VfGH G85/93

VfGHG85/9320.6.1994

Keine Aufhebung der Regelung des ASVG betreffend die Rückforderung ungebührlich entrichteter Beiträge; Schließung der Gesetzeslücke hinsichtlich der Frage der Verzinsung im Wege der Analogie aufgrund des Gebotes einer verfassungskonformen Lösung; Verpflichtung zur Leistung von Vergütungszinsen mit bereicherungsrechtlichem Charakter auch ohne ausdrückliche Regelung; Wegfall jeglichen Rechtsschutzes bei Aufhebung der fraglichen Regelung

Normen

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
ASVG §59
ASVG §69 Abs1
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
ASVG §59
ASVG §69 Abs1

 

Spruch:

§69 Abs1 des Bundesgesetzes vom 9. September 1955, BGBl. Nr. 189/1955, über die Allgemeine Sozialversicherung (Allgemeines Sozialversicherungsgesetz - ASVG) idF BGBl. Nr. 676/1991 wird nicht als verfassungswidrig aufgehoben.

Im übrigen wird das Gesetzesprüfungsverfahren eingestellt.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1. Beim Verfassungsgerichtshof ist zu B995/92 ein Verfahren über eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde anhängig, die sich gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Tirol vom 17. Juni 1992, ZVd-3997/2, wendet, mit welchem die Berufung gegen einen Bescheid der Tiroler Gebietskrankenkasse abgewiesen worden war. Diese hatte mit ihrem Bescheid den Antrag des Beschwerdeführers, Vergütungszinsen für zu Unrecht geleistete Beitragsnachzahlungen (der Betrag wurde bereits rücküberwiesen) vom Zahlungstag, dem 24. Jänner 1983, bis zum Tag der Umbuchung eines Teilbetrages am 21. August 1984 sowie bis zur Rückzahlung des Restbetrages am 22. März 1992 zu bezahlen, abgelehnt.

2. Bei der Beratung über die Beschwerde sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit des §59 Abs1 des Bundesgesetzes vom 9. September 1955, BGBl. Nr. 189/1955, über die Allgemeine Sozialversicherung (Allgemeines Sozialversicherungsgesetz - ASVG) idF BGBl. Nr. 585/1980 und des §69 Abs1 ASVG idF BGBl. Nr. 676/1991 entstanden.

Der Verfassungsgerichtshof hat daher mit Beschluß vom 11. März 1993, B995/92-7, ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmungen eingeleitet.

3. Der Verfassungsgerichtshof ging davon aus, daß der in Prüfung gezogene §69 Abs1 ASVG bei Erlassung des angefochtenen Bescheides angewendet wurde und auch von ihm bei Beurteilung der an ihn gerichteten Beschwerde anzuwenden sei. Der Verfassungsgerichtshof ging weiters davon aus, daß für die Beurteilung des Inhaltes des §69 Abs1 auch §59 Abs1 ASVG anzuwenden sein dürfte. Er meinte, daß insofern zwischen der Regelung des §69 Abs1 ASVG und der weiters in Prüfung gezogenen Bestimmung des §59 Abs1 ASVG ein untrennbarer innerer Zusammenhang bestehe, sodaß hinsichtlich beider in Prüfung gezogenen Regelungen die Präjudizialität vorzuliegen scheine. Der Verfassungsgerichtshof äußerte gegen die in Prüfung gezogenen Bestimmungen folgende Bedenken:

"Der Verfassungsgerichtshof hat im Erkenntnis

VfSlg. 12020/1989 unter Hinweis auf VfSlg. 8467/1978 für den die Rückzahlung von Abgabenguthaben betreffenden §239 BAO den Schluß gezogen, daß aus dem Fehlen einer Aussage über die Pflicht zur Zahlung von Verzugszinsen angesichts der ausdrücklichen Regelung des §212 BAO über Stundungszinsen abzuleiten ist, daß im Falle der Rückzahlung von Guthaben nach §239 BAO Verzugszinsen nicht gebühren, der Gesetzgeber vielmehr insofern eine abschließende Regelung getroffen habe.

Im ähnlichen Sinne wird im Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. April 1988, Z86/08/0166, zu §69 Abs1 ASVG ausgeführt:

'Der §69 Abs1 ASVG stellt nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes eine abschließende Regelung dar. Hätte der Gesetzgeber dabei einen Anspruch auf Verzinsung der bezahlten Beiträge einräumen wollen, so hätte er dies ausdrücklich zum Ausdruck bringen müssen. Dies ergibt sich insbesondere daraus, daß der Gesetzgeber in anderen Fällen (vgl. §59 Abs1 oder §63 Abs2 ASVG) die Entrichtung von Verzugszinsen ausdrücklich vorsieht.'

Auch der Verfassungsgerichtshof nimmt vorläufig an, daß der Gesetzgeber, wie sich aus einer Zusammenschau beider in Prüfung gezogenen Bestimmungen zu ergeben scheint, eine abschließende Regelung dermaßen getroffen haben dürfte, daß wohl vom Beitragspflichtigen unter den Voraussetzungen des §59 Abs1 ASVG Verzugszinsen zu zahlen sind, andererseits jedoch dem rückforderungsberechtigten Beitragsgläubiger kein Anspruch auf Vergütungszinsen zustehen dürfte. Trifft dies aber zu, so ist dem Verfassungsgerichtshof nicht einsichtig, woraus sich die zinsenmäßig unterschiedliche Regelung für zu Unrecht nicht entrichtete Beiträge einerseits und für zu Ungebühr entrichtete Beiträge andererseits rechtfertigen könnte, wobei zu bemerken ist, daß die BAO anders als das ASVG keine Verzugszinsen vorsieht, sondern nur Säumniszuschläge, Stundungs- und Aussetzungszinsen.

Die in Prüfung gezogenen Bestimmungen scheinen daher mit Gleichheitswidrigkeit belastet zu sein."

Der Verfassungsgerichtshof hegte somit das Bedenken, daß die in Prüfung gezogene Regelung mit dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz in Widerpruch stehe.

4. Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie die Verfassungsmäßigkeit der in Prüfung gezogenen Bestimmungen wie folgt verteidigt:

"...

1. Zunächst ausgehend von der Prämisse des Verfassungsgerichtshofes, daß der Gesetzgeber in §69 Abs1 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG) eine abschließende Regelung getroffen habe, werden folgende Gründe ins Treffen geführt, die für eine sachliche Rechtfertigung der zinsenmäßig unterschiedlichen Regelung für zu Unrecht nicht entrichtete Beiträge einerseits und für zu Ungebühr entrichtete Beiträge andererseits sprechen könnten:

Während es sich im ersten Fall um eine tatsächlich geschuldete Leistung handelt, die zu fordern der Sozialversicherungsträger berechtigt und zu deren rechtzeitiger Erbringung der Versicherte - im Bereich des ASVG der Dienstgeber (vgl. §58 Abs2 leg.cit.) - verpflichtet ist, liegt im zweiten Fall eine rechtsgrundlose Vermögensverschiebung vor.

Das Institut der Verzugszinsen steht also im engen Zusammenhang mit den sich aus einem (im allgemeinen bürgerlich-rechtlichen) Austauschverhältnis ergebenden Rechten und Pflichten der daran Beteiligten. Verzugszinsen kommt daher - neben einer bereicherungsrechtlichen Funktion - die Bedeutung zu, in einem Austauschverhältnis stehende Personen zur ordnungsgemäßen Erfüllung ihrer Pflichten anzuhalten.

Dieser Aspekt spielt im sozialversicherungsrechtlichen Schuldverhältnis im Hinblick auf die weitgehende Unabhängigkeit der Leistungspflichten des Sozialversicherungsträgers von auftretenden Störungen im Beitragsrecht als Auswirkung des Schutzzweckes des Sozialversicherungsrechtes eine wesentliche Rolle. Die Verzugszinsen stellen daher als spezielle Sanktion gegen einen säumigen Schuldner eine adäquate Reaktion auf Störungen in der Erfüllung der Beitragspflicht dar. Dies insbesondere auch deshalb, weil Sozialversicherungsverhältnisse ex lege entstehen und der Disposition der Beteiligten weitgehend entzogen sind. Dies bringt es mit sich, daß die Sozialversicherungsträger keinen Einfluß darauf haben, wer ihr Schuldner ist und wann und in welcher Höhe Beitragsforderungen entstehen. Ungeachtet dessen sind die Sozialversicherungsträger gesetzlich verpflichtet, Leistungen zu erbringen. Da die Sozialversicherung im Wege des Umlageverfahrens finanziert wird, ist es für die Aufrechterhaltung und die Sicherstellung der finanziellen Leistungsfähigkeit entscheidend, die Beiträge (rechtzeitig) einzubringen. Im Hinblick auf den spezifischen Schutzzweck des Sozialversicherungsrechtes sind die Beitragspflichten dem Schuldner im öffentlichen Interesse auferlegt. Die Regelung über die Verzugszinsen dient sohin der Sicherung der Durchsetzung dieses öffentlichen Interesses.

Der in §59 Abs1 ASVG geregelte Tatbestand ist daher nicht mit dem in §69 ASVG geregelten vergleichbar, weil in einem Fall eine Leistungsstörung (Verletzung einer aus einem Schuldverhältnis resultierenden (Beitrags)Pflicht) vorliegt, während es im anderen Fall um die Rückabwicklung einer rechtsgrundlosen Vermögensverschiebung geht, also eine Fehlleistung vorliegt. Für eine gleichhheitsrechtliche Beurteilung können daher §59 Abs1 ASVG einerseits und §69 Abs1 ASVG andererseits nicht gegenübergestellt werden. Eine vom geregelten Sachverhalt her mit §69 Abs1 ASVG vergleichbare Regelung findet sich in §107 ASVG betreffend die Rückforderung zu Ungebühr erbrachter Leistungen, wobei in diesem Zusammenhang - so wie in §69 Abs1 ASVG - keine (Vergütungs)Zinsen vorgesehen sind.

2. Abgesehen davon, daß also §59 und §69 ASVG durchaus Unterschiedliches regeln, ist die unterschiedliche Rechtsfolge auch damit rechtfertigbar, daß der Beitragsschuldner keine bescheidmäßig vorgeschriebenen Leistungen zu erbringen hat, vielmehr selbst die Beitragshöhe aufgrund gesetzlicher Vorschriften zu berechnen hat. Im Hinblick auf die oben dargestellte Eigenart der Sozialversicherungsverhältnisse erscheint es gerechtfertigt, den Beitragspflichtigen zur besonderen Genauigkeit zu motivieren. Dies geschieht dadurch, daß er im Falle der Säumigkeit den wirtschaftlichen Nachteil der Verzugszinsen und im Falle einer zu Unrecht erbrachten Leistung den wirtschaftlichen Nachteil von entgangenen Zinsen zu tragen hat.

Würde der Gesetzgeber hingegen dem Beitragsschuldner einen Zinsanspruch für zu Ungebühr entrichtete Beiträge einräumen, so könnte dies im Hinblick auf die erzielbaren Zinsvorteile - wenn man davon ausgeht, daß der Zinssatz jenem entsprechen müßte, der aufgrund des §59 ASVG festgelegt wird - einen Anreiz zur Zahlung nicht geschuldeter Beiträge bilden. Den damit bewirkten finanziellen Nachteilen könnten die Sozialversicherungsträger nur mit einem erheblichen Mehraufwand begegnen.

3. Schließlich ist noch zu bemerken, daß selbst nach bürgerlichem Recht durch den bloßen Besitz eines Betrages, der nicht fruchtbringend angelegt oder verwendet wurde, kein Vorteil entsteht, dessen Ersatz berechtigterweise verlangt werden könnte, es sohin keinen allgemeinen Bereicherungsanspruch gibt (vgl. OGH 11.10.1978, 1 Ob 686/78, EvBl. 1979/84).

4. Für den Fall, daß der Verfassungsgerichtshof keine sachlichen Gründe für die unterschiedliche Behandlung der vom §59 Abs1 ASVG einerseits und vom §69 Abs1 ASVG andererseits erfaßten Fälle sieht, erachtet die Bundesregierung den unter Pkt. 1 angeführten Unterschied zwischen den beiden Regelungsgegenständen zumindest für soweit relevant, als er die Annahme einer Lücke, die - im Hinblick auf das Gebot einer verfassungskonformen Interpretation - durch die privatrechtlichen Bestimmungen über ungerechtfertigte Bereicherung zu schließen ist, zuläßt.

..."

5. Die in Prüfung gezogenen Bestimmungen lauten:

"Verzugszinsen

§59. (1) Werden Beiträge nicht innerhalb von elf Tagen nach der Fälligkeit eingezahlt, so sind von diesen rückständigen Beiträgen, wenn nicht gemäß §113 Abs1 ein Beitragszuschlag vorgeschrieben wird, Verzugszinsen in einem Hundertsatz der rückständigen Beiträge zu entrichten. Der Hundertsatz darf 8,5 v.H. nicht unterschreiten und 14 v.H. nicht überschreiten und ist innerhalb dieses Rahmens durch Verordnung unter Bedachtnahme auf den jeweiligen Nominalzinssatz für Bundesanleihen festzusetzen. Für rückständige Beiträge aus Beitragszeiträumen, die vor dem Wirksamkeitsbeginn einer Festsetzung des Hundertsatzes liegen, sind die Verzugszinsen, soweit sie in diesem Zeitpunkt nicht bereits vorgeschrieben sind, mit dem jeweils neu festgesetzten Hundertsatz zu berechnen. §108 Abs3 der Bundesabgabenordnung, BGBl. Nr. 194/1961, gilt entsprechend. Für die Berechnung der Verzugszinsen können die rückständigen Beiträge auf volle 10 S abgerundet werden."

"Rückforderung ungebührlich entrichteter Beiträge

§69. (1) Zu Ungebühr entrichtete Beiträge können, soweit im folgenden nichts anderes bestimmt wird, zurückgefordert werden. Das Recht auf Rückforderung verjährt nach Ablauf von fünf Jahren nach deren Zahlung. Der Lauf der Verjährung des Rückforderungsrechtes wird durch Einleitung eines Verwaltungsverfahrens zur Herbeiführung einer Entscheidung, aus der sich die Ungebührlichkeit der Beitragsentrichtung ergibt, bis zu einem Anerkenntnis durch den Versicherungsträger bzw. bis zum Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung im Verwaltungsverfahren unterbrochen."

6. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

6.1. Das Verfahren hat nichts ergeben, was gegen die Richtigkeit der vorläufigen Annahme des Einleitungsbeschlusses spricht, daß der in Prüfung gezogenen Regelung des §69 Abs1 ASVG Präjudizialität im Sinne des Art140 Abs1 B-VG zukommt. Auch die sonstigen Prozeßvoraussetzungen liegen vor, sodaß insofern das Gesetzesprüfungsverfahren zulässig ist.

Demgegenüber kann der Verfassungsgerichtshof seine Annahme, daß auch §59 Abs1 ASVG Präjudizialität zukommt, nicht weiter aufrecht erhalten. Daß für die Ermittlung des Inhaltes des §69 Abs1 ASVG auch §59 Abs1 ASVG herangezogen werden muß, trifft wohl zu. Dies bewirkt jedoch - worauf die Bundesregierung im Ergebnis richtig verweist - nicht, daß ein untrennbarer Zusammenhang zwischen den beiden in Prüfung gezogenen Bestimmungen besteht. Da §59 Abs1 ASVG bei Erlassung des angefochtenen Bescheides nicht angewendet wurde und auch der Verfassungsgerichtshof diese Bestimmung bei Beurteilung der an ihn gerichteten Beschwerde nicht anzuwenden haben wird, kommt - da die Annahme eines untrennbaren inneren Zusammenhanges nicht aufrecht erhalten werden kann - §59 Abs1 ASVG Präjudizialität im Sinne des Art140 Abs1 B-VG nicht zu. Insofern ist das Gesetzesprüfungsverfahren daher einzustellen.

6.2. Die aufgeworfenen Bedenken träfen - wie in der Folge dargelegt wird -, wenn §69 Abs1 ASVG eine abschließende Regelung enthielte, tatsächlich zu.

§69 Abs1 ASVG regelt die Rückforderung ungebührlich entrichteter Beiträge. Eine Verpflichtung zur Verzinsung von Beiträgen, die zu Unrecht vereinnahmt und daher rückzuzahlen sind, für die Zeit bis zur Rückleistung ist durch die in Prüfung gezogene Regelung nicht angeordnet.

Daraus und aus der Regelung des §59 Abs1 ASVG, wonach der Beitragsschuldner im Falle der Säumnis Verzugszinsen zu leisten hat, haben der Verfassungsgerichtshof in seinem Einleitungsbeschluß und der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 14. April 1988, Z86/08/0166, abgeleitet, daß die in Prüfung gezogene Regelung eine abschließende ist und demnach den rückleistungspflichtigen Sozialversicherungsträger auch nach den Regeln des Bereicherungsrechtes Vergütungszinsen nicht treffen. Auch die Bundesregierung geht primär von dieser Auffassung aus. Die Bundesregierung führt zur Rechtfertigung dafür, daß im Falle einer Verpflichtung zur Rückzahlung von zu Ungebühr entrichteten Beiträgen an den Rückforderungsberechtigten Zinsen nicht zu entrichten sind, ins Treffen, daß ein Zinsenanspruch des Beitragsschuldners - wenn man davon ausgeht, daß der Zinssatz jenem entsprechen würde, der aufgrund des §59 ASVG festgelegt wird - geradezu einen Anreiz zur Zahlung nicht geschuldeter Beiträge bilden würde. Die Bundesregierung meint weiters zur Rechtfertigung, daß der Beitragsschuldner nach dem ASVG keine bescheidmäßig vorgeschriebenen Leistungen zu erbringen hat, sondern vielmehr selbst die Beitragshöhe aufgrund gesetzlicher Vorschriften zu berechnen habe. Im Hinblick auf diese Eigenart der Sozialversicherungsverhältnisse erscheine es gerechtfertigt, den Beitragspflichtigen zur besonderen Genauigkeit dadurch zu motivieren, daß er im Falle der Säumigkeit den wirtschaftlichen Nachteil der Verzugszinsen und im Falle einer zu Unrecht erbrachten Leistung den wirtschaftlichen Nachteil der entgangenen Zinsen zu tragen habe.

Bei diesen Überlegungen übersieht die Bundesregierung, daß - wie im Anlaßfall - die Entrichtung der Beiträge auch aufgrund eines Beitragsnachzahlungsbescheides erfolgt sein konnte, der sich nachträglich als nicht rechtsbeständig erwiesen hat. In solchen Fällen könnte dem Beitragsschuldner jedoch nicht entgegengehalten werden, daß der Entfall von Zinsen für die zu Unrecht vorgeschriebenen und deshalb erbrachten Leistungen gerechtfertigt sei, weil damit der Beitragspflichtige zu besonderer Genauigkeit motiviert würde.

Auch sonst findet sich keine Rechtfertigung dafür, daß Beitragsschuldner einerseits nach §59 Abs1 ASVG Verzugszinsen zu zahlen haben, wenn sie ihrer Verpflichtung zur Beitragsleistung im Falle der Säumigkeit nicht entsprechen, sie andererseits aber für Leistungen, die sie aufgrund eines nicht rechtsbeständigen Bescheides zur Entrichtung von Beitragsnachzahlungen zu erbringen hatten, Zinsen für den Zeitraum der Leistung bis zur Rückleistung der zu Unrecht in Anspruch genommenen Beiträge nicht verlangen können.

Wenn sich die Bundesregierung zur Rechtfertigung der Regelung schließlich darauf beruft, daß selbst nach bürgerlichem Recht durch den bloßen Besitz eines Betrages, der nicht fruchtbringend angelegt oder verwendet wurde, kein Vorteil entsteht, dessen Ersatz berechtigterweise verlangt werden könnte, wozu sie auf OGH 11.10.1978, 1 Ob 686/78, EvBl. 1979/84 verweist, übersieht sie, daß diese Aussage nur im Zusammenhang damit getroffen wurde, daß es nach der österreichischen Rechtsordnung keinen allgemeinen Bereicherungsanspruch gibt.

Gerade darum geht es aber nicht, wenn die Leistung aufgrund einer nicht rechtsbeständigen Entscheidung einer Behörde zu erbringen war. Der Oberste Gerichtshof hat hiezu vielmehr ausgesagt (OGH 24.4.1991, 9 Ob A42/91, EvBl. 1991/138), daß im Fall einer Kondiktion, sofern der Empfänger die Sache vom Rückforderer ohne Gegenleistung erlangt hat, kein ausreichender Grund besteht, dem Empfänger die Früchte zu belassen. Als derartige Nutzungen - heißt es weiters - sind im Falle einer wegen mangelnden Rechtsgrundes zurückzuerstattenden Geldsumme Vergütungszinsen in Höhe der gesetzlichen Zinsen anzusehen.

Da §69 Abs1 ASVG hinsichtlich der Frage der Verzinsung für Fälle, in denen ein Beitragspflichtiger Leistungen aufgrund eines nicht rechtsbeständigen Bescheides zu erbringen hatte, die vom Empfänger zurückzuzahlen sind, keine Aussage enthält, verweist die Bundesregierung zur Vermeidung der Verfassungswidrigkeit auf die Möglichkeit der Annahme einer Regelungslücke, die im Hinblick auf das Gebot einer verfassungskonformen Interpretation durch die privatrechtlichen Bestimmungen über die Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen bei ungerechtfertigter Bereicherung zu schließen wäre.

Der Verfassungsgerichtshof hat wohl im Einleitungsbeschluß auf seine Vorjudikatur (VfSlg. 12020/1989 mit Hinweis auf VfSlg. 8467/1978) verwiesen, nach der es sich bei §69 Abs1 ASVG vor dem Hintergrund des §59 Abs1 leg.cit. um eine abschließende Regelung handle, weil der Gesetzgeber anderes festlegen hätte müssen (so auch VwGH vom 14. April 1988, Z86/08/0166). Der Verfassungsgerichtshof kann an dieser Auffassung jedoch aus folgenden Gründen nicht weiter festhalten:

Die Aufhebung von §69 Abs1 ASVG wegen Verfassungswidrigkeit würde nämlich dazu führen, daß für die Rückforderung von zu Ungebühr entrichteten Beiträgen überhaupt kein Rechtsweg bestünde. Da die Rückforderung im öffentlichen Recht wurzelt, könnte der Anspruch auch im ordentlichen Rechtsweg nicht geltend gemacht werden. Wenn aber eine Rückforderung weder im ordentlichen Rechtsweg auszutragen ist, noch durch Bescheid einer Verwaltungsbehörde eine Erledigung erzielt werden könnte, würde jegliche Rechtsschutzmöglichkeit wegfallen, da nach Art137 B-VG nur solche vermögensrechtlichen Ansprüche vor dem Verfassungsgerichtshof geltend gemacht werden können, die gegen den Bund, die Länder, die Bezirke, die Gemeinden oder Gemeindeverbände bestehen; auch eine Klage nach Art137 B-VG wäre daher nicht gangbar. Im Bestreben, eine verfassungskonforme Lösung zu erzielen, muß der Verfassungsgerichtshof die in seiner Vorjudikatur niedergelegte Auffassung, daß die in Prüfung gezogene Regelung eine abschließende ist, revidieren. Er geht nunmehr davon aus, daß §69 Abs1 ASVG hinsichtlich der Frage der Verzinsung eine Lücke enthält, die durch Analogie zu schließen ist. Demnach sind im Falle der Verpflichtung zur Rückleistung zu Unrecht vereinnahmter Beiträge für die wegen mangelnden Rechtsgrundes zurückzuerstattenden Geldsummen Vergütungszinsen, denen bereicherungsrechtlicher Charakter zukommt, in Höhe der gesetzlichen Zinsen zu leisten (vgl. auch OGH 24.4.1991, 9 Ob A42/91, EvBl. 1991/138). Damit erübrigt sich eine analoge Heranziehung des §59 ASVG.

Die im Einleitungsbeschluß aufgeworfenen Bedenken sind damit entkräftet.

7. Der Verfassungsgerichtshof hatte daher auszusprechen, daß §69 Abs1 ASVG nicht als verfassungswidrig aufgehoben wird.

8. Da von einer mündlichen Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht zu erwarten war, hat der Gerichtshof von einer mündlichen Verhandlung abgesehen (§19 Abs4 erster Satz VerfGG).

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