OGH 4Ob216/24d

OGH4Ob216/24d21.1.2025

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schwarzenbacher als Vorsitzenden sowie den Vizepräsidenten Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, die Hofrätinnen Mag. Istjan, LL.M., und Mag. Waldstätten und den Hofrat Dr. Stiefsohn als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj *, geboren am * 2021, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters *, vertreten durch Dr. Tassilo Wallentin, Rechtsanwalt in Wien, wegen Obsorge, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 26. November 2024, GZ 43 R 664/24a‑138, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2025:0040OB00216.24D.0121.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Familienrecht (ohne Unterhalt), Unionsrecht, Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Das 2021 geborene Kind ist – wie seine Eltern – ukrainischer Staatsbürger und hält sich seit März 2022 als Folge des Ukrainekriegs in Österreich auf. Die Ehe der Eltern wurde in der Ukraine geschieden; die Obsorge stand den Eltern bisher gemeinsam zu. Mutter und Kind leben nach wie vor (und gemeinsam) in Österreich, der Vater kehrte im Jahr 2023 wieder in die Ukraine zurück.

[2] Vor dem Erstgericht beantragte der Vater im September 2022, ihm die alleinige Obsorge einzuräumen. In seinem Antrag verwies er auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Sprengel des Erstgerichts. Die Mutter sprach sich gegen den Antrag des Vaters aus und beantragte ihrerseits, ihr die Alleinobsorge zu übertragen.

[3] Die Vorinstanzen wiesen den Antrag des Vaters ab, entzogen ihm die Obsorge und übertrugen sie der Mutter alleine; dies mit der wesentlichen Begründung, dass die Eltern kein Einvernehmen über die obsorgerechtlichen Angelegenheiten erzielen könnten, der Vater nicht im Sinne des Kindeswohls handle und gegen das Wohlverhaltensgebot verstoße.

Rechtliche Beurteilung

[4] In seinem außerordentlichen Revisionsrekurs zeigt der Vater keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung auf.

Zur Zuständigkeit der Vorinstanzen:

[5] 1. Die Ausführungen zur internationalen, sachlichen und örtlichen (Un‑)Zuständigkeit zeigen keine erhebliche Rechtsfrage auf.

[6] 2.1 Nach Art 97 Abs 1 lit a Brüssel IIb‑VO (Verordnung [EU] 2019/1111 des Rates vom 25. 6. 2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen) kommt der Zuständigkeitsbestimmung des Art 7 Abs 1 Brüssel IIb‑VO Vorrang vor dem Zuständigkeitssystem des KSÜ (Haager Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern vom 19. 10. 1996, BGBl III 2011/49) zu (idS zur insoweit gleichlautenden Brüssel IIa‑VO: RS0128460), wenn das Kind – zum Zeitpunkt der Antragstellung (6 Ob 194/14v; 8 Ob 68/21i) – seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat. In diesem Fall haben die mitgliedstaatlichen Gerichte aber auch dann die VO anzuwenden, wenn – wie hier – das Kind die Staatsbürgerschaft eines Vertragsstaats des KSÜ hat (hier: Ukraine), der nicht zugleich Mitgliedstaat im Sinn der VO ist (8 Ob 68/21i [Serbien]).

[7] 2.2 Dass der internationalen Zuständigkeit der österreichischen Gerichte die Bestimmung des Art 97 Abs 2 Brüssel IIb‑VO (über das Verhältnis zum KSÜ) entgegensteht, wird im Rechtsmittel nicht aufgezeigt. Insbesondere wird auch nicht dargelegt, warum der Umstand, dass (erst) im Juni 2023 – also erst nach Anrufung des Erstgerichts –allenfalls ein Verfahren in der Ukraine eingeleitet wurde, die Regel des Art 13 KSÜ (iVm Art 97 Abs 2 lit c Brüssel IIb‑VO) erfüllen soll.

[8] 3.1 Der Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ im Sinn der Verordnung ist autonom entsprechend ihren Zielen und Zwecken auszulegen. Nach der Rechtsprechung des EuGH (C‑523/07 ) ist darunter der Ort zu verstehen, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hierfür sind ua die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat oder die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen (RS0126369).

[9] 3.2 Ob ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliegt, stellt grundsätzlich keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung dar (RS0126369 [T9]). Ein solcher kann regelmäßig nach einer Aufenthaltsdauer von sechs Monaten angenommen werden, wobei letztlich die Umstände des konkreten Einzelfalls maßgeblich sind (RS0126369 [T5]).

[10] 3.3 Der Oberste Gerichtshof hat die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts im Fall eines rechtmäßigen (kriegsbedingten) Umzugs eines Minderjährigen von der Ukraine als nicht korrekturbedürftig erachtet, wenn das Kind im Zuzugstaat (dort: Deutschland) bereits knapp acht Monate aufhältig war (6 Ob 113/23w; RS0126369 [T6]). Es bedarf daher keiner Korrektur wenn das Rekursgericht auch im Anlassfall den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Österreich bejaht hat. Im Antragszeitpunkt war das Kind schon ein halbes Jahr in Österreich.

[11] 3.4 Dass allenfalls Rechtsprechung zur Frage fehlt, ab wann man als Kriegsflüchtling einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Staat hat, den man sofort verlassen möchte, wenn der Krieg beendet ist, wirft im Licht der zitierten Rechtsprechung wegen der Einzelfallbezogenheit dieser Beurteilung keine erhebliche Rechtsfrage auf (6 Ob 113/23w).

[12] 4. Abgesehen von den Ausführungen zur internationalen (Un‑)Zuständigkeit der von ihm selbst angerufenen Gerichte zeigt der Vater nicht auf, warum die Vorinstanzen im Anlassfall örtlich oder sachlich unzuständig gewesen sein sollen.

Entzug/Übertragung der Obsorge:

[13] 5. Wegen des im Inland gelegenen gewöhnlichen Aufenthalts des Minderjährigen ist gemäß Art 15 Abs 1 KSÜ für die Entscheidungen über die elterliche Verantwortung österreichisches Recht anzuwenden (RS0127234 [T1]).

[14] 6. Die Entscheidung, welchem Elternteil die Kindesobsorge übertragen werden soll, ist dann eine solche des Einzelfalls, der keine grundsätzliche Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG zukommt, wenn dabei auf das Kindeswohl ausreichend Bedacht genommen wurde (RS0115719). Das gilt auch für den Fall, dass bei einer gemeinsamen Obsorge einem Elternteil die Obsorge entzogen wird, sodass der andere Elternteil nunmehr allein obsorgeberechtigt ist (zB 4 Ob 129/24k; 4 Ob 90/22x).

[15] 7. Es steht fest, dass die Kontakte im Besuchscafé vom Vater abgebrochen wurden, weshalb seit Ende August 2023 keine Kontakte mehr zwischen dem Vater und dem Kind stattgefunden haben. Es gibt keine zeitnahe Lösung, dass der Vater den Kontakt zum Minderjährigen wieder aufnimmt. Die Vorinstanzen stellten auch fest, dass der Elternkonflikt „als sehr hoch zu beschreiben … und eine zeitnahe Beruhigung nicht zu erwarten ist, da insbesondere der Vater konfliktverschärfend agiert“. Das zeigt sich etwa durch die öffentliche Diskreditierung der Mutter oder Ansetzen von Privatdetektiven auf sie. Bezüglich der Erziehungsfähigkeit der Eltern liegen schwerwiegende wechselseitige Vorwürfe vor, wobei sich die Mutter allerdings an einer guten, konsensualen Lösung interessiert zeigt, während der Vater den Konflikt anheizende Aussagen tätigt. Nach den Feststellungen entspricht die alleinige Obsorge der Mutter eher den Entwicklungsbedürfnissen des Minderjährigen.

[16] 8. Wenn die Vorinstanzen aufgrund dieser Tatsachengrundlage die alleinige Obsorge durch die Mutter als dem Kindeswohl entsprechend bejahten, bedarf das keiner Korrektur durch gegenteilige Sachentscheidung.

[17] 9.1 Der Revisionsrekurs ist über weite Strecken mit den Ausführungen im Rekurs ident. Mit der Argumentation des Rekursgerichts setzt sich der Revisionsrekurs nicht näher auseinander.

[18] 9.2 Soweit der Vater (in Wiederholung seiner Rekursausführungen) mannigfaltige Umstände für eine Kindeswohlgefährdung durch die Mutter behauptet, ist ihm entgegenzuhalten, sodass solche gerade nicht festgestellt wurden, und der Oberste Gerichtshof auch im Außerstreitverfahren nicht Tatsacheninstanz ist, weshalb Fragen der Beweiswürdigung nicht an ihn herangetragen werden können (RS0007236 [T7], RS0006737). Die Bekämpfung der Tatsachenfeststellungen mit Revisionsrekurs ist nicht möglich (RS0108449). Damit kann der Vater in dritter Instanz auch nicht geltend machen, dass seinen Beweisanträgen nicht gefolgt und eine vorgreifende Beweiswürdigung zu seinen Lasten vorgenommen worden sei.

[19] 9.3 Der wiederholte und aktenwidrige Vorwurf, dass dem Vater im Verfahren kein rechtliches Gehör gewährt worden sei, verwirklicht im Anlassfall nicht den Revisionsrekursgrund des § 66 Abs 1 Z 1 iVm § 58 AußStrG, weil dem anwaltlich vertretenen Vater von den Vorinstanzen sehr wohl die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich inhaltlich zu äußern (RS0005915), die er auch umfassend in zahlreichen Eingaben nützte. Der Grundsatz des Parteiengehörs fordert nur, dass der Partei ein Weg eröffnet werde, auf dem sie ihre Argumente für ihren Standpunkt sowie überhaupt alles vorbringen kann, was der Abwehr eines gegen sie erhobenen Anspruchs dienlich sei. Rechtliches Gehör ist der Partei auch dann gegeben, wenn sie sich nur schriftlich äußern konnte oder geäußert hat (RS0006048).

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