VfGH G146/87,G147/87

VfGHG146/87,G147/87G146/87,G147/8710.12.1987

Das Gesetz ist Bestandteil der geltenden Rechtsordnung; zu prüfende Bestimmungen nicht in so offenkundigem und kontradiktorischem Widerspruch zu Art15 StGG; daß auf inhaltliche Derogation zu schließen ist; besondere historische Situation von 1912 nicht mehr gegeben; nach Wortlaut und Absicht des historischen Gesetzgebers; keine Auslegung des Islam einer anderen (nicht-hanefitischen) religiösen Richtung möglich sei; durch das IslamG bewirkte Beschränkung der Anerkennung auf die Anhänger des Islam nach hanefitischem Ritus greift in das durch Art15 StGG garantierte Selbstbestimmungsrecht der gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft des Islam eine; zum Begriff der "inneren Angelegenheiten" iSd Art15 StGG; Ausschluß eines Teiles der religiösen Gemeinschaft von der Anerkennung als Religionsgesellschaft ohne Rücksicht darauf, daß es sich nach dem Selbstverständnis der gesamten Religionsgemeinschaft um den Teil eines gemeinsamen Bekenntnisses handelt verfassungswidrig - Aufhebung einiger Worte in ArtI erster Absatz und dessen §§5 und 6

Normen

B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs3 erster Satz
StGG Art15
AnerkennungsG 1874
Verordnung der Bundesregierung vom 30.5.1924, BGBl 176, womit die Geltung von Vorschriften, betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften, die Regelung der interkonfessionellen Verhältnisse und die Regelung der Verhältnisse der katholischen Kirche, auf das Burgenland erstreckt wird
IslamG, RGBl 159/1912 ArtI
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs3 erster Satz
StGG Art15
AnerkennungsG 1874
Verordnung der Bundesregierung vom 30.5.1924, BGBl 176, womit die Geltung von Vorschriften, betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften, die Regelung der interkonfessionellen Verhältnisse und die Regelung der Verhältnisse der katholischen Kirche, auf das Burgenland erstreckt wird
IslamG, RGBl 159/1912 ArtI

 

Spruch:

Die Wortfolgen "nach hanefitischem Ritus" in ArtI erster Absatz sowie jeweils in den §§5 und 6 desselben Artikels des Gesetzes vom 15. Juli 1912, betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams nach hanefitischem Ritus als Religionsgesellschaft, RGBl. Nr. 159/1912, werden als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruchs im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.a) Der Bundesminister für Unterricht und Kunst erließ

am 2. Mai 1979, Zl. 9076/7-7-9c/79, die folgende Erledigung:

"Vertreter des 'Moslemischen Sozialdienstes' in Wien stellten am 26. Jänner 1971 das Ansuchen, die Genehmigung der Errichtung sowie der Statuten der Religions(Kultus-)gemeinde für Österreich mit dem Sitz in Wien unter der Benennung 'Islamische Gemeinde zu Wien' der gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft der Anhänger des Islam nach hanefitischem Ritus auszusprechen und die Genehmigungsurkunde zuzustellen. Auf Grund vielfacher Umarbeiten stellte derselbe Moslemische Sozialdienst am 20. April 1979 den Antrag, der Endfassung der Verfassung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich gemäß dem Gesetz vom 15. Juli 1912, RGBl. Nr. 159, betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams nach hanefitischem Ritus als Religionsgesellschaft die Genehmigung zu erteilen. Auf Grund dieses Antrages ergeht nachstehender

Bescheid:

Auf Grund der Bestimmungen von Artikel I §1 des Gesetzes vom 15. Juli 1912, RGBl. Nr. 159, betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams nach hanefitischem Ritus als Religionsgesellschaft, und unter Anwendung der §§4 und 5 und des §6 letzter Absatz des Gesetzes vom 20. Mai 1874, RGBl. Nr. 68, betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften, wird

1. zur Errichtung der ersten Wiener Islamischen Religionsgemeinde und

2. der Verfassung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich gemäß dem Gesetz vom 15. Juli 1912, RGBl. Nr. 159, betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams nach hanefitischem Ritus als Religiongsgesellschaft

die Genehmigung erteilt.

Die Konstituierung der Wiener Religiongsgemeinde kann stattfinden."

Diese Erledigung erging an den "Moslemischen Sozialdienst, zu Handen des 1. Vorsitzenden Dr. A A, ..."

(Adresse).

b) Diese "Verfassung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich" lautet in den hier maßgebenden Teilen:

"Artikel 1

Der Islamischen Glaubensgemeinschaft gehören alle Anhänger des Islams an, welche in der Republik Österreich ihren Aufenthalt haben. Hiebei sind Anhänger des Islams, die dem hanefitischen Ritus nicht angehören - also andere Sunniten (Schafiiten, Malikiten, Hanbaliten) und Schiiten (ZwölferSchiiten, Zaiditen, Ibaditen) - den Anhängern des hanefitischen Ritus gleichgestellt."

"Artikel 4

Die Religionsgesellschaft der Anhänger des Islams nach hanefitischem Ritus ist Rechtsperson im Sinne von Art15 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. Nr. 142/1867 ..."

"Artikel 6

Neben der Religionsgesellschaft der Anhänger des Islams nach hanefitischem Ritus haben die Islamischen Religionsgemeinden Rechtspersönlichkeit. ..."

"Artikel 15

Organe der islamischen Glaubensgemeinschaft sind:

A) Für die Religionsgemeinde:

  1. 1. Die Gemeindeversammlung;
  2. 2. der Gemeindeausschuß;
  3. 3. der Imam.

B) Für die Glaubensgemeinschaft des Islams in Österreich:

  1. 4. Die Landesversammlung;
  2. 5. das Oberseniorat;
  3. 6. der Mufti.

    ..."

"Artikel 17

Der Sprengel der Wiener Religionsgemeinde umfaßt die Bundesländer Wien, Niederösterreich und Burgenland."

"Artikel 25

Die Generalversammlung (richtig: Gemeindeversammlung) beschließt über

1. die Wahl des Gemeindeausschusses;

2. ..."

"Artikel 26

Der Gemeindeausschuß ist das geschäftsführende Organ der Religionsgemeinde. ..."

"Artikel 28

... Die von der ordentlichen Gemeindeversammlung

gewählten Mitglieder des Gemeindeausschusses wählen unmittelbar

danach den Präsidenten, den Generalsekretär und den Kassier,

sowie deren Stellvertreter mit einfacher Stimmenmehrheit. Diese

Wahl bedarf der Genehmigung des Oberseniorates. ... Die

Religionsgemeinde wird nach außen durch den Präsidenten vertreten. Rechtserhebliche Urkunden und Schriftstücke werden durch den Präsidenten und den Generalsekretär unterzeichnet. In finanziellen Angelegenheiten tritt an die Stelle des Generalsekretärs der Kassier."

"Artikel 30

Die Landesversammlung ist das Oberste Organ der Islamischen Glaubensgemeinschaft in der Bundesrepublik Österreich. ..."

"Artikel 31

Die Landesversammlung wählt aus ihrer Mitte den Präsidenten und den Generalsekretär, sowie deren Stellvertreter

..."

"Artikel 32

Die Landesversammlung übt folgende Funktionen aus:

1. ...

7. sie wählt und enthebt den Vorsitzenden und die Mitglieder des Oberseniorates;

8. ...

12. sie hat das Recht, den Gemeindeausschuß oder einzelne Personen daraus abzuwählen."

"Artikel 33

Das Oberseniorat ist das Ausführungsorgan der

Landesversammlung. ... Die Islamische Glaubensgemeinschaft in der

Republik Österreich wird nach außen durch den Vorsitzenden des Oberseniorates vertreten."

2.a) In der Folge entstanden innerhalb der "Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich" Streitigkeiten über die gültige Zusammensetzung ihrer Organe.

In diesem Zusammenhang erließ der Bundesminister für Unterricht, Kunst und Sport - nach Durchführung eines Ermittlungsverfahrens - am 27. März 1985, Zl. 9076/4-9c/85, folgenden Bescheid:

"Die Entgegennahme und Kenntnisnahme der Wahlanzeigen der Herren

1. Dr. S, Ing. S, Dipl.Ing. Dr. C und E vom 1.7.1983 über die Absetzung von Herrn Dr. A als Präsident des Gemeindeausschusses der Islamischen Religionsgemeinde für Wien, Niederösterreich und Burgenland, über die Bestimmung von Herrn Dr. S zum Präsidenten dieses Gemeindeausschusses und über die Enthebung des Herrn Dr. A als Fachinspektor;

2. Dr. S und Dipl.Ing. Dr. C vom 6.3.1984 über die Abwahl von Herrn Dr. A als Vorsitzenden und Oberseniorates und als Mitglied des Gemeindeausschusses der Islamischen Religionsgemeinde für Wien, Niederösterreich und Burgenland, über die Wahl von Herrn Dr. S zum Vorsitzenden des Oberseniorates unter gleichzeitiger Änderung der Zusammensetzung dieses Oberseniorates und über die Wahl von Herrn Dipl.Ing. Dr. C zum Präsidenten und Herrn I U zum Stellvertreter des Präsidenten der Landesversammlung;

3. Dr. S, E, Ing. S und Dipl.Ing. C, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. B, vom 7.5.1984 über die Bestellung von Herrn Dr. S zum Präsidenten der Islamischen Religionsgemeinde für Wien, Niederösterreich und Burgenland am 11.3.1984;

werden gemäß Artikel I des Gesetzes vom 15.7.1912, RGBl. Nr. 159, betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams nach hanefitischem Ritus als Religionsgesellschaft und gemäß §9 Abs3 des Gesetzes vom 20.5.1874, RGBl. Nr. 68, betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften, abgelehnt."

b) Gegen diesen Bescheid des Bundesministers vom 27. März 1985 erhoben Dr. T S, Ing. S S, Dipl.Ing. Dr. N C, Dipl.Ing. T V, der Gemeindeausschuß der islamischen Religionsgemeinde in Wien, Niederösterreich und Burgenland, die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich, die Landesversammlung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, die Religionsgemeinde für Wien, Niederösterreich und Burgenland sowie das Oberseniorat der islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich zur hg. Zl. B308/85 eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde an den VfGH, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet wird.

c) Der VfGH beschloß am 4. Dezember 1986 aus Anlaß dieser Beschwerde, gemäß Art139 Abs1 B-VG von Amts wegen das zu V11/87 protokollierte Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit der unter I.1. näher bezeichneten - vom Gerichtshof vorläufig als Rechtsverordnung qualifizierten Erledigung des Bundesministers für Unterricht und Kunst vom 2. Mai 1979 einzuleiten.

3. Der VfGH beschloß weiters am 1. Juli 1987 im Zuge des Verordnungsprüfungsverfahrens V11/87 zu G147/87, sowie am 2. Juli 1987 im Zuge des Beschwerdeverfahrens B308/85 zu G 146/87, von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge "nach hanefitischem Ritus" in ArtI erster Absatz sowie in den §§5 und 6 des Gesetzes vom 15. Juli 1912, betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams nach hanefitischem Ritus als Religionsgesellschaft, RGBl. Nr. 159/1912 (in Hinkunft kurz: Islamgesetz) einzuleiten. Der VfGH war der Meinung, daß er sowohl im Verordnungsprüfungsverfahren V11/87 als auch im Beschwerdeverfahren B308/85 die genannten Bestimmungen des Islamgesetzes anzuwenden habe. Seine verfassungsrechtlichen Bedenken gingen in beiden Prüfungsbeschlüssen dahin, daß die durch das Islamgesetz bewirkte gesetzliche Beschränkung der Anerkennung auf die Anhänger des Islam "nach hanefitischem Ritus" in die durch Art15 StGG verfassungsgesetzlich garantierte selbständige, d.h. vom Staat nicht beeinträchtigte Verwaltung der "inneren Angelegenheiten", also in das Selbstbestimmungsrecht der gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft des Islam eingreife sowie dem Gleichheitssatz des Art7 B-VG widerstreite.

4. Die Bundesregierung hat am 10. November 1987 beschlossen, in den Gesetzesprüfungsverfahren G146, 147/87 von der Erstattung einer meritorischen Äußerung Abstand zu nehmen.

II. 1. Das zu G146/87 eingeleitete

Gesetzesprüfungsverfahren ist zulässig.

a) Das Islamgesetz ist Bestandteil der geltenden Rechtsordnung. Diese Feststellung steht im Einklang mit §1 Z1 vierter Absatz der V der Bundesregierung vom 30. Mai 1924, BGBl. 176, (womit die Geltung von Vorschriften, betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften, die Regelung der interkonfessionellen Verhältnisse und die Regelung der Verhältnisse der katholischen Kirche auf das Burgenland erstreckt wird), wo von der "Erstreckung der Wirksamkeit", sohin von der Weitergeltung des Islamgesetzes als Bestandteil der Rechtsordnung der Republik Österreich ausgegangen wird.

Der noch (unter III.) zu begründende Verstoß des Islamgesetzes gegen Art15 StGG hat auch nicht zur Derogation der verfassungswidrigen Bestimmungen des Islamgesetzes im Zuge der Neubegründung der Verfassungsordnung der Republik Österreich im Jahre 1945 geführt. Dieser Verfassungsvorschrift kann nicht der Sinn beigemessen werden, "das Weiterbestehen aller oder gewisser widersprechender Rechtsvorschriften auszuschließen" (VfSlg. 5630/1967, 5810/1968, 6278/1970, 7151/1973). Die zu prüfende Wortfolge des Islamgesetzes steht zu Art15 StGG nicht in einem so offenkundigen und kontradiktorischen

(VfSlg. 5120/1965) Widerspruch, daß daraus schon auf die inhaltliche Derogation der genannten Wortfolge zu schließen ist, zumal sich ArtI erster Absatz Islamgesetz ausdrücklich auf Art15 des bereits 1867 erlassenen StGG bezieht.

b) Der VfGH hat das Islamgesetz im Beschwerdeverfahren B308/85 anzuwenden. Der beim VfGH angefochtene Bescheid des Bundesministers für Unterricht, Kunst und Sport vom 27. März 1985, Z9076/4-9c/85, stützt sich in seinem Spruch (zusätzlich zur Vorschrift des §9 Abs3 des Gesetzes vom 20.5.1874, RGBl. Nr. 68, betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften, kurz: Anerkennungsgesetz) ausdrücklich auf den, die §§5 und 6 umfassenden ArtI des Islamgesetzes. Darüber hinaus bildet ArtI §5 Islamgesetz, der die Staatsaufsicht über die Religionsgesellschaft der Anhänger des Islam "nach hanefitischem Ritus" regelt, u.a. eine Rechtsgrundlage für die in der Begründung des angeführten Bescheides vertretene Rechtsmeinung, daß "der staatlichen Kultusverwaltung durch Kenntnisnahme oder Nichtkenntnisnahme solcher Wahlen eine Ingerenz" obliegt.

Der VfGH hegt auch keinen Zweifel, daß zumindest die Beschwerdelegitimation des Erstbeschwerdeführers im Verfahren B308/85 gegeben und die Beschwerde daher auch aus diesem Grunde zulässig ist.

Da der VfGH mithin im - zulässigen Beschwerdeverfahren B308/85 ArtI (einschließlich seiner §§5 und 6) des weiterhin geltenden Islamgesetzes anzuwenden hat, ist das Gesetzesprüfungsverfahren zulässig.

2. Aber auch das zu G147/87 protokollierte, im Verordnungsprüfungsverfahren V11/87 eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren ist zulässig.

Die Erledigung des Bundesministers für Unterricht und Kunst vom 2. Mai 1979, Z9076/7-9c/79, mit der die Errichtung der ersten Wiener Islamischen Religionsgemeinde und die Verfassung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich genehmigt wurde, stützt sich ausdrücklich auf das Islamgesetz, speziell auf den ArtI §1 dieses Gesetzes. Dort ist im ersten Absatz eine Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der Anhänger des Islam "im Verordnungsweg" in Aussicht gestellt, was dem VfGH für die rechtliche Bewertung der angeführten "Erledigung" und damit für die Zulässigkeit des unter V11/87 eingeleiteten Verordnungsprüfungsverfahrens von Bedeutung erscheint. Ferner erfaßt die Genehmigung eine "Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich", der kraft der gleichzeitig genehmigten "Verfassung" (Statuten) dieser Glaubensgemeinschaft "alle Anhänger des Islam angehören", somit nicht bloß jene, die dem hanefitischen Ritus anhängen (siehe ArtI der "Verfassung"). Sie steht daher in Widerspruch zu ArtI des Islamgesetzes. Denn dieser gesetzlichen Bestimmung zufolge werden nur die "Anhänger des Islam nach hanefitischem Ritus" als Religionsgesellschaft im Sinne des Art15 StGG anerkannt. Der VfGH hat daher bei Prüfung der Gesetzmäßigkeit der genannten Erledigung im Verfahren V11/87 das Islamgesetz in prozessualer und materieller Hinsicht anzuwenden und hiebei insbesondere auch die Wortfolge "nach hanefitischem Ritus" in ArtI Islamgesetz seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen. Diese Wortfolge ist - wegen des untrennbaren Zusammenhanges der betreffenden Bestimmungen - nicht nur im ersten Absatz des ArtI, sondern auch in den §§5 und 6 desselben Artikels des Islamgesetzes im Verordnungsprüfungsverfahren zu V11/87 präjudiziell. Eine Prüfung derselben Wortfolge im Titel des Islamgesetzes erschien dem VfGH dagegen mit Rücksicht auf die mangelnde selbständige normative Qualität des Gesetzestitels als entbehrlich.

3. Der VfGH ist sich dessen bewußt, daß die Aufhebung der Wortfolge "nach hanefitischem Ritus" im Islamgesetz zu einer Ausweitung der gesetzlichen Anerkennung der Religionsgesellschaft des Islam führt. Vor die Alternative gestellt, das Islamgesetz insgesamt oder nur die genannte Wortfolge im Gesetz in Prüfung zu ziehen, entschied er sich für letzteres. Dabei geht er von seinen in ständiger Judikatur (VfSlg. 7376/1974, 7786/1976 u.a.) vertretenen Überlegungen aus,

"daß jede Aufhebung von einzelnen Gesetzesstellen notwendig eine Änderung des geprüften Gesetzes bewirkt. Wie sich diese Änderung nach Art und Bedeutung im konkreten Einzelfall auswirkt, ist vornehmlich von der legistischen Systematik, also von Umständen abhängig, auf die der VfGH keinen Einfluß hat. Der VfGH teilt jedoch nicht die Auffassung ....., daß es für die Beurteilung der Präjudizialität einer Bestimmung auf die Auswirkungen einer etwa erfolgenden Aufhebung der geprüften Rechtsvorschrift nicht ankommen könne. Er hält es vielmehr für seine Aufgabe, den Umfang der zu prüfenden und im Falle ihrer Rechtswidrigkeit aufzuhebenden Bestimmung derart abzugrenzen, daß einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden wird, als Voraussetzung für den Anlaßfall ist, daß aber andererseits der verbleibende Text keine Veränderung seiner Bedeutung erfährt. Es liegt auf der Hand, daß beide Ziele gleichzeitig niemals vollständig erreicht werden können. Der VfGH hat daher in jedem Einzelfall abzuwägen, ob und inwieweit diesem oder jenem Ziel der Vorrang vor dem anderen gebührt (vgl. dazu auch VfGH Slg. Nr. 6674/1972). ..." (VfSlg. 7786/1976, S. 191 f).

Eine Abwägung im Sinne der vorstehenden Grundgedanken ergibt im vorliegenden Fall, daß die völlige Beseitigung der vom Gesetzgeber beschlossenen - teilweisen - Anerkennung der Religionsgesellschaft des Islam in ihren Auswirkungen einen weitaus stärkeren Eingriff in den Rechtsbestand bedeutet als die Beschränkung der Aufhebung auf die Wortfolge "nach hanefitischem Ritus" und die dadurch im Ergebnis bewirkte Ausweitung der Anerkennung auf alle Anhänger des Islam.

III. 1. ArtI erster Absatz sowie die §§5 und 6 dieses Artikels des Islamgesetz lauten:

(Die in Prüfung gezogenen Wortfolgen sind hervorgehoben).

"ArtI.

Den Anhängern des Islams nach hanefitischem Ritus wird in den im Reichsrat vertretenen Königreichen und Ländern die Anerkennung als Religionsgesellschaft im Sinne des Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867, R.G.Bl.Nr. 142, insbesondere des ArtXV. desselben, nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen gewährt."

"§5.

Die Staatsbehörde hat darüber zu wachen, daß die Religionsgesellschaft der Anhänger des Islams nach hanefitischem Ritus, deren Gemeinden und Organe ihren Wirkungskreis nicht überschreiten und den Bestimmungen der Gesetze sowie der in Aussicht genommenen V über die äußeren Rechtsverhältnisse dieser Religionsgesellschaft und den auf diesen Grundlagen erlassenen Anordnungen der staatlichen Behörden nachkommen. ..."

"§6.

Die Religionsgesellschaft der Anhänger des Islams nach hanefitischem Ritus genießt als solche sowie hinsichtlich ihrer Religionsübung und ihrer Religionsdiener denselben gesetzlichen Schutz wie andere gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaften.

..."

2. Das Islamgesetz beschränkt die Anerkennung des Islam als Religionsgesellschaft ausdrücklich auf die Anhänger des Islam "nach hanefitischem Ritus". Wie die Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage (1 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Herrenhauses, XX. Session 1909, S 6) bemerken, sollen damit die "Prärogative" einer anerkannten Religionsgesellschaft

"nicht den Anhängern des Islams schlechthin, sondern nur jenen nach hanefitischem Ritus eingeräumt werden. Damit ist jene religiöse Richtung innerhalb der vielgestaltigen Entfaltung des Islams bezeichnet, welche auf der von Abu Hanifa im VIII. Jahrhundert unserer Zeitrechnung gegründeten Rechtsschule fußend, die religiösen Anschauungen der weit überwiegenden Anzahl der Bekenner des Islams im osmanischen Reiche beherrscht und insbesondere in Bosnien und der Hercegovina ausschließlich vertreten ist."

Für diese beschränkte Anerkennung, die, wie aus den Erläuternden Bemerkungen hervorgeht, in der eindeutigen Absicht des historischen Gesetzgebers lag, führen die Erläuternden Bemerkungen begründend ins Treffen, daß

1. "ein praktisches Bedürfnis nach einer weiteren Ausdehnung dieser Anerkennung auf die Anhänger anderer Schulrichtungen innerhalb des Islams (nicht) besteht" und sich

2. "eine solche Ausdehnung wohl auch schon deshalb als kaum durchführbar herausstellen (würde), weil dadurch der Anschluß an die örtlich nächstgelegene Kultusorganisation der Bekenner des Islams, nämlich an jene in Bosnien und der Hercegovina, aufgegeben würde, so daß der künftige Ausbau der äußeren Rechtsverhältnisse dieser Religionsgesellschaft einer festen Basis beraubt wäre."

Es kann hier dahingestellt bleiben, ob die besondere historische Situation im Jahre 1912 die Begrenzung der Anerkennung auf Anhänger des Islam nach hanefitischem Ritus in Anbetracht des in ArtI erster Absatz Islamgesetz ausdrücklich genannten Art15 StGG zu rechtfertigen vermochte. In der heutigen Republik Österreich ist diese besondere Situation jedenfalls nicht mehr gegeben, was ja auch die genehmigte "Verfassung" der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich ausdrücklich dadurch zeigt, daß sie in ihrem ArtI Anhänger des Islam, die dem hanefitischen Ritus nicht angehören, den Anhängern des Islam nach hanefitischem Ritus gleichstellt.

Aus dem wiedergegebenen Motivenbericht zum Islamgesetz geht eindeutig hervor, daß - anders als dies der Bundesminister für Unterricht, Kunst und Sport in seiner Äußerung vom 18. März 1987 und sein Vertreter in der mündlichen Verhandlung vom 19. Juni 1987 zu V11/87 vor dem VfGH ausführten - eine Ausdehnung der Anerkennung auf Angehörige des Islam, die einer anderen religiösen Richtung (sei es einer anderen Rechtsschule, sei es einem anderen Ritus als dem hanefitischen) angehören, nach dem Islamgesetz nicht möglich ist. Eine andere Auslegung des Islamgesetzes kommt sowohl wegen dessen Wortlaut als auch auf Grund der dargelegten Absicht des Gesetzgebers nicht in Betracht.

Die Anerkennung des Islam als Religionsgesellschaft ohne Beschränkung auf seine Anhänger nach hanefitischem Ritus (von der die vom Bundesminister für Unterricht und Kunst genehmigte "Verfassung" der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich wie eingangs gezeigt ausgeht) ist aber auch nach dem Anerkennungsgesetz 1874 nicht zulässig, weil eine auf dieses Gesetz gestützte Anerkennung die bereits durch das Islamgesetz erfaßten Anhänger des Islam nach hanefitischem Ritus nicht neuerlich in einen Anerkennungsakt miteinbeziehen darf. Die bestehende Gesetzeslage erlaubt es daher nicht, alle Anhänger der religiösen Gemeinschaft des Islam in einer anerkannten Religionsgesellschaft zusammenzufassen.

3. Die durch das Islamgesetz bewirkte gesetzliche Beschränkung der Anerkennung auf die Anhänger des Islam nach hanefitischem Ritus greift in die durch Art15 StGG verfassungsgesetzlich garantierte selbständige, dh. vom Staat nicht beeinträchtigte Verwaltung der "inneren Angelegenheiten", also in das Selbstbestimmungsrecht der gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaft des Islam ein. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:

Der VfGH geht im Sinne seiner bisherigen Judikatur zu

Art15 StGG (vgl. insbesondere VfSlg. 2944/1955 und 3657/1959)

davon aus, daß das "den gesetzlich anerkannten Kirchen und

Religionsgesellschaften durch Art15 StGG verfassungsgesetzlich

gewährleistete Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung

und der Ordnung und selbständigen Verwaltung ihrer inneren

Angelegenheiten . . . nicht durch ein einfaches Gesetz beschränkt

werden (darf)" (VfSlg. 2944/1955) sowie daß "in den inneren

Angelegenheiten der gesetzlich anerkannten Kirchen und

Religionsgesellschaften . . . den staatlichen Organen durch

Art15 StGG jede Kompetenz zur Gesetzgebung und Vollziehung

genommen (ist)" (so VfSlg. 3657/1959). Mit Adamovich jun.

(Handbuch des österreichischen Verfassungsrechts, 1971, S 549)

meint der VfGH, daß das, "was unter den inneren Angelegenheiten

zu verstehen ist, deren Ordnung und Verwaltung den gesetzlich

anerkannten Religionsgesellschaften gemäß Art15 StGG garantiert

ist, . . . nicht von der einfachen Gesetzgebung selbständig

geregelt werden (darf), sondern . . . sich wesensmäßig aus dem

Aufgabenbereich der betreffenden Religionsgesellschaft (ergibt)".

Der Bereich der "inneren Angelegenheiten" im Sinne des Art15 StGG ist daher nur unter Bedachtnahme auf das "Wesen der Religionsgesellschaften nach deren Selbstverständnis erfaßbar", wie von der staatskirchenrechtlichen Literatur (Potz, Die inneren Angelegenheiten der anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften als Problem der Grundrechtsinterpretation, in: Ex aequo et bono, Festschrift Plöchl, 1977, S 409 ff, S 421, unter Hinweis auf Gampl, Die inneren Angelegenheiten gemäß Art15 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. Nr. 142/1867, ZEvKR 16, 1961,

S 113 ff, und J. Schima jun., Zur Funktion der kirchlichen Autonomie nach Art15 des österreichischen Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (StGG), Festschrift Dordett, 1976, S 340; ähnlich Klecatsky, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit und die Rechtsstellung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften in Österreich, EuGRZ 1982, S

445) mit Recht festgestellt wird. Insbesondere zählt zu den "inneren Angelegenheiten" auch die Frage der Mitgliedschaft zur anerkannten Religionsgesellschaft (Klecatsky, aaO, S 445, unter Hinweis auf OGH SZ 47/135, und die dort zitierte ältere Literatur). Der Gesetzgeber ist kraft Art15 StGG verhalten, bei Anerkennung einer Religionsgesellschaft deren Mitgliederkreis so abzugrenzen, daß er nicht gegen das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft verstößt. Ein Gesetzgeber, der von der Anerkennung einer religiösen Gemeinschaft (die eine notwendige Voraussetzung der Anerkennung bildet) als Religionsgesellschaft i.S. des Art15 StGG einen Teil der Gemeinschaft ohne Rücksicht darauf ausschließt, daß es sich nach dem Selbstverständnis der gesamten Religionsgemeinschaft um den Teil eines gemeinsamen Bekenntnisses handelt, agiert verfassungswidrig. Denn er verhindert damit die durch Art15 StGG verfassungsrechtlich gewollte und verbürgte selbständige Ordnung und Verwaltung der inneren Angelegenheiten der gesamten Religionsgemeinschaft.

Dem Selbstverständnis der Anhänger des Islam hinsichtlich seiner Mitglieder, wie es nicht zuletzt in der vom Bundesminister für Unterricht und Kunst genehmigten "Verfassung der islamischen Glaubengemeinschaft in Österreich" zutage tritt, widerspricht eine Anerkennung bloß der Anhänger des Islam nach hanefitischem Ritus. Wie immer dieses Selbstverständnis der Anhänger des Islam nämlich auch im einzelnen beschaffen sein mag, so schließt es die oben (2.) geschilderte Rechtslage nach dem Islamgesetz jedenfalls aus, daß alle Anhänger des Islam einer anerkannten Religionsgesellschaft zugehören.

Der Gesetzgeber greift aber in verfassungswidriger Weise in den Bereich der inneren Angelegenheiten der Religionsgesellschaft des Islam ein, wenn er (ohne Fortdauern der oben dargestellten historischen Gründe) eine Einschränkung der zum Islam als anerkannter Religionsgesellschaft zählenden Anhänger vornimmt. Er widerspricht damit nicht nur dem behaupteten Selbstverständnis der von der gesetzlichen Anerkennung erfaßten Anhänger des Islam (nach hanefitischem Ritus), sondern auch dem der vom Islamgesetz nicht erfaßten Anhänger des Islam, wenn und insofern beide von einer einheitlichen Religionsgemeinschaft ausgehen.

Die Worte "nach hanefitischem Ritus" in ArtI erster Absatz sowie in den §§5 und 6 desselben Artikels des Islamgesetzes verstoßen daher gegen die durch Art15 StGG verbürgte verfassungsrechtliche Gewährleistung der selbständigen Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten durch die islamische Religionsgesellschaft und waren gemäß Art140 Abs1 B-VG als verfassungswidrig aufzuheben.

Auf die im Prüfungsbeschluß genannten Gleichheitsbedenken brauchte der VfGH angesichts dieses Verfahrensergebnisses nicht weiter einzugehen.

4. Die Verpflichtung zur Kundmachung der Aufhebung stützt sich auf Art140 Abs5 B-VG. Der Ausspruch, daß sonstige gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, folgt Art140 Abs6 B-VG.

Dies konnte vom VfGH gemäß §19 Abs4 VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung beschlossen werden.

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