OGH 2Ob214/23v

OGH2Ob214/23v23.1.2024

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Thunhart, MMag. Sloboda, Dr. Kikinger und die Hofrätin Mag. Fitz als weitere Richter in der Verlassenschaftssache nach dem am * 2018 verstorbenen A*, wegen Akteneinsicht, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Pflichtteilsberechtigten G*, vertreten durch Dr. Bernhard Birek, Rechtsanwalt in Schlüßlberg, gegen den Beschluss des Landesgerichts Wels als Rekursgericht vom 13. September 2023, GZ 22 R 215/23h‑210, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Wels vom 26. Juni 2023, GZ 17 A 74/18a‑188, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2024:0020OB00214.23V.0123.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Erbrecht und Verlassenschaftsverfahren

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.

 

Begründung:

[1] Der 2018 verstorbene Erblasser hinterlässt seine erbvertraglich und testamentarisch zur Alleinerbin eingesetzte, unbedingt erbantrittserklärte Ehefrau und drei (pflichtteilsberechtigte) Töchter, von denen die Antragstellerin unter Hinweis auf eine behauptete Erbunwürdigkeit der Witwe gestützt auf das Gesetz ebenfalls eine bedingte Erbantrittserklärung abgegeben hat.

[2] Sie beantragt, die Gerichtskommissärin aufzufordern, binnen 14 Tagen ihren Handakt im Original an das Verlassenschaftsgericht zu übermitteln und Akteneinsicht in diesen zu gewähren. Die Gerichtskommissärin habe ihr Einsicht in ihren Handakt verwehrt, obwohl das Recht auf Akteneinsicht nach Art 6 EMRK vollumfänglich gelte.

[3] Die Gerichtskommissärin und die Witwe führen aus, das Recht auf Akteneinsicht umfasse nur bei Gericht befindliche Akten (Prozessakten). Mangels gesetzlicher Grundlage sei der beider Gerichtskommissärin angelegte Handakt, der nur aus internen Mitteilungen, Aufzeichnungen, Besprechungsprotokollen etc bestehe, davon nicht erfasst.

[4] Das Erstgericht wies den Antrag ab.

[5] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Das Recht auf Akteneinsicht beziehe sich nur auf den tatsächlich vorhandenen Gerichtsakt, nicht aber auf den nicht bei Gericht erliegenden Handakt der Gerichtskommissärin.

[6] Dagegen richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Pflichtteilsberechtigten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Hinweis auf Art 6 MRK sowie die Rechtsstellung der Gerichtskommissärin als Rechtspflegeorgan und dem Abänderungsantrag, ihr Akteneinsicht in den Handakt der Gerichtskommissärin zu gewähren.

[7] Die Witwe beantragt, den Revisionsrekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[8] Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, aber nicht berechtigt.

[9] 1. Auch bloß verfahrensrechtliche Entscheidungen (hier: Akteneinsicht) sind schon wegen ihres Einflusses auf die Entscheidung in der Hauptsache als solche vermögensrechtlicher Natur anzusehen, wenn die Hauptsache (hier: Verlassenschaftsverfahren) vermögensrechtlicher Natur ist (RS0010054 [T19]). Eine Rückstellung des Akts an das Rekursgericht zur Nachholung der unterbliebenen Bewertung ist aber entbehrlich, weil der Entscheidungsgegenstand im Hinblick auf das Vermögen des Erblassers eindeutig 30.000 EUR übersteigt (RS0007073 [T10]), sodass ein außerordentlicher Revisonsrekurs erhoben werden kann (§ 62 Abs 5 AußStrG).

[10] 2. Akteneinsicht ist die – einmalige (vgl RS0037263 [T12]; 2 Ob 68/22x Rz 15) – Informationsaufnahme aus dem Gerichtsakt und soll die effektive Ausübung des rechtlichen Gehörs sowie die Waffengleichheit garantieren (8 Ob 161/22t Rz 2).

[11] 3. Die Akteneinsicht im Verlassenschaftsverfahren richtet sich nach § 22 AußStrG iVm § 219 ZPO. Nach dieser Bestimmung steht den Parteien die volle Akteneinsicht zu. Bei der Auslegung des Begriffs der Partei im Sinne des § 219 Abs 1 ZPO ist auf das jeweilige Verfahren abzustellen (2 Ob 68/22x Rz 18).

[12] 4. Nach ständiger Rechtsprechung haben Personen im Verlassenschaftsverfahren grundsätzlich (erst dann) Parteistellung, wenn sie eine Erbantrittserklärung abgegeben haben (RS0106608). Vorher sind sie von jeder Einflussnahme auf den Gang der Abhandlung ausgeschlossen (RS0006398). Die Antragstellerin ist aufgrund der abgegebenen Erbantrittserklärung Partei des Verlassenschaftsverfahrens und daher schon deshalb zur vollen Akteneinsicht berechtigt.

[13] 5. Die Akteneinsicht umfasst grundsätzlich sämtliche die Rechtssache der Parteien betreffenden, bei Gericht befindlichen Prozessakten. Der Prozessakt besteht aus allen bei Gericht bleibenden schriftlichen Unterlagen über den Rechtsstreit (§ 81 Abs 2 GOG; vgl nunmehr auch § 81a GOG). Er umfasst die Urschriften der Eingaben der Parteien und der anderen Verfahrensbeteiligten, die gerichtlichen Protokolle und Aktenvermerke, die Beweisaufnahmeprotokolle eines beauftragten oder ersuchten Richters und die Beilagen (Urkunden, Beweisstücke, Niederschriften, allenfalls Vollmachten) sowie die Urschriften der Entscheidungen und Verfügungen des Gerichts und auch den allein das Verfahren betreffenden Schriftwechsel mit anderen Behörden, soweit darüber nicht eigene Akten zu bilden sind. Der behördliche Akt ist die eine bestimmte Rechtssache betreffende Sammlung von Aufzeichnungen behördeninterner und ‑externer Vorgänge einschließlich der diese Vorgänge belegenden körperlichen Sachen („materieller Aktenbegriff“; zB auch Bild- und Ton- sowie elektronische Datenträger). Neben den in § 219 ZPO ausdrücklich angeführten Ausnahmen bezieht sich die Akteneinsicht daher nur auf Unterlagen, die zum Bestandteil der Prozessakten gemacht wurden (8 Ob 161/22t Rz 3 ff mwN).

[14] 6. Ausgehend von diesen – allgemeinen, nicht bloß für bestimmte Verfahren geltenden – Grundsätzen hielt der Oberste Gerichtshof bereits fest, dass der nicht bei Gericht erliegende Handakt der Familien- und Jugendgerichtshilfe (6 Ob 162/21y) oder die behördeninterne Dokumentation des Jugendhilfeträgers (8 Ob 161/22t) nicht Gegenstand der Akteneinsicht sind, weil es sich dabei nicht um den tatsächlich vorhandenen Gerichtsakt handelt.

[15] 7. Anwendung dieser Grundsätze auf das Verlassenschaftsverfahren bzw den Handakt des Gerichtskommissärs.

[16] 7.1 Der Gerichtskommissär wird im Verlassenschaftsverfahren als Organ der Rechtspflege tätig (vgl dazu RS0049764 [T2, T3]; Fucik, Akteneinsicht beim Gerichtskommissär – Jenseits notarieller Verschwiegenheitspflichten, NZ 2008/18, 65 [„Rechtspflegeorgan“]). Gemäß § 9 Abs 5 GKG hat der Notar die für die Gerichte geltenden Vorschriften bei seiner Tätigkeit als Gerichtskommissär sinngemäß anzuwenden. Dies gilt insbesondere für den Allgemeinen Teil des AußStrG (Alber/Bodingbauer in Zib/Umfahrer, NO § 9 GKG Rz 10; A. Tschugguel in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I² § 9 GKG Rz 7). Daraus ist aber noch nichts für die Frage gewonnen, ob auch der Handakt des Gerichtskommissärs als solcher Gegenstand der – im Allgemeinen Teil des AußStrG geregelten – Akteneinsicht ist.

[17] 7.2 Die Handakten der Notare enthalten Informationsaufnahmen, Urkundenentwürfe, Schriftwechsel, Aktenvermerke, Besprechungsnotizen, beglaubigte Kopien von Urkunden udgl. Sie werden meist nach Erledigung der Causa nach Namen oder Nummern (beim Notar) geordnet aufbewahrt und dienen der Rekonstruktion seinerzeitiger Vorgänge im Fall verloren gegangener Urkunden oder im Rechtsstreit. Sie unterstützen das Erinnerungsvermögen des Notars und helfen bei der Abwehr von vermeintlichen Schadenersatzansprüchen gegen ihn (Wagner/Knechtl, NO6 § 110 Rz 4; Schön in Zib/Umfahrer, NO § 110 Rz 2 ff). Der (parallel geführte) Handakt des Gerichtskommissärs ist dagegen als solcher nicht Teil des gerichtlichen Verlassenschaftsakts.

[18] 7.3 Davon zu trennen ist der vom Gerichtskommissär als Rechtspflegeorgan geführte – inhaltlich mit dem Handakt allenfalls teilweise deckungsgleiche – gerichtliche Verlassenschaftsakt als Gegenstand der Akteneinsicht, der aus bestimmten Schriftstücken (Pkt 5.) zu bilden ist und daher jene Unterlagen zu umfassen hat, die letztlich bei Gericht zu verbleiben haben.

[19] Durch das AußStrG 2003 wurde der Gerichtskommissär zur zentralen Stelle für die Durchführung des Verlassenschaftsverfahrens. § 144 AußStrG normiert aus diesem Grund, dass im laufenden Verlassenschaftsverfahren alle Eingaben grundsätzlich an den Gerichtskommissär zu richten sind (Schatzl/Spruzina in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I² § 144 Rz 1). Aus der Stellung als über weite Teile mit der Abhandlung der Verlassenschaft betrautes Rechtspflegeorgan im Zusammenhalt mit § 9 Abs 5 GKG resultiert daher, dass der gerichtliche Verlassenschaftsakt nicht nur die an den Gerichtskommissär gerichteten Eingaben, sondern auch die von ihm als Rechtspflegeorgan vorgenommenen Verfahrensschritte (etwa Verfügungen, Zustellungen [zB § 152 Abs 2 AußStrG], Anfragen bei Banken, Schriftverkehr mit Sachverständigen, Aufforderungen [zB § 157 AußStrG], Protokolle, etc) zu umfassen hat. Der Gerichtskommissär ist daher verpflichtet, diese Unterlagen – unabhängig von einer allfälligen Dokumentation auch in seinem Handakt zu internen Zwecken – dem gerichtlichen Verlassenschaftsakt zuzuordnen, der auch Gegenstand der Akteneinsicht ist.

Der (parallel geführte) Handakt des Gerichtskommissärs ist dagegen als solcher nicht Teil des gerichtlichen Verlassenschaftsakts.

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