OGH 7Ob22/24x

OGH7Ob22/24x6.3.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Solé als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, Dr. Weber und Mag. Fitz als weitere Richter in der Rechtssache der gefährdeten Partei DI S* M*, vertreten durch Dr. Kristina Venturini, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Gegner der gefährdeten Partei M* M*, vertreten durch Dr. Waltraud Künstl, Rechtsanwältin in Wien, wegen einstweiliger Verfügung gemäß § 382b und § 382c EO, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Gegners der gefährdeten Partei gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom 29. Dezember 2023, GZ 16 R 312/23f‑4, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0070OB00022.24X.0306.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird gemäß § 402 Abs 4 EO, § 78 EO iVm § 526 Abs 2 Satz 1 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1.1 Ein – wie hier – vom Rekursgericht verneinter Verfahrensmangel kann im Revisionsrekursverfahren nicht mehr geltend gemacht werden (RS0097225 [T7]).

[2] 1.2 Soweit der Antragsgegner als Aktenwidrigkeit „das Fehlen jeglicher Beweisergebnisse für den vom Erstgericht als bescheinigt angesehenen Sachverhalt“ behauptet, unternimmt er in Wahrheit den Versuch einer im Revisionsrekursverfahren unzulässigen Beweisrüge (vgl RS0117019, 7 Ob 70/22b).

[3] 2.1 Für die Beurteilung der Unzumutbarkeit des Zusammenlebens nach § 382b EO [Schutz vor Gewalt in Wohnungen] – ebenso wie jene des Zusammentreffens nach § 382c EO [Allgemeiner Schutz vor Gewalt] (vgl RS0110446 [T16]; 7 Ob 219/22i) – maßgeblich sind Ausmaß, Häufigkeit und Intensität der bereits – auch schon länger zurückliegenden – angedrohten oder gar verwirklichten Angriffe sowie bei – ernst gemeinten und als solche verstandenen – Drohungen die Wahrscheinlichkeit deren Ausführung (RS0110446 [T14]). Nach ständiger Rechtsprechung entspricht jeder körperliche Angriff und jede ernsthafte und substantielle Drohung mit einem solchen dem Unzumutbarkeitserfordernis (RS0110446 [T5]). Es genügt also grundsätzlich schon ein effektiver physischer Angriff oder die Drohung damit (7 Ob 178/17b). Neben einem körperlichen Angriff oder der Drohung mit einem solchen ermöglicht auch ein sonstiges Verhalten („Psychoterror“) derartige Maßnahmen, wenn es eine Schwere erreicht, die die strenge Maßnahme der einstweiligen Verfügung angemessen erscheinen lässt (7 Ob 38/21w mwN).

[4] 2.2 Selbsthilfe (das heißt, eigenmächtige Herstellung eines dem Recht entsprechenden Zustands) ist im Allgemeinen nicht gestattet. Der Staatsbürger hat sich sein Recht nicht selbst zu nehmen, sondern es bei einer Behörde zu suchen. Wenn die Hilfe der Behörde zu spät käme und wenn die Grenzen des Angemessenen eingehalten werden (das heißt, wenn die durch die Rechtsverletzung bedingte Rechtsgutsverletzung zum Werte des durchgesetzten Rechts in einem angemessenen Verhältnis steht), kann Selbsthilfe gerechtfertigt sein (RS0009019, RS0009027).

[5] 3.1 Die Antragstellerin wurde vom Antragsgegner bereits seit Jahren wiederholt gestoßen und geschlagen, wodurch sie Verletzungen erlitt (blaue Flecken, aufgeplatzte Lippe). Als sie bei einem dieser Vorfälle die Wohnung verlassen wollte, stellte der Antragsgegner sich ihr in den Weg, schleifte sie zurück in die Wohnung und sperrte sie ein. Der Antragsgegner, der den Zeugen Jehovas beigetreten war, setzt die Antragstellerin immer wieder unter psychischen Druck, indem er ihr Feiern und das Tragen von Röcken verbot. Als die Antragstellerin ihm ihren endgültigen Trennungswunsch mitteilte, stieß er sie gegen das Bett, hielt sie fest und bedrohte sie mit dem Umbringen. Seit Beginn des Scheidungsverfahrens schreibt der Antragsgegner der Antragstellerin bis zu zehn Nachrichten am Tag; er kommt auch nach seinem Auszug immer wieder unangemeldet in die Wohnung, um die privaten Sachen der Antragstellerin zu durchwühlen und sich Zugriff auf ihren Computer und Zugang zu ihren privaten Unterlagen zu verschaffen.

[6] Am 21. 10. 2023 fand die Antragstellerin bei den Sachen der Kinder einen Kalender des Antragsgegners, in demerihreTätigkeiten fortlaufend dokumentierte, woraus ersichtlich wurde, dass er sie ständig verfolgte und beobachtete. Während eines Telefonats mit dem Sohn erfuhr er, dass die Antragstellerinden Kalender gerade fotografierte. Kurze Zeit später stürzte er aggressiv in die Wohnung, schrie, stieß die Antragstellerin gegen die Couch und fixierte sie mit seinem Körpergewicht, riss ihr das Handy aus der Hand und verließ mit diesem die Wohnung. Nachdem er es auf Werkseinstellungen zurückgesetzthatte, legte er es in das Postfach der Antragstellerin.

[7] 3.2  Die Beurteilung des Rekursgerichts, von einer Angemessenheit der Vorgangsweise im Zusammenhang mit der Abnahme des Handys könne keinesfalls die Rede sein, weshalb schon aus diesem Grund keine zulässige Selbsthilfe vorliege, ist nicht korrekturbedürftig. Damit erübrigt sich ein Eingehen auf die weitwendigen Ausführungen des Antragsgegners, ob das Fotografieren des – behauptetermaßen sensiblen Daten des Antragsgegners beinhaltenden – Kalenders eine unrechtmäßige Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinn der Art 5 und 6 DSGVO darstellt. Darüber hinaus ignoriert der Antragsgegner im Übrigen auch die weitere – gleichfalls nicht zu beanstandende – Rechtsansicht der Vorinstanzen, dass bereits die festgestellten Bedrohungen, die wiederholte – teilweise massive – Gewaltanwendung, die Ausübung von psychischem Druck und die Überwachung des persönlichen Lebensbereichs der Antragstellerin die Erlassung der beantragten einstweiligen Verfügung rechtfertige.

[8] 4. Dieser Beschluss bedarf keiner weiteren Begründung (§ 528a iVm § 510 Abs 3 ZPO).

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