European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00028.24T.0528.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Schadenersatz nach Verkehrsunfall
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
I. Das Rechtsmittel wird, soweit es sich inhaltlich als Rekurs gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts richtet, zurückgewiesen.
II. Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.
Das angefochtene Teilzwischenurteil wird im Ausspruch über das Zahlungsbegehren aufgehoben. Dem Erstgericht wird eine neue Entscheidung nach allfälliger Verfahrensergänzung aufgetragen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Begründung:
[1] Am 30. 4. 2022 ereignete sich im Ortsgebiet von Ottensheim im Bereich der Kreuzung der B 127 mit der Weingartenstraße ein Verkehrsunfall.
[2] Der Kläger fuhr zum Unfallszeitpunkt mit seinem E-Motorrad auf der B 127 aus Richtung Puchenau kommend und bog – nachdem er zuvor bei Rotlicht unmittelbar vor der Haltelinie seines Abbiegestreifens angehalten hatte – an der Kreuzung mit der Weingartenstraße nach links in diese inRichtung Zentrum Ottensheim ein. Er erreichte bis zum Einfahren in den Fahrbahnbereich der Weingartenstraße eine Geschwindigkeit von ca 25 km/h.
[3] Der Beklagte lenkte sein Fahrrad auf der Weingartenstraße aus Richtung Zentrum Ottensheim kommend und beabsichtigte, die B 127 geradeaus weiterfahrend zu überqueren. Vor der Überquerung der B 127 wollte er auf der Weingartenstraße nach links zum dort eingerichteten Gehsteig fahren, um nachfolgend die B 127 auf dem neben dem Schutzweg eingerichteten Radfahrerübergang zu überqueren. Er befand sich zunächst am rechten Fahrbahnrand der Weingartenstraße und überquerte diese mit geringer Geschwindigkeit von ca 5 km/h. Beim Überqueren bemerkte er den in die Weingartenstraße einbiegenden Kläger und hielt letztendlich sein Fahrrad an. Ob er dabei mit seinem Fahrrad (Vorderrad) in den vom Kläger benützten Fahrstreifen einfuhr, kann nicht festgestellt werden.
[4] Der Kläger bemerkte beim Linkseinbiegen den sich auf der Fahrbahn der Weingartenstraße befindlichen Beklagten und leitete etwa beim Überfahren der südlichen Randlinie der B 127 eine Vollbremsung mit Betätigung der Vorder- und Hinterradbremse ein. Durch die auch im Bereich des Vorderrades eingeleitete Vollbremsung rutschte das E‑Motorrad nach rechts weg, sodass er zu Sturz kam. Hätte der Kläger ausschließlich mit der Hinterradbremse gebremst oder zusätzlich zur Hinterradbremse mit der Vorderradbremse nur leicht gebremst, wäre ein Sturz unterblieben. Ob es ohne Abbremsen des E-Motorrades oder bei einem sturzverhindernden Bremsen zu einer Kollision mit dem Fahrrad des Beklagten gekommen wäre, kann nicht festgestellt werden.
[5] Der Kläger begehrt den Ersatz der ihm aufgrund des Sturzes entstandenen Schäden und die Feststellung der Haftung des Beklagten. Er habe im Zuge seines Einbiegemanövers den Beklagten auf der Weingartenstraße fahrend gesehen. Kurz vor der Kreuzung habe der Beklagte sein Fahrrad aber plötzlich über die Fahrbahnmitte hin in den von ihm benutzten Fahrstreifen verlenkt, ohne auf ihn zu achten. Zur Vermeidung der unmittelbar drohenden Kollision habe er eine Vollbremsung eingeleitet und sei dabei zu Sturz gekommen.
[6] Der Beklagte wendet zusammengefasst ein, sein Fahrrad noch vor der Leitlinie zum Stillstand gebracht zu haben. Er habe daher den Vorrang des Klägers nicht verletzt. Der Sturz sei auf dessen Fehlreaktion zurückzuführen.
Das Erstgericht wies die Klage mangels objektivierter Vorrangverletzung ab. Das behauptete Eindringen des Beklagten in den Fahrkanal des Klägers bzw ein Überfahren der Leitlinie habe nicht festgestellt werden können.
Das Berufungsgericht gab einer Berufung des Klägers Folge. Mit Teilzwischenurteil erkannte es das Zahlungsbegehren dem Grunde nach als zu Recht bestehend und hob das Ersturteil im Umfang der Abweisung des Feststellungsbegehrens zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Es wertete die Feststellungen des Erstgerichts zur Fahrlinie des Beklagten beim „Überqueren“ der Weingartenstraße dahin, dass er sich nicht zur Fahrbahnmitte hin eingeordnet, sondern die Fahrbahn im rechten Winkel gequert habe. Sein beabsichtigtes Fahrmanöver sei als Zufahren zum linken Fahrbahnrand zu werten, bei dem er sich gemäß § 12 Abs 1 und 4 StVO einordnen hätte müssen. Sein Verhalten sei daher unabhängig von einem allfälligen Eindringen in den Fahrkanal des Klägers straßenverkehrsordnungswidrig, sodass ihn ein Verschulden an der Abwehrreaktion des Klägers treffe. Dass dieser sturzvermeidend bremsen oder vorbeifahren hätte können, stehe nicht fest. Eine Reaktionsverspätung werfe ihm der Beklagte nicht vor. Die Vollbremsung des Klägers sei in Anbetracht der unmittelbar drohenden Gefahr eine entschuldbare Schreckreaktion, die kein Mitverschulden begründe. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht, das den Entscheidungsgegenstand mit 30.000 EUR übersteigend bewertete, nicht zu.
[7] Gegen diese Entscheidung richtet sich das als außerordentliche Revision bezeichnete Rechtsmittel des Beklagten wegen Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Abänderungsantrag, das Ersturteil wiederherzustellen.
[8] Der Kläger beantragt in der ihm freigestellten Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[9] Die außerordentliche Revision ist zulässig und im Sinn einer Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen auch berechtigt.
[10] Der Beklagte rügt als Verfahrensmangel, das Berufungsgericht habe – ohne dies zu erörtern (§ 182a ZPO) – die Feststellungen des Erstgerichts unzulässig dahin umgedeutet, dass er die Fahrbahn im rechten Winkel überquert und sich nicht eingeordnet habe. Daran anknüpfend habe es ihm ebenfalls unter Verletzung des § 182a ZPO einen Verstoß gegen § 7 Abs 4 iVm § 12 Abs 1 StVO vorgeworfen, den der Kläger aber gar nicht behauptet habe. Das vom Kläger behauptete straßenverkehrsordnungswidrige Verhalten (plötzliches Verlenken des Fahrrades über die Fahrbahnmitte) habe nicht festgestellt werden können, sodass die Klage bei richtiger rechtlicher Beurteilung abzuweisen sei.
Zu I.:
[11] Die Revision richtet sich im Hinblick auf die angestrebte Wiederherstellung des Ersturteils erkennbar auch gegen den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts. Inhaltlich wird damit ein Rekurs erhoben. Zwar schadet die Fehlbezeichnung nicht (RS0036258), allerdings ist der Rekurs nicht zulässig. Die Zulässigkeit des Rekurses gegen einen berufungsgerichtlichen Aufhebungsbeschluss setzt nicht nur eine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO, sondern auch die Zulässigerklärung des Rekurses durch das Berufungsgericht voraus. Wird ein solcher Ausspruch – wie hier – unterlassen, ist der Rekurs unzulässig (RS0043880).
[12] Da aufgrund der Revisionsentscheidung auch überhaupt keine weitere Behandlung des von der Aufhebung umfassten Klagebegehrens mehr stattzufinden hat, kann der Oberste Gerichtshof über den vom Aufhebungsbeschluss betroffenen Teil nicht entscheiden (RS0040804 [T4]; Musger in Fasching/Konecny³ § 519 ZPO Rz 101). Allerdings entfällt in einem solchen Fall die Bindung des Erstgerichts an eine dem Aufhebungsbeschluss zugrundeliegende, vom Obersten Gerichtshof nicht geteilte Rechtsauffassung (RS0042279). Vielmehr ist das Erstgericht im fortgesetzten Verfahren an die Rechtsansicht des Obersten Gerichtshofs gebunden (3 Ob 73/20m; RS0042279 [T3]).
Zu II.:
[13] 1. Dass der Kläger gegenüber dem Beklagten bevorrangt war, ziehen die Parteien nicht in Zweifel. Gemäß – dem hier maßgeblichen – § 19 Abs 7 StVO darf der Wartepflichtige durch Kreuzen, Einbiegen oder Einordnen die Lenker von Fahrzeugen mit Vorrang weder zu unvermittelten Abbremsen noch zum Ablenken ihrer Fahrzeuge nötigen.
[14] 2. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist das Fahrmanöver des Beklagten nicht unter § 7 Abs 4 StVO zu subsumieren, weil ein Zufahren ein Halten oder Parken am linken Fahrbahnrand voraussetzt (RS0074452).
[15] 3. Durch § 19 Abs 7 StVO soll sichergestellt werden, dass der Wartepflichtige nicht nur durch den Beginn seines die Fahrweise des Vorrangberechtigten allenfalls beeinträchtigenden Fahrmanövers (Kreuzen, Einbiegen oder Einordnen), sondern durch die Durchführung dieses Fahrmanövers bis zu seiner Beendigung den Vorrangberechtigten nicht in der in dieser Gesetzesstelle dargestellten Weise behindern, also zu unvermitteltem Bremsen oder zum Ablenken seines Fahrzeugs nötigen darf (RS0074800). Eine Nötigung iSd § 19 Abs 7 StVO liegt nicht vor, wenn dem Vorrangberechtigten nur eine geringfügige Ermäßigung seiner Geschwindigkeit zugemutet wird (RS0074524), wobei aber schon die Veranlassung zu einer mittleren Betriebsbremsung einer Nötigung zum unvermittelten Bremsen und damit einer Vorrangverletzung entspricht (RS0074524 [T9]).
[16] Bei einer Nötigung zu einem unvermittelten Bremsen iSd § 19 Abs 7 StVO kann eine Vorrangverletzung auch dann eintreten, wenn das wartepflichtige Fahrzeug die Fahrbahnmitte nicht überschritten, den richtungsbeibehaltenden Bevorrangten aber dennoch durch seine Fahrweise zu einem jähen und unvermittelten Abbremsen genötigt hat (RS0059132 [T3]).
[17] 4. Im konkreten Fall konnte zwar eine Vorrangverletzung durch Eindringen in den Fahrkanal des Klägers nicht festgestellt werden. Ob der Beklagte den Kläger aber durch sein Fahrverhalten bei Annäherung zur Fahrbahnmitte zu einem jähen und unvermittelten Abbremsen genötigt hat, kann aufgrund der vorliegenden – im Rahmen des geltend gemachten Klagegrundes „Vorrangverletzung“ liegenden und daher nicht unzulässig überschießenden (vgl (RS0040318; RS0036933 [T6]) – Feststellungsgrundlage noch nicht abschließend beurteilt werden. Das Erstgericht stellte lediglich fest, dass der Beklagte den einbiegenden Kläger beim Überqueren der Weingartenstraße und der Kläger den sich auf der Weingartenstraße befindlichen Beklagten beim Linkseinbiegen bemerkte. Um die behauptete Vorrangverletzung abschließend beurteilen zu können, bedarf es genauerer Feststellungen zu der Position der Beteiligten bei wechselseitiger Sicht(‑möglichkeit) und deren Fahrmanövern.
[18] 5. Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren daher aufzuheben, soweit sie nicht vom Aufhebungsbeschluss betroffen sind. Dies gilt für das Zahlungsbegehren.
[19] 6. Mit seiner Mängelrüge wird der Kläger auf diese Entscheidung und die Möglichkeit verwiesen, nun ohnehin ergänzendes Vorbringen zu seiner Fahrlinie zu erstatten.
[20] 7. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
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