European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2015:0060OB00194.14V.0319.000
Spruch:
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
1. Nach Art 8 Abs 1 Brüssel IIa‑VO sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Zuständigkeitsprüfung bezieht sich in zeitlicher Hinsicht auf den „Zeitpunkt der Antragstellung“. Dieser ist im vorliegenden Fall der 15. 10. 2013, an dem der Obsorgeantrag des Vaters beim Erstgericht einlangte (vgl Art 16 lit a Brüssel IIa‑VO). Art 8 Brüssel IIa‑VO statuiert den Grundsatz der Fortdauer der internationalen Zuständigkeit, wenn diese im Zeitpunkt der Antragstellung gegeben war (6 Ob 217/12y mwN).
2. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist der in der Verordnung nicht definierte Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ nicht nach den jeweiligen nationalen Bestimmungen, sondern autonom entsprechend den Zielen und Zwecken der Verordnung auszulegen (EuGH 2. 4. 2009, C‑253/07; vgl 5 Ob 194/10f mwN). Dieser Begriff ist nach der genannten Entscheidung des EuGH dahin auszulegen, dass darunter der Ort zu verstehen ist, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hiefür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen (RIS‑Justiz RS0126369). Im Fall eines rechtmäßigen Umzugs kann sich der gewöhnliche Aufenthalt auch nach sehr kurzer Frist in den Zuzugsstaat verlagern. Ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts kann insbesondere die entsprechende übereinstimmende Absicht der Eltern sein, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Staat niederzulassen (vgl die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache des EuGH C‑523/07, Slg 2009 I‑02805 Rn 43 f).
3. Zum Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ (dort nach Art 3 Abs 1 lit a Brüssel IIa‑VO) hat der Oberste Gerichtshof bereits ausgeführt, dass für die Ausfüllung des Kriteriums „Lebensmittelpunkt“ bei freien und erwachsenen Menschen der Wille mittelbar erhebliches Gewicht hat (1 Ob 115/09g).
4. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen sind die Eltern nach einem rund zweieinhalbjährigen Aufenthalt in England mit dem Kind im Juli 2013 nach Wien umgezogen, nachdem der Vater per 1. 7. 2013 in Wien ein neues Beschäftigungsverhältnis eingegangen war. Die Eltern wollten ihren Lebensmittelpunkt in Wien begründen. Der nichteheliche österreichische Vater beabsichtigte für die Familie eine größere Wohnung in Wien zu suchen, musste jedoch noch im Juli 2013 zu einer Schulung nach Deutschland. Aus diesem Grund fuhren Mutter und das dreijährige Kind ‑ beide ungarische Staatsangehörige ‑ zur mütterlichen Großmutter nach Budapest, um Urlaub zu machen. Im August 2013 eröffnete die Mutter dem Vater, in Pecs zu arbeiten und die Beziehung nicht fortsetzen zu wollen. Am 10. 9. 2013 übersiedelte die Mutter mit dem Kind von Pecs nach Budapest. Der Vater hatte einer Übersiedlung seines Sohnes nach Ungarn nie zugestimmt.
5. Für den Fall der Kindesentführung sieht Art 10 Brüssel IIa‑VO unter bestimmten Umständen ein Fortbestehen der Zuständigkeit der Gerichte im Staat des früheren Aufenthalts vor der Entführung vor. Jedoch schließt die Entführung es nicht aus, dass sich der gewöhnliche Aufenthalt in den Staat verlagert, in den das Kind verbracht worden ist. Ein Wechsel der gerichtlichen Zuständigkeit kann in diesem Fall (Erlangen eines gewöhnlichen Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat) mit Zustimmung der sorgeberechtigten Personen und der zuständigen Behörden sofort eintreten (Art 10 lit a der VO). Andernfalls kann der Übergang der Zuständigkeit erst eintreten, wenn das Kind sich mindestens ein Jahr in dem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat (Art 10 lit b der VO). Die Jahresfrist allein ist aber nicht entscheidend. Die Verlagerung der Zuständigkeit hängt vielmehr von den in Art 10 lit b Z i bis iv der VO hinzutretenden Umständen ab.
6. Eine Kindesentführung (widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes) liegt nach der Legaldefinition des Art 2 Z 11 Brüssel IIa‑VO vor, wenn dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte.
7. Die Rechtsmittelwerberin rügt auch in ihrem außerordentlichen Rechtsmittel nicht die rechtliche Beurteilung der Vorinstanzen, dass auch der Vater sorgeberechtigt ist. In erster Instanz hatte sie dies wiederholt vorgetragen. Nach den Feststellungen übte er das Sorgerecht auch aus, als die Mutter ohne seine Zustimmung mit dem Kind ab August 2013 in Ungarn blieb. Das Zurückhalten des Kindes war daher ‑ wie das Rekursgericht zutreffend ausführte ‑ widerrechtlich.
8. Das Rekursgericht geht von einem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Österreich zum Zeitpunkt der Stellung des Obsorgeantrags des Vaters im Hinblick auf den übereinstimmenden Willen seiner Eltern im Juli 2013, in Wien den Lebensmittelpunkt zu begründen, und den rund zweiwöchigen Aufenthalt des Kindes mit seinen Eltern in Wien aus. Eine unvertretbare Auslegung ist in dieser Beurteilung nicht zu erkennen. Der Aufenthalt des widerrechtlich zurückgehaltenen Kindes in Ungarn führte mangels der Voraussetzungen des Art 10 lit a oder lit b Brüssel IIa‑VO nicht zu einem Übergang der Zuständigkeit an ein ungarisches Gericht.
9. Das Erstgericht hat aufgrund eines Antrags des Vaters, vorläufig der Mutter die Obsorge zu entziehen und den Vater alleine mit der Obsorge zu betrauen, entschieden, nachdem es der Rechtsmittelwerberin Gelegenheit zur Äußerung gegeben hatte und eine Äußerung erstattet worden war.
Angebliche Mängel des Verfahrens erster Instanz, die das Rekursgericht verneinte, können nach ständiger Rechtsprechung im Revisionsrekurs nicht mehr geltend gemacht werden (RIS‑Justiz RS0050037, RS0030748, RS0043919). Das Vorliegen einer in der Rechtsprechung anerkannten Ausnahme von diesem Grundsatz tut die Revisionswerberin nicht dar. Das Rekursgericht hat nicht ausgeführt, dass die Rechtsmittelwerberin für den 20. 5. 2014 geladen worden wäre, sondern ‑ mit der Aktenlage übereinstimmend ‑ dass diese die ihr für den 20. 5. 2014 eingeräumte Möglichkeit, vom Erstgericht vernommen zu werden, nicht nutzte. Es trifft zwar zu, dass die Tagsatzung vom 11. 6. 2014 abberaumt wurde. Die Rechtsmittelwerberin führt aber selbst aus, dass sie an diesem Tag bei der Verhandlung im Rückführungsverfahren vor dem Bezirksgericht Innere Stadt Wien dessen Beweisergebnisse das Erstgericht verwertete, anwesend war.
10. Ob die Voraussetzungen für eine vorläufige Obsorgeregelung (§ 107 Abs 2 AußStrG) vorliegen, begründet zufolge Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls keine erhebliche Rechtsfrage, sofern keine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt (6 Ob 124/08s). Die ausführlich begründete Auffassung des Rekursgerichts, dass es nach den Umständen des Falls zum Wohle des seit 2. 9. 2014 wieder beim Vater befindlichen Kindes der Zuweisung vorläufiger alleiniger Obsorge an den Vater bedurfte, ist jedenfalls vertretbar.
11. Auf den im Rekurs von der Rechtsmittelwerberin gestellten Antrag, gemäß Art 15 Brüssel IIa‑VO dem ungarischen Gericht die Zuständigkeit zu übertragen, ist das Rekursgericht zu Recht nicht eingegangen, kann doch im Rekurs ein neuer Antrag oder Eventualantrag nicht gestellt werden (vgl § 49 AußStrG; 3 Ob 200/06t; 3 Ob 70/08b; RIS‑Justiz RS0006796).
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)