OGH 6Ob60/24b

OGH6Ob60/24b15.5.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Hofer‑Zeni‑Rennhofer, Dr. Faber, Mag. Pertmayr und Dr. Weber als weitere Richter in der Außerstreitsache des Antragstellers M*, Türkei, vertreten durch Mag. Maximilian Muthsam, Rechtsanwalt in Krems an der Donau, wider die Antragsgegnerin L*, vertreten durch Mag. Britta Schönhart‑Loinig, Rechtsanwältin in Wien, wegen Rückführung des Minderjährigen J*, geboren * 2021, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Landesgerichts Krems an der Donau als Rekursgericht vom 19. Februar 2024, GZ 2 R 119/23x‑44, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Krems an der Donau vom 11. September 2023, GZ 17 Ps 52/23v‑35, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0060OB00060.24B.0515.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiete: Familienrecht (ohne Unterhalt), Internationales Privat- und Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die angefochtenen Entscheidungen werden dahin abgeändert, dass der Beschluss zu lauten hat:

Der Antrag auf Rückführung des Kindes J*, geboren * 2021, in das türkische Staatsgebiet wird abgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der * 2021 geborene J* ist der eheliche Sohn von L* (Antragsgegnerin) und M* (Antragsteller). Die Eltern stammen aus Syrien und sind in die Türkei geflüchtet. Beide besitzen die syrische und eine vorläufige türkische Staatsbürgerschaft. Das Kind ist in der Türkei geboren und türkischer Staatsbürger. Im Verfahren ist nicht strittig, dass nach türkischem Recht die Obsorge über das Kind beiden Eltern gemeinsam zukommt.

[2] Der Antragsteller hielt sich von 7. 3. bis 28. 8. 2022 in Kuwait auf, um dort Arbeit zu finden. In dieser Zeit hatte er keinen Kontakt zum Kind, das mit der Antragsgegnerin in der Türkei verblieb. Nach seiner Rückkehr in die Türkei lebten die Parteien mit dem Kind bei den väterlichen Großeltern. Nach einem Streit zwischen den Parteien am 26. 10. 2022 – die Antragsgegnerin machte dem Antragsteller unter anderem Vorhalte wegen festgestellter Gewaltausübung gegen sie – entschied der Antragsteller, dass die Antragsgegnerin und das Kind zu den etwa 400 Kilometer entfernt in der südostanatolischen Stadt Şanlıurfa lebenden mütterlichen Großeltern fahren und dort auf unbestimmte Zeit bleiben sollten. Den Wunsch der Antragsgegnerin, sie und das Kind wenigstens mit dem Auto hinzubringen, lehnte er ab, weil er „keine Lust dazu“ hatte und sich das Auto seiner Familie nicht für zwei Tage ausborgen wollte. Er brachte die Antragsgegnerin und das Kind lediglich zur Bushaltestelle, von wo aus die Antragsgegnerin die Reise mit dem Bus antrat.

[3] Danach standen die Parteien über WhatsApp und soziale Medien in Kontakt, der Antragsgegner meldete sich jedoch immer weniger. Nachdem er sich im November 2022 zehn Tage lang gar nicht gemeldet hatte, schrieb ihm die Antragsgegnerin sinngemäß, dass er sich nicht mehr melden brauche und sie anderes zu tun habe als ihm Fotos zu schicken, wenn er das gerade wolle. Daraufhin endete der Kontakt zwischen den Parteien ganz. Der Antragsteller schickte kaum Geld und zeigte wenig Interesse am Kind. Er besuchte die Antragsgegnerin und das Kind kein einziges Mal. Ab Jänner 2023 lebte er in Istanbul, fand dort Arbeit und verdiente endlich relativ gut, schickte aber trotzdem insgesamt nur eine etwa 100 EUR entsprechende Summe Geldes. Nach den Feststellungen war er am Kind „zumindest schon ein bisschen interessiert“, aufgrund des Streits mit der Mutter fehlte ihm aber der Zugang und er bemühte sich auch nicht darum.

[4] Anfang Februar 2023 ereignete sich am Wohnort der Antragsgegnerin und des Kindes ein schweres Erdbeben, aufgrund dessen die beiden aus ihrem Wohnhaus flüchten mussten. Erst aus diesem Anlass nahm der Antragsteller wieder Kontakt auf und „wünschte sich“, dass die Antragsgegnerin und das Kind nach Istanbul kämen, um vor weiteren Erdbeben sicherer zu sein. Er fuhr allerdings nicht hin, um sie zu besuchen oder abzuholen, und bot ihnen auch nicht an, bei ihm zu wohnen. Auch nach den kurz darauf einsetzenden massiven Regenfällen und Überschwemmungen Anfang März 2023 kam er nicht, um sich um die Antragsgegnerin und das Kind zu kümmern. Die Antragsgegnerin entschied sich daher, ins Ausland zu gehen, um ein besseres Leben für sich und das Kind zu haben, und reiste mit dem Kind nach Österreich. Zum Zeitpunkt der Beschlussfassung erster Instanz war in Österreich ein Asylverfahren anhängig. Die Antragsgegnerin ist die Hauptbezugsperson des Kindes.

[5] Der Antragsteller beantragte die Rückführung des Kindes in die Türkei. Die Antragsgegnerin habe es im März 2023 widerrechtlich nach Österreich verbracht. Er habe den Kontakt zum Kind nicht abgebrochen. Er habe versucht, die Antragsgegnerin und das Kind aus dem Erdbebengebiet zurückzuholen, was die Antragsgegnerin grundlos abgelehnt habe. Die von ihm abgegebene Zustimmungserklärung zur Ausreise der Antragsgegnerin mit dem Kind habe nur den Zweck gehabt, zu ihm nach Kuwait reisen zu können, decke jedoch nicht die Verbringung des Kindes nach Österreich.

[6] Die Antragsgegnerin hielt dem Rückführungsantrag entgegen, der Antragsteller habe nach dem „Hinauswurf“ von ihr und dem Kind sein Sorgerecht nicht mehr ausgeübt. Er habe das Kind weder betreut noch dessen soziales Umfeld geregelt. Er habe ihre Bitte, das Kind nach dem Erdbeben in Sicherheit zu bringen, abgelehnt. Darüber hinaus habe er der Ausreise des Kindes ins Ausland vorweg zugestimmt. Eine Rückführung des Kindes in die Türkei gefährde das Kindeswohl, weil der Antragsgegnerin dort eine Zwangsrückführung nach Syrien drohe, wo eine unsichere Lage herrsche.

[7] Die Vorinstanzen ordneten die Rückführung des Kindes in das türkische Staatsgebiet sowie die zwangsweise Durchsetzung der Rückführung an.

[8] Das Erstgericht führte aus, der Antragsteller habe sein Sorgerecht durch Nachfragen und Ersuchen um Fotos sowie das Senden von geringen Summen Geldes ausgeübt. Die Zustimmungserklärung des Vaters zu Auslandsreisen decke nicht das Verbringen des Kindes auf Dauer. Zwar würde eine Trennung des Kindes von der Antragsgegnerin im Zuge einer Rückführung des Kindes in die Türkei die schwerwiegende Gefahr eines seelischen Schadens des Kindes mit sich bringen. Eine solche Trennung sei mit einer Rückführung aber nicht notwendig verbunden, weil der Antragsgegnerin die Rückkehr in die Türkei zumutbar sei.

[9] Das Rekursgericht erblickte eine (ausreichende) tatsächliche Ausübung der Obsorge durch den Antragsteller darin, dass er eine Zustimmungserklärung abgegeben habe, die der Antragsgegnerin die Ausreise mit dem Kind nach Kuwait ermöglicht hätte; weiters darin, dass er sich nach der Verbringung des Kindes nach Österreich um ein Visum für eine (eigene) Einreise nach Österreich bemühte. Das Rekursgericht ließ den Revisionsrekurs nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

[10] Der außerordentliche Revisionsrekurs der Antragsgegnerin ist zulässig und berechtigt.

[11] 1. Voraussetzung für die Anwendung des Art 3 HKÜ ist die Verletzung eines tatsächlich ausgeübten Obsorgerechts oder Mitobsorgerechts (RS0106625; vgl RS0106624).

[12] Zudem ist nach Art 13 Abs 1 lit a Fall 1 HKÜ die Rückgabe des Kindes unter anderem dann nicht anzuordnen, wenn die Person, der die Sorge für die Person des Kindes zustand, das Sorgerecht zur Zeit des Verbringens des Kindes tatsächlich nicht ausgeübt hat.

[13] Auf die Frage, in welchem Verhältnis die Bestimmungen des Art 3 lit b und des Art 13 Abs 1 lit a Fall 1 HKÜ zu einander stehen – Neumayr/Nademleinsky schlagen eine Auslegung vor, nach der die tatsächliche Ausübung der Obsorge nicht schon eine Eingangshürde für die Anwendung des HKÜ darstellt, sondern als Verteidigungseinrede in die Beweislast des Entführers fällt (Neumayr/Nademleinsky, Internationales Familienrecht³ [2022] Rz 9.21; Nademleinsky in Gitschthaler, Internationales Familienrecht [2019] Art 3 HKÜ Rz 22, Art 13 HKÜ Rz 4) – kommt es im vorliegenden Fall nicht an, weil sich die Antragsgegnerin im Verfahren auf die Nichtausübung der Obsorge durch den Antragsteller gestützt hat und die getroffenen Feststellungen zur Beurteilung ausreichen, sodass Fragen der Beweislast nicht entscheidend sind.

[14] 2.1. In älteren Entscheidungen hat der Oberste Gerichtshof ausgesprochen, bei einer Trennung der Eltern erfülle in der Regel nur derjenige Elternteil die Voraussetzung eines tatsächlich ausgeübten Sorgerechts, bei dem das Kind wohne. Die Ausübung eines bloßen Umgangsrechts genüge nicht (vgl RS0106625 [T5, T11]).

[15] 2.2. Der Oberste Gerichtshof hat die in diesem Rechtssatz indizierten Entscheidungen bereits in der Entscheidung 6 Ob 167/14y analysiert und folgende Fallgruppen herausgearbeitet:

[16] Eine Reihe von Entscheidungen betraf Fälle, in denen der eine Elternteil allein obsorgeberechtigt und der andere (lediglich) umgangsberechtigt war (vgl die Darstellung in 6 Ob 167/14y [ErwGr 1.] und die dort als Beispiele genannten Entscheidungen 7 Ob 35/97s, 1 Ob 167/08b und 6 Ob 73/12x). Eine solche Konstellation ist im hier zu beurteilenden Fall nicht gegeben; es ist vielmehr unstrittig, dass den Parteien die gemeinsame Obsorge zukommt.

[17] Wie bereits zu 6 Ob 167/14y herausgearbeitet, hat der Oberste Gerichtshof diesen Grundsatz auch in Fällen angewandt, in denen beiden Eltern die (gemeinsame) Obsorge zukam, der entführende Elternteil also (lediglich) in die Mitobsorge des anderen Elternteils eingriff. Dabei identifizierte er einerseits Fälle, in denen der nicht hauptbetreuende Elternteil das ihm eingeräumte Umgangsrecht „weit über ein klassisches Wochenend- beziehungsweise Ferienbesuchsrecht“ hinaus ausübte (vgl die Darstellung in 6 Ob 167/14y [ErwGr 2.1.] sowie die dort zitierten Entscheidungen 1 Ob 163/09s, 5 Ob 227/10h und 6 Ob 36/13g), weshalb ihm gegenüber eine Sorgerechtsverletzung bejaht wurde.

[18] Zum anderen ging es um Fälle, in denen die tatsächliche Kontaktausübung zwischen dem Kind und dem anderen Elternteil in einem Ausmaß erfolgte, welches ein „klassisches Wochenend- beziehungsweise Ferienbesuchsrecht“ bei Weitem unterschritt und dieser Elternteil außerdem jenseits der Besuchskontakte am Leben des Kindes keinen Anteil nahm, keinerlei Entscheidungen mittraf und insbesondere sein Recht nicht ausübte, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen (vgl 6 Ob 167/14y [ErwGr 2.2.] sowie die dort zitierten Entscheidungen 6 Ob 139/10z und 6 Ob 230/12k; vgl auch 6 Ob 107/14z); in diesen Fällen wurde die Sorgerechtsverletzung verneint.

[19] In dem zu 6 Ob 230/12k entschiedenen Fall hatte der Vater mehr als ein Jahr vor dem Verbringen des Kindes keinen Besuchskontakt mehr zu diesem gehabt, hatte allerdings via Telefon und Skype Kontakt gehalten. In dem zu 6 Ob 139/10z entschiedenen Fall hatte das Kind zwar alle ein bis zwei Monate Besuchskontakt zum Vater, dieser nahm aber darüber hinaus am Leben des Mädchens keinen Anteil, traf keinerlei Entscheidungen mit und übte sein Recht, den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen, nicht aus.

[20] 2.3. In der Literatur wird an der – wenn auch, wie dargestellt, differenziert zu betrachtenden – Rechtsprechung, wonach bei getrennt lebenden Eltern in der Regel nur derjenige Elternteil, bei dem das Kind wohnt, das Sorgerecht tatsächlich ausübt, seit langem Kritik geübt.

[21] Nach Nademleinsky/Neumayr (Internationales Familienrecht³ Rz 9.22; so bereits die erste Auflage [2007] Rz 09.07; Nademleinsky in Gitschthaler, Internationales Familienrecht [2019] Art 13 HKÜ Rz 7; vgl auch Gitschthaler in Schwimann/Kodek, Praxiskommentar4 Bd 1a § 162 ABGB Rz 15) geht es nicht darum, ob der Elternteil, dem das Kind entzogen wurde, mehr oder weniger als ein „klassisches Wochenend- oder Ferienbesuchsrecht“ ausgeübt habe. Richtigerweise sei die tatsächliche Ausübung der Obsorge iSd Art 3 HKÜ nur in Situationen zu verneinen, in denen ein sorgeberechtigter Elternteil in dem der Entführung vorangegangenen Zeitraum objektiv kein Interesse für das Kind mehr gezeigt habe.

[22] Aus der Zielsetzung des HKÜ, das Kind in jene familiäre, emotionale und soziale Umgebung zurückzuführen, aus der es plötzlich herausgerissen wurde, leitet Nademleinsky ab, dass die tatsächliche Ausübung des Sorgerechts in einem praktischen Sinn als Ausdruck des Interesses am Kind und an der Teilnahme an seinem Leben zu verstehen sei (Nademleinsky in Gitschthaler, Internationales Familienrecht [2019] Art 3 HKÜ Rz 23, Art 13 Rz 5 f).

[23] 2.4. Auch nach der deutschen Kommentarliteratur ist der Ablehnungsgrund der Nichtausübung des Sorgerechts eng zu verstehen und soll nur Fälle erfassen, in denen Sorge und Umgang überhaupt nicht oder nur selten und unregelmäßig ausgeübt wurden (Heiderhoff in Münchener Kommentar zum BGB9 [2024] Art 13 HKÜ Rz 6; Pirrung in Staudinger [2018] Vorbem E zu Art 19 EGBGB Rz E32).

[24] Die Berücksichtigung einer Trennung des Sorgeberechtigten vom Kind während eines nur kurzen Zeitraums vor der Verbringung ins Ausland würde der Intention, nur demjenigen Elternteil ein Rechtsschutzbedürfnis zubilligen, der infolge seines Verhaltens vor der Entführung emotionale und soziale Bindungen zum Kind geschaffen oder sich zu schaffen bemüht habe, nicht gerecht (Beschluss des [deutschen] Bundesverfassungsgerichts vom 2. 9. 2002, 1 BVR 1863/01).

[25] 2.5. Der Oberste Gerichtshof hat die Kritik der Lehre bereits mehrfach aufgegriffen (6 Ob 139/10z; 6 Ob 230/12k; 6 Ob 167/14y; vgl auch 6 Ob 36/13g).

[26] So wurde in der Entscheidung 6 Ob 167/14y die bisherige Rechtsprechung aufgearbeitet und festgehalten, dass keine Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs ersichtlich waren, in denen bei gemeinsamer Obsorge beider Eltern beziehungsweise jeweiliger Alleinobsorge die tatsächliche Ausübung dieser Mitobsorge schon allein deshalb verneint worden wäre, weil die tatsächlich ausgeübten Kontakte ein „klassisches Wochenend- beziehungsweise Ferienbesuchsrecht bei Weitem unterschritt[en]“ hätten. Tatsächlich habe es sich um Fälle gehandelt, in denen sich der (ebenfalls) sorgeberechtigte Elternteil objektiv nicht mehr für das Kind interessiert habe (6 Ob 139/10z; 6 Ob 230/12k) und in denen auch Nademleinsky/Neumayr eine tatsächliche Ausübung der Mitobsorge verneint hätten (6 Ob 167/14y [ErwGr 5.1.]).

[27] Diesen Maßstab wandte der Oberste Gerichtshof in der Folge auf den zu beurteilenden Fall an (6 Ob 167/14y [ErwGr 5.2.]) und bejahte die tatsächliche Ausübung des Sorgerechts iSd Art 3, 13 HKÜ im Fall eines mitobsorgeberechtigten Vaters, der nach der Trennung von der Mutter des Kindes, der Festlegung des Hauptaufenthalts des Kindes bei der Mutter und einem Abbruch der Kommunikation mit der Mutter wieder aktiv den Kontakt zum Kind gesucht hatte und diesen durch einen gerichtlichen Antrag sowie durch das Bemühen um Einvernehmen mit der Mutter wiederherstellen und eine stabile Beziehung zum Kind aufbauen konnte.

[28] 3.1. Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass der Antragsteller sein Aufenthaltsbestimmungsrecht derart wahrnahm, dass er die Antragsgegnerin mit dem damals 13 Monate alten Kind für unbestimmte Zeit aus der gemeinsamen Wohnung verwies und sie zum Busbahnhof brachte, von wo aus sie zu 400 Kilometer entfernt lebenden Verwandten reisen sollte. Nach dieser von ihm herbeigeführten Haushaltstrennung bestand in den folgenden fünf Monaten (bis zur Verbringung des Kindes nach Österreich) mangels Initiative des Antragstellers keinerlei Besuchskontakt zwischen ihm und dem Kind. Auch den Kontakt mit der Antragsgegnerin über soziale Medien hielt der Antragsgegner nur für wenige Wochen aufrecht; nach einer aus diesem Grund verärgerten Nachricht der Antragsgegnerin unterließ er bis zur Notsituation nach dem Erdbeben mehrere Monate lang auch jegliche Kommunikation mit ihr.

[29] Selbst in der auch das Kind betreffenden Notsituation nach dem Erdbeben im Februar 2022 (die Antragsgegnerin und das Kind mussten aufgrund des Erdbebens aus ihrer Wohnung flüchten) unternahm er keine Schritte, aus denen eine Ausübung der elterlichen Verantwortung gegenüber dem Kind abgeleitet werde könnte: Zwar hegte er den Wunsch, dass die Antragsgegnerin mit dem Kind das Erdbebengebiet verlassen und ins entfernte Istanbul reisen sollte, er bot ihr aber weder eine Wohnmöglichkeit für sie oder das Kind an noch ergeben sich aus dem Akteninhalt Handlungen, die eine Übersiedlung der Antragsgegnerin mit dem Kind nach Istanbul konkret vorbereitetet hätten.

[30] Ein Bemühen, die persönliche Bindung zum noch sehr jungen Kind aufrecht zu erhalten, setzte der Antragsteller nicht.

[31] Dieses Verhalten kann – trotz der verhältnismäßigen kurzen Zeitspanne zwischen Haushaltstrennung und Verbringung des Kindes nach Österreich – nur dahin gedeutet werden, dass der Antragsgegner am Leben des Kindes keinen praktischen Anteil mehr nahm, führte er doch selbst die räumliche Trennung über 400 Kilometer herbei, ohne sich danach aktiv um irgendeine Form des Kontakts zum Kind zu bemühen. Dass sich der väterliche Großvater telefonisch nach dessen Befinden erkundigte, vermag eine tatsächliche Ausübung der Obsorge durch den Antragsteller ebenso wenig zu begründen wie der nicht durch konkrete Schritte begleitete Wunsch, die Mutter möge mit dem Kind nach einer Naturkatastrophe das gefährdete Gebiet verlassen.

[32] 3.2. Das Rekursgericht erblickte eine tatsächliche Ausübung der Obsorge einerseits in einer Handlung des Antragstellers, die vor dem Kontaktabbruch lag (der Ausstellung einer Reiseerlaubnis für die Antragsgegnerin mit dem Kind im März 2022), andererseits darin, dass sich der Antragsteller nach der Verbringung des Kindes nach Österreich um eine Einreise nach Österreich bemühte. Darauf kommt es allerdings nicht an, weil Art 3 und 13 Abs 1 lit a HKÜ bereits nach ihrem klaren Wortlaut auf den Zeitraum vor und nicht nach dem Verbringen oder Zurückhalten des Kindes abstellen (RS0119948).

[33] Bei der vorliegenden Sachlage ist vielmehr insgesamt von einer Situation auszugehen, in der der Antragsteller vor der Verbringung des Kindes nach Österreich ausreichend deutlich – durch den von ihm herbeigeführten Kontaktabbruch und fehlende nachfolgende Bemühungen um eine Beziehung zum Kind – zu erkennen gab, an einer praktischen Teilnahme am Leben des Kindes nicht mehr interessiert zu sein.

[34] Sein Rückführungsantrag ist daher abzuweisen.

[35] 3.3. Auf die weiteren im Revisionsrekurs geltend gemachten rechtlichen Argumente und die im Zusammenhang mit der Gewährung subsidiären Schutzes in Österreich geltend gemachten Neuerungen kommt es somit nicht an.

[36] 4. Zusammengefasst gilt: Die Aussage, bei einer Trennung der Eltern erfülle in der Regel nur der Elternteil, bei dem das Kind lebt, die Voraussetzung der tatsächlichen Ausübung des (Mit‑)Obsorgerechts, wird nicht aufrecht erhalten. Es kommt vielmehr darauf an, ob sich aus den Umständen des Einzelfalls das Fehlen eines Interesses des die Rückführung beantragenden (mit‑)obsorgeberechtigten Elternteils an der Teilnahme am Leben des Kindes ergibt.

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