weswegen die Verhöre und Mißhandlungen erfolgten, lediglich in einem von den türkischen Behörden bei Ihnen vermuteten Sonderwissen über die Aktivitäten Ihrer Söhne, erworben durch den sozialen Umgang mit diesen, gelegen, und somit weder in Ihrer politischen Gesinnung noch schlechthin in der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kollektiv zu suchen. Vor allem wäre die von Ihnen behauptete Verfolgung nicht durch Ihre Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe "Familie" bedingt, da Sie, auch nach vernünftiger Auffassung der türkischen Behörden, nicht auf Grund ihrer Verwandtschaft und familiären Bindungen über dieses Sonderwissen, welches man bei Ihnen vermutete, verfügten, sondern eben auf Grund vorangegangenen sozialen Kontaktes mit Ihren Söhnen. Ihrer Behandlung wäre somit die gleiche gewesen, hätte es sich nicht um Ihre Söhne, sondern um Personen, mit denen Sie bloß amtsbekannterweise eng befreundet gewesen wären, jedoch ohne mit diesen eine "soziale Gruppe" zu bilden, gehandelt."

Die Folterung ihres Mannes im Jahre 1987 mit Todesfolgen sei keine gegen die Person der Beschwerdeführerin gerichtete Verfolgungshandlung gewesen und stünde außerdem zu ihrer Ausreise nicht mehr in ausreichendem zeitlichen Konex. Des weiteren meint die belangte Behörde:

"Überdies gehorcht eine Verfolgung eines rationalen Kosten-Nutzen-Kalkül. Es muß für staatliche Organe Grund für die Annahme bestehen, der Asylwerber sei ein Gegner des herrschenden Systems und die Verfolgung würde dem begegnen. Für den Fall, daß der Asylwerber nur in untergeordneter Rolle politisch tätig war oder allgemein kein schlüssiges Motiv für den potentiellen Verfolgerstaat feststellbar ist, erscheint eine Verfolgung nicht glaubhaft."

Des weiteren stützte sich die belangte Behörde auf den Ausschlußtatbestand des § 2 Abs. 2 Z. 3 Asylgesetz 1991 mit der Begründung, aufgrund der geographischen Lage der Türkei und der von der Beschwerdeführerin angeführten Reiseart (per Lastkraftwagen) bzw. Reisedauer (drei Tage) sei es als erwiesen anzusehen, daß sie sich nach dem Verlassen der Türkei "entweder in Bulgarien, in Griechenland oder in der Russischen Föderation aufgehalten haben" müsse, sie daher, da alle genannten Staaten Mitgliedsstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention seien, eben dort bereits Verfolgungssicherheit erlangt habe.

Dem ist folgendes zu entgegnen:

Welche Überlegungen die belangte Behörde dazu veranlaßt haben, anzunehmen, die von der Beschwerdeführerin behaupteten, immerhin zum Teil erheblichen Verletzungen, für deren Schwere das Vorhandensein sichtbarer Verletzungsfolgen nicht allein ausschlaggebend sein muß, hätten nicht jene Intensität erreicht, ihr einen Weiterverbleib in ihrem Heimatland unerträglich erscheinen zu lassen, bleibt gänzlich im Dunkeln. Die belangte Behörde hat eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob die von der Beschwerdeführerin behaupteten (von der belangten Behörde auch nicht in Abrede gestellten) Mißhandlungen und Bedrohungen eine Situation geschaffen haben, daß die Furcht der - demnach (auch) von staatlichen Behörden ihres Heimatlandes unter Druck gesetzten - Beschwerdeführerin, aus diesem Grunde verfolgt zu werden, wohlbegründet und dadurch aus objektiver Sicht ein weiterer Verbleib in ihrem Heimatland für sie unerträglich gewesen sei, unterlassen. Wenn die belangte Behörde zu diesen Mißhandlungen die Ansicht vertritt, diese seien schon mangels Vorliegens einer der in § 1 Z. 1 AsylG 1991 genannten Gründe nicht asylrelevant gewesen, kann ihr nicht gefolgt werden. Insoweit die belangte Behörde meint, diesen Mißhandlungen und Verhören fehle die Asylrelevanz, weil lediglich ein bei der Beschwerdeführerin vermutetes "Sonderwissen" Gegenstand des Interesses der türkischen Behörden gewesen sei, so ist dem zu entgegnen, daß die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerde zutreffend darauf hinweist, daß die - menschenrechtsverletzende - Art der Befragung möglicherweise ein sekundäres Ziel, nämlich die weitere Verfolgung der Söhne der Beschwerdeführerin im Auge hatte, jedoch dadurch nicht ausgeschlossen wird, daß die primäre Verfolgungshandlung gegen die Beschwerdeführerin selbst gerichtet gewesen war. Gerade der auch gegen sie erhobene Vorwurf, zumindest Sympathisantin der PKK gewesen zu sein, indiziert eine gegen die türkische Zentralregierung gerichtete politische Gesinnung, die ihr von den sie mißhandelnden staatlichen Organen offenbar unterstellt wurde.

Es trifft zwar im wesentlichen zu, daß Verfolgungshandlungen gegen die Person des jeweiligen Asylwerbers gerichtet sein muß, also in der Regel gegen Familienangehörige gerichtete Verfolgungshandlungen allein nicht von Asylrelevanz sein können, doch kann auch ein solcher Umstand zur Abrundung des Gesamtbildes bei Prüfung der Frage einer begründeten Furcht vor Verfolgung sehr wohl herangezogen werden. Im vorliegenden Fall hat die Beschwerdeführerin dies auch offenbar in diesem Sinne verstanden, hat sie doch ihre eigene Flucht auf diesen Umstand - schon zufolge des mangelnden zeitlichen Konnexes, wie dies die belangte Behörde auch zutreffend festgestellt hat - nicht gestützt. Im Rahmen der Gesamtbeurteilung können aber auch Umstände in die Betrachtung einbezogen werden, die für sich allein genommen keine Asylrelevanz aufweisen.

Das von der belangten Behörde überdies herangezogene Argument eines "rationalen Kosten-Nutzen-Kalküls" des angeblichen Verfolgungsstaates hält einer logischen Überprüfung ebenfalls nicht stand. In Gebieten der bürgerkriegsähnlichen politischen oder ethnisch-religiös bedingten Auseinandersetzungen kann an das Verhalten staatlicher Behörden nicht ohne weiteres jener Maßstab angelegt werden, der in einer gefestigten, nicht durch innere Unruhen erschütterten Demokratie angebracht erscheint. Mit welchen Mitteln ein Staat daher vermeintliche staatsgefährdende Elemente zu bekämpfen versucht, kann nicht mit Hilfe abstrakter Hypothesen beantwortet werden.

Trotz Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft wäre jedoch für die Beschwerdeführerin nichts zu gewinnen, wenn einer der Ausschlußgründe des § 2 Abs. 2 Z. 3 Asylgesetz 1991 vorläge, wonach einem Flüchtling kein Asyl gewährt wird, wenn er bereits in einem anderen Staat vor Verfolgung sicher war.

Die Beschwerdeführerin hält dem entgegen, in den - vermuteten - Durchreisestaaten sei sie keinesweges vor Verfolgung sicher gewesen, insbesondere habe kein Rückschiebeschutz in einem der genannten Staaten bestanden.

Mit diesem Vorbringen macht die Beschwerdeführerin zutreffend geltend, daß keine ausreichenden Ermittlungen gepflogen worden seien, um annehmen zu können, Bulgarien oder Griechenland oder die Russische Föderation biete - wie dies die belangte Behörde allein aufgrund der Mitgliedschaft dieser Staaten bei der Genfer Flüchtlingskonvention annahm - als Zufluchtsstaaten von ihrer effektiv geltenden Rechtsordnung her einen dem Standard der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechenden Schutz.

Diese Ausführungen sind nach Maßgabe der die Beschwerdeführerin im Verfahren treffenden Mitwirkungspflicht auch ausreichend konkretisiert, um die Wesentlichkeit der der belangten Behörde unterlaufenen Verletzungen von Verfahrensvorschriften (Parteiengehör, Ermittlungs- und Begründungspflicht) zu erkennen. Die Mitwirkungspflicht der Partei geht nicht soweit, daß sich die Behörde ein ordnungsgemäßes Verfahren ersparen könnte, zu dessen Durchführung sie (hier gemäß: §§ 11 und 16 Asylgesetz 1991 in Verbindung mit §§ 39, 45 und 60 AVG) verpflichtet ist. Der Mitwirkungspflicht kommt dort Bedeutung zu, wo es der Behörde nicht möglich ist, von sich aus und ohne Mitwirkung der Partei tätig zu werden. Dies trifft auf die in den genannten Staaten beobachtete Vorgangsweise betreffend den Schutz von Flüchtlingen vor Rückschiebung in ihren Heimatstaat nicht zu (vgl. hiezu hg. Erkenntnis vom 26. Jänner 1995, Zl. 94/19/0413, und die dort wiedergegebene Judikatur).

Der Beschwerdeführerin hat diese Einwendung zwar erstmals in der Beschwerde erhoben, doch wurde ihr im Verwaltungsverfahren - das Bundesasylamt hat diesen Ausschließungsgrund nicht herangezogen - nicht Gelegenheit geboten, zur Frage der Verfolgungssicherheit in diesen Staaten Stellung zu nehmen, weshalb ihre Rüge, es lägen in dieser Hinsicht Verfahrensverletzungen vor, berechtigt ist. Daraus ergibt sich auch weiters, daß die Beschwerdeführerin mit diesem Vorbringen nicht dem gemäß § 41 Abs. 1 VwGG im verwaltungsgerichtlichen Verfahren geltenden Neuerungsverbot unterliegt. Im übrigen hätte es einer konkreten Feststellung bedurft, durch welche Länder die Beschwerdeführerin tatsächlich gereist ist und ob dort eine Asylantragstellung möglich und zumutbar gewesen wäre; bloße Vermutungen reichen für die Heranziehung dieses Ausschließungsgrundes nicht aus.

Die belangte Behörde hat damit Verfahrensvorschriften verletzt, bei deren Einhaltung sie zu einem anderen Bescheid hätte gelangen können. Da aber die bereits aufgezeigte Rechtswidrigkeit des Inhaltes jener infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vorgeht, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 4 VwGG abgesehen werden.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

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