VwGH 94/19/0384

VwGH94/19/038415.9.1994

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Herberth und die Hofräte Dr. Kremla, Dr. Stöberl, Dr. Holeschofsky und Dr. Blaschek als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Klebel, über die Beschwerden

1. des J F und 2. der L A, mit ihren minderjährigen Kindern H F und E F, sämtliche in W und sämtliche vertreten durch Dr. V, Rechtsanwältin in W, gegen die Bescheide des Bundesministers für Inneres vom 19. Mai 1993, Zl. 4.331.553/2-III/13/92, betreffend Asylgewährung, zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 1991 §1 Z1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 1991 §1 Z1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführern Aufwendungen in der Höhe von je S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit jeweils im Instanzenzug gemäß § 66 Abs. 4 AVG ergangenen Bescheiden des Bundesministers für Inneres vom 19. Mai 1993 wurden die Berufungen der Beschwerdeführer gegen Bescheide der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 7. September 1992 - mit denen jeweils festgestellt worden war, daß bei den Beschwerdeführern die Voraussetzungen für ihre Anerkennung als Flüchtling nicht vorlägen - abgewiesen und ausgesprochen, daß Österreich den Beschwerdeführern - beide Staatsangehörige der früheren UdSSR, die am 7. Oktober 1991 mit ihren minderjährigen Kindern in das Bundesgebiet einreisten und am 18. November 1991 Asylanträge gestellt haben - kein Asyl gewähre.

Gegen diese Bescheide richten sich die vorliegenden, vom jeweiligen Beschwerdeführer in Ansehung des ihn betreffenden Bescheides erhobenen Beschwerden, über die der Verwaltungsgerichtshof - nach Verbindung zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung wegen ihres sachlichen und persönlichen Zusammenhanges - erwogen hat:

Die belangte Behörde ist in der Begründung der angefochtenen Bescheide davon ausgegangen, daß von ihr bereits das Asylgesetz 1991 anzuwenden sei, dies im Hinblick auf die Bestimmung des § 25 Abs. 2, erster Satz dieses Gesetzes, weil die beiden gegenständlichen Asylverfahren "am bzw. nach dem 1. Juni 1992 beim Bundesministerium für Inneres anhängig waren". Diese Auffassung trifft aber - wie der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 31. März 1993, Zl. 92/01/0831, auf welches des näheren gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, ausführlich dargelegt hat - aufgrund der Auslegung der genannten Bestimmung so wie der des § 25 Abs. 1, erster Satz AsylG 1991 nicht zu. Dies führt allerdings noch nicht zwangsläufig dazu, daß die Beschwerdeführer durch die angefochtenen Bescheide in ihren Rechten verletzt wurden. Die belangte Behörde hat zwar ihre Entscheidungen auch darauf gestützt, daß bei den Beschwerdeführern jeweils der Ausschließungsgrund des § 2 Abs. 2 Z. 3 AsylG 1991 gegeben sei, wonach einem Flüchtling kein Asyl gewährt wird, wenn er bereits in einem anderen Staat vor Verfolgung sicher war. Auf dem Boden der von ihr anzuwendenden alten Rechtslage hätte die belangte Behörde von diesem Aussschließungsgrund zu ungunsten der Beschwerdeführer aber keinen Gebrauch machen können, weil dem Asylgesetz (1968) - demzufolge in solchen Verfahren lediglich die bescheidmäßige Feststellung zu treffen war, ob der Betreffende als Flüchtling im Sinne dieses Gesetzes anzusehen sei oder nicht - eine derartige Bestimmung fremd war (vgl. die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 17. Juni 1993, Zl. 92/01/1007, und vom 27. Jänner 1994, Zlen. 93/01/0441, 0442). Die belangte Behörde ist aber zu ihren abweislichen Entscheidungen schon deshalb gelangt, weil sie jeweils die Flüchtlingseigenschaft der Beschwerdeführer gemäß § 1 Z. 1 Asylgesetz 1991 verneint hat, welche Bestimmung keine inhaltliche Änderung gegenüber dem nach § 1 Asylgesetz (1968) in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention geltenden Flüchtlingsbegriff darstellt (vgl. unter anderem die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 26. Jänner 1994, Zl. 93/01/0291, und vom 27. April 1994, Zl. 93/01/0487).

Der Erstbeschwerdeführer hat bei seiner niederschriftlichen Vernehmung durch die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich am 25. November 1991 hinsichtlich seiner Fluchtgründe im wesentlichen angegeben, er dürfe seine jüdische Religion (in Usbekistan) nicht ausüben. Am 19. August 1991 habe in der (früheren) UdSSR ein Putsch stattgefunden; Usbekistan habe sich damals für unabhängig erklärt. Die neue Regierung (in Usbekistan) verbiete den jüdischen Glauben. Seit dieser Zeit werde (er und) seine Familie bedroht. In den ersten Tagen der Unabhängigkeit sei ihm von moslemischen Mitbürgern unter Androhung der Ermordung "geraten worden", entweder seine Religion zu wechseln oder das Land zu verlassen. Er sei auf der Straße von Moslems geschlagen und diskriminiert worden. Während er nicht zu Hause gewesen sei, habe seine Ehefrau (die Zweitbeschwerdeführerin) Drohanrufe und Beschimpfungen erhalten. Da er seine Religion nicht ändern könne und auch nicht wolle, habe er mit seiner Familie das Land verlassen müssen.

Die Zweitbeschwerdeführerin hat bei ihrer ebenfalls am 25. November 1991 durch die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich durchgeführten niederschriftlichen Vernehmung auf die von ihrem Ehegatten (dem Erstbeschwerdeführer) vorgebrachten Fluchtgründe verwiesen und ergänzend ausgeführt, sie werde seit der Unabhängigkeit Usbekistans ebenso wie der Erstbeschwerdeführer von Moslems terrorisiert. Sie habe wegen ihres jüdischen Glaubens ständig Drohanrufe erhalten. Wegen des jüdischen Glaubens der Familie sei ihr Kind auf der Straße geschlagen worden; dem Kind sei auch die Nase eingeschlagen worden. Der Familie ("uns") sei das Leben wegen ihres Gaubens unerträglich gemacht worden.

In seiner Berufung hat der Erstbeschwerdeführer in tatsächlicher Hinsicht (zusammengefaßt) vorgebracht, er sei seit dem Beginn der antisemitischen Bewegung in seiner Heimat Usbekistan aufgrund seiner jüdischen Herkunft der Verfolgung aus Gründen der Nationalität, Rasse und Religion ausgesetzt gewesen. Er sei von moslemischen Mitbürgern gedemütigt, verspottet und fallweise körperlich mißhandelt worden. Nach Verhängung des Ausnahmezustandes im Februar 1990 habe sich der Ausländer- und Minderheitenhaß verstärkt. Als Jude habe man seither in Usbekistan kein geordnetes Leben mehr führen können. Die (am 19. August 1991 an die Macht gekommene) neue Regierung Usbekistans verbiete den Juden die Religionsausübung. Seither werde er vehement und immer aggresiver - bis zur Ermordnung gehend - bedroht. Er sei auf offener Straße zusammengeschlagen, mißhandelt und zur Aufgabe seines Glaubens genötigt worden. Die Behörden (in Usbekistan) würden den Beschwerdeführer jedoch keinen Schutz gewähren und bei Übergriffen nicht einschreiten da die nationalistische Politik von den Behörden gefördert und auch getragen werde; die Behörden würden sich aus "sehr nationalistischen Leuten" rekrutieren.

Die Zweitbeschwerdeführerin hat in ihrer Berufung im wesentlichen gleichlautend wie ihr Ehegatte und darüber hinaus ergänzend vorgebracht, sie habe ungefähr seit einem Monat vor ihrer Ausreise telefonische Drohungen (auch gegen ihre Familie) erhalten. An ihrem Arbeitsplatz sei sie bedroht und gedemütigt worden. Ihre Kinder seien geschlagen und mißhandelt worden. Da Juden (weiblichen Geschlechts) die nach moslemischen Riten vorgeschriebene Verschleierung nicht praktizierten, seien Juden (weiblichen Geschlechts) bereits äußerlich als solche zu erkennen und würden gedemütigt. Ihre jüdische Abstammung sei ferner im Paß eingetragen, weshalb die Zweitbeschwerdeführerin am Arbeitsplatz und bei allen öffentlichen Stellen mit Beleidigungen und Drohungen zu rechnen habe; wenn sie von den Behörden Hilfe verlange, werde ihr diese verweigert. Die Übergriffe (die datumsmäßig nicht mehr genau anzugeben seien) hätten in den letzten Monaten vor der Flucht vermehrt stattgefunden.

Die belangte Behörde begründete ihre abweislichen Bescheide (soweit sie sich mit der Flüchtlingseigenschaft auseinandersetzt) im wesentlichen damit, die Beschwerdeführer hätten nicht dargetan, daß ihnen wegen ihrer Religionsausübung staatliche Verfolgungshandlungen drohen würden. Die von den Beschwerdeführern geltend gemachten Verfolgungen wertete die belangte Behörde als "Übergriffe durch Private", die aber als strafbare Handlungen von den Strafverfolgungsbehörden (in Usbekistan) geahndet würden.

Die Ansicht der belangten Behörde, daß die "Übergriffe durch Private" von den staatlichen Behörden nicht geduldet, sondern von Strafverfolgungsbehörden "geahndet werden", erweist sich bloß als Vermutung, für die konkrete Beweisergebnisse im angefochtenen Bescheid nicht angegeben werden. Die dem vorerwähnten Vorbringen der Beschwerdeführer entgegengesetzten Annahmen der belangten Behörde finden somit weder Deckung in einem ordentlichen Ermittlungsverfahren noch wurden sie den Beschwerdeführern vorgehalten. Die in diesem Zusammenhang dargelegte Ansicht der belangten Behörde, es könne "von keinem Staat verlangt werden, jeden Staatsbürger jederzeit umfassend zu schützen" bzw. "es liege außerhalb der Möglichkeiten eines Staates, jeden denkbaren Übergriff Dritter präventiv zu verhindern", kann nicht als nachvollziehbare (schlüssige) Auseinandersetzung mit dem von den Beschwerdeführern erstatteten Vorbringen angesehen werden.

Die belangte Behörde vertritt ferner die Auffassung, der Erstbeschwerdeführer habe nicht ausreichend dargetan, daß er bei den Behörden seines Heimatlandes Schutz gesucht habe bzw. das ihm dieser Schutz verweigert worden sei. Dem in der Berufung erstatteten Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin, daß ihr von den Behörden ihres Heimatlandes tatsächlich der Schutz verweigert werde, spricht die belangte Behörde die Glaubwürdigkeit ab, weil die Zweitbeschwerdeführerin darüber in ihrer niederschriftlichen Befragung keine Angaben gemacht habe.

Für die Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft beider Beschwerdeführer ist (unter Zugrundelegung ihrer gesamten im Asylverfahren gemachten Angaben) gemäß Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention maßgebend, ob sie sich aus wohlbegründeter Furcht aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb ihres Heimatlandes (hier: Usbekistan) befinden und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt sind, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Dem Vorbringen beider Beschwerdeführer ist nun unmißverständlich zu entnehmen, daß ihre Furcht vor Verfolgung aus ihrem mosaischen Glauben und aus ihrer davon nicht zu trennenden Zugehörigkeit zur jüdischen Nationalität resultiert. Ferner haben die Beschwerdeführer auch hinreichend deutlich dargelegt, daß in ihrem Heimatland Usbekistan jüdische Mitbürger wegen dieser Zugehörigkeit zum mosaischen Glauben und zur jüdischen Nationalität systematischer Verfolgung durch die moslemische Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt seien. Die Beschwerdeführer haben ferner deutlich vorgebracht, daß die Inanspruchnahme staatlichen Schutzes gegen diese "antisemitische Bewegung" deshalb aussichtslos gewesen sei, weil in Usbekistan die jüdische Religion verboten und die nationalistische (moslemische) Politik von den Behörden gefördert bzw. auch getragen werde.

Über diese Umstände hat die belangte Behörde jedoch kein Ermittlungsverfahren durchgeführt, sondern auf die in den Berufungen beantragten Beweismittel mit der Begründung verzichtet, aus diesen könne bloß "die allgemeine Situation der Juden in ihrem Heimatland entnommen werden" bzw. eine ergänzende Vernehmung der Beschwerdeführer sei deshalb nicht notwendig, weil der maßgebliche Sachverhalt "bereits erschöpfend dargelegt worden sei". Bei diesen Erwägungen übersieht die belangte Behörde jedoch, daß nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Annahme wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung aus Konventionsgründen nicht nur voraussetzt, daß ein Asylwerber individuell gegen ihn gerichtete Verfolgung (Einzelverfolgung) erlitten hätte oder ihm zumindestens konkret angedroht worden wäre, sondern daß eine solche Befürchtung auch dann gerechtfertigt wäre, wenn aufgrund der Verhältnisse im Heimatland der beiden Beschwerdeführer davon gesprochen werden müßte, daß systematisch eine Gruppenverfolgung (hier: von Juden in Usbekistan) aus Konventionsgründen erfolgt, weil die Beschwerdeführer dadurch der Gefahr ausgesetzt wären, davon unmittelbar betroffen zu sein. Für den Standpunkt der Beschwerdeführer wäre daher - ohne daß auf gegen sie konkret gerichtet gewesene Verfolgungshandlungen im einzelnen noch eingegangen zu werden braucht - daher selbst dann bereits etwas zu gewinnen, wenn das Vorbringen ihrer Berufungen bloß deutliche Hinweise darauf enthalten hätten, daß für sie eine daraus resultierende Verfolgungsgefahr von erheblicher Intensität bestanden habe (vgl. das hg. Erkenntnis vom 20. Mai 1994, Zl. 93/01/0210, mit weiteren Judikaturnachweisen). Die belangte Behörde wird daher nicht umhin können, unter Bedachtnahme auf die im angefochtenen Bescheid zu Unrecht als unwesentlich erachteten Beweismittel zu ermitteln und festzustellen, ob eine von der moslemischen Bevölkerungsmehrheit ausgehende Verfolgung (Bedrohung) von Juden in Usbekistan seitens der staatlichen Stellen geduldet wurde bzw. ob die Behauptungen der Beschwerdeführer zutreffen, daß ihr Heimatstaat Usbekistan weder willens noch in der Lage gewesen sei, ihnen wirksamen Schutz vor Verfolgung durch die moslemische Bevölkerungsmehrheit zu bieten (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 23. April 1986, Zl. 84/01/0200, vom 8. März 1989, Zl. 88/01/0160, und vom 17. Oktober 1990, Zl. 90/01/0137).

Da die belangte Behörde somit Verfahrensvorschriften außer acht gelassen hat, bei deren Einhaltung sie zu einem anderen Bescheid hätte gelangen können, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Pauschalierungsverordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 416/1994, insbesonders deren Art. III.

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