European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00190.24S.1119.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall
Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die beklagte Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.
Begründung:
[1] Die Klägerin wurde am 21. 3. 2023 bei einem vom Lenker des bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeugs allein verschuldeten Unfall verletzt.
[2] Am 5. 4. 2023 unterfertigte sie eine von der Beklagten vorbereitete Abfindungserklärung mit ua folgendem Inhalt:
„Zur Bereinigung der schwebenden Angelegenheit im Zusammenhang mit dem Schadenereignis vom 21. 03. 2023 schlage(n) ich/wir, der/die Unterzeichnende(n) K* ohne Präjudiz für die Sach- und Rechtslage folgendes vor: Falls von Ihnen oder dritter Seite an mich/uns insgesamt ein Betrag von € 1.440,00 […] gezahlt wird, erklären ich/wir und meine/unsere Rechtsnachfolger, für alle Ansprüche, welcher Art und welchen Namens immer, die mir/uns aus diesem Anlass entstandenen sind oder in Zukunft entstehen sollten, Ihnen sowie jeder dritten physischen oder juristischen Person gegenüber vollkommen und endgültig befriedigt zu sein. […]“
[3] Die Klägerin begehrt – unter Berücksichtigung der von der Beklagten nach Rücklangen des von ihr unterfertigten Schreibens geleisteten, als globales Schmerzengeld bezeichneten Zahlung in Höhe von 1.440 EUR – den Ersatz entgangenen Verdienstes, pauschaler Unkosten sowie weiteres Schmerzengeld in Höhe von insgesamt 5.420 EUR und stellt ein Feststellungsbegehren.
[4] Die Vorinstanzen wiesen die Klage unter Hinweis auf den Abfindungsvergleich ab. Dieser umfasse nicht nur erkennbare, sondern auch zukünftige, nicht vorhersehbare Unfallfolgen. Die bloße Berechnung der Abfindungssumme nur auf Basis der bekannten Schäden ohne (zusätzliche) Risikoabfindung begründe noch keine Sittenwidrigkeit. Eine solche könne nur insoweit vorliegen, als auch zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses unvorhersehbare Unfallfolgen ganz außergewöhnlichen Umfangs erfasst wären, die zu einem krassen und dem Geschädigten völlig unzumutbaren Missverhältnis zwischen dem Schaden und der bloß auf Basis der bekannten Folgen errechneten Abfindungssumme führen. Die Klägerin habe zum Zeitpunkt der Unterfertigung lediglich weitere Schmerzen, nicht aber die nun geltend gemachten, insbesondere im Zusammenhang mit einer behaupteten Knieverletzung stehenden Unfallfolgen vorhersehen können. Die geltend gemachten Schäden stünden aber noch nicht in einem krassen, völlig unzumutbaren Missverhältnis zur Abfindungssumme. Das der freien Bewertung der Klägerin unterliegende Feststellungsbegehren sei dabei nicht zu berücksichtigen. Der Abfindungsvergleich verstoße nicht gegen § 6 Abs 1 Z 9 KSchG und falle auch nicht unter den (sachlichen) Anwendungsbereich des FAGG. Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil der Grenze der Sittenwidrigkeit bei Abfindungsvergleichen erhebliche Bedeutung zukomme und erst eine einschlägige Entscheidung des Obersten Gerichtshofs vorliege, die ein Missverhältnis von 1 : 2 nicht ausreichen habe lassen. Die für den Einzelfall maßgeblichen Beurteilungskriterien seien aber offen geblieben.
[5] Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin mit dem auf Stattgebung der Klage gerichteten Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[6] Die Beklagte beantragt, die Revision zu verwerfen.
Rechtliche Beurteilung
[7] Die Revision ist – entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) Ausspruch des Berufungsgerichts – mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
[8] 1. Ein Abfindungsvergleich umfasst jedenfalls erkennbare und vorhersehbare Ansprüche (RS0087312). Umfasst er auch (oder nur) Schmerzengeld, so erstreckt er sich im Zweifel nur auf schon bekannte oder doch vorhersehbare Unfallfolgen (RS0031031). Entscheidend für den Gegenstand der Streitbereinigung ist der übereinstimmend erklärte Parteiwille (RS0017954).
[9] Dass im vorliegenden Fall nach dem klaren Wortlaut des Abfindungsvergleichs auch die hier nach Ansicht des Berufungsgerichts geltend gemachten, nicht vorhersehbaren Unfallfolgen in die Abfindung miteinbezogen wurden, zieht die Revision nicht in Zweifel. In Bezug auf diese ist zu prüfen, ob ihre Einbeziehung in den Abfindungsvergleich sittenwidrig ist.
[10] 2. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass eine Abfindungsklausel dann als sittenwidrig zu qualifizieren ist, wenn der Eintritt nicht vorhergesehener Folgen zu einem „ganz krassen“ und dem Geschädigten „völlig unzumutbaren“ Missverhältnis zwischen Schaden und der bloß auf Basis der bekannten Folgen errechneten Abfindungssumme (Fehlen einer Risikoabfindung für unvorhergesehene Folgen) führt (RS0108259).
[11] Der Oberste Gerichtshof hat zu 2 Ob 71/16d bereits festgehalten, dass für das Sittenwidrigkeitsurteil nach § 879 Abs 1 ABGB die in der deutschen Rechtsprechung für die Zulässigkeit einer Anpassung des Abfindungsvergleichs als maßgeblich erachteten Wertrelationen heranzuziehen sind. Von der früheren, die Einbeziehung unvorhergesehener Schäden im Wesentlichen uneingeschränkt billigenden Rechtsprechung soll nur in besonderen Härtefällen (Unfallfolgen von „außergewöhnlichem Umfang“) abgegangen werden. Der tatsächliche Schaden muss daher ein Vielfaches der Abfindungssumme betragen, wobei letztlich die Umstände des Einzelfalls entscheidend sind (2 Ob 71/16d Pkt 5.9).
[12] 3. Wenn das Berufungsgericht im vorliegenden Einzelfall ausgehend von diesen – von der Revision nicht angezweifelten – Grundsätzen noch kein „ganz krasses“ und dem Geschädigten „völlig unzumutbares Missverhältnis“ zwischen dem tatsächlichen Schaden und der bloß auf Basis der bekannten Folgen errechneten Abfindungssumme angenommen hat, ist dies im Hinblick auf die auch nach dem Vorbringen der Klägerin insgesamt eher moderate Schadenshöhe und das Nichtvorliegen von Unfallfolgen ganz außergewöhnlichen Umfangs mangels eines besonderen Härtefalls noch vertretbar. Auch die Nichtberücksichtigung des Feststellungsbegehrens bei Betrachtung des Missverhältnisses durch das Berufungsgericht ist nicht korrekturbedürftig, weil das objektive Missverhältnis zwischen Abfindungssumme und dem in Geld ausgedrückten tatsächlichen Schaden entscheidend ist (2 Ob 71/16d Pkt 5.6), die Bewertung des Feststellungsbegehrens aber der freien Bewertung durch die Klägerin unterliegt (Gitschthaler in Fasching/Konecny 3 § 56 JN Rz 23) und primär prozessuale Bedeutung hat (vgl Gitschthaler in Fasching/Konecny 3 § 54 JN Rz 14).
[13] 4. Soweit die Revision behauptet, das Berufungsgericht habe sich nicht mit der Anwendbarkeit des FAGG auseinandergesetzt, übergeht sie die auf diesen Einwand Bezug nehmenden Rechtsausführungen des Berufungsgerichts, denen die Revision argumentativ nichts entgegensetzt. Mangels insoweit gesetzmäßig ausgeführter Rechtsrüge (vgl RS0043605) wird auch in diesem Zusammenhang keine Rechtsfrage der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO aufgeworfen.
[14] 5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 40, 50 ZPO. Für die Revisionsbeantwortung steht kein Kostenersatz zu, weil die Beklagte die Unzulässigkeit der Revision lediglich mit dem unzutreffenden (vgl RS0080388) Argument begründet hat, nicht von der Zulassungsbegründung durch das Berufungsgericht erfasste Rechtsfragen könnten nicht geltend gemacht werden (vgl RS0035962; RS0035979).
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