European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00068.22X.0530.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Witwe auch Einsicht in die E‑Mail des Kollisionskurators Mag. Lukas Till vom 13. Dezember 2020 sowie die angeschlossenen Beilagen gewährt wird.
Begründung:
[1] Nach dem 2019 verstorbenen Erblasser sind dessen erwachsener Sohn, die Witwe und die beiden aus dieser Ehe stammenden minderjährigen Kinder aufgrund des Gesetzes zu Erben berufen. Die Witwe hat aufgrund des Gesetzes im eigenen Namen zu einem Drittel des Nachlasses und namens der minderjährigen Kinder jeweils zu 2/9 des Nachlasses bedingte Erbantrittserklärungen abgegeben
[2] Der Verstorbene war Gesellschafter (90 %) einer GmbH und weiters zu je 1 % an zwei KG, jeweils als Komplementär, beteiligt. Der erwachsene Sohn war und ist mit 10 % an der GmbH beteiligt.
[3] Mit Kodizill vom 16. 2. 2015 vermachte der Verstorbene jeweils als Vermächtnis seinen mj Kindern Geschäftsanteile von jeweils 1/8‑Anteil an der GmbH und seine restlichen Anteile an der GmbH sowie seine Gesellschaftsanteile an den KG seinem erwachsenen Sohn.
[4] Die Witwe erklärte mit notariell beglaubigter Verzichtserklärung vom 15. 3. 2019 auf allfällige Pflichtteilsergänzungsansprüche in Bezug auf die Geschäfts- und Gesellschaftsanteile des Erblassers zu verzichten. Im Gegenzug verzichtete der erwachsene Sohn auf das im Nachlass befindliche Privatvermögen des Erblassers. Er gab aufgrund des Kodizills „zu 65 % in Ansehung des gesamten Stammkapitals der Gesellschaft sowie aufgrund des Gesetzes zum restlichen Nachlasses“ eine bedingte Erbantrittserklärung ab.
[5] Seit 2020 finden Besprechungen über eine mögliche Erbteilung statt. Die – im gesamten Verlassenschaftsverfahren aufgrund einer Interessenkollision mit der ebenfalls erbansprechenden Mutter durch einen Kollisionskurator vertretenen (2 Ob 176/20a) – Kinder erklärten, nicht mehr die Übernahme der ihnen vermachten Geschäftsanteile, sondern deren Abfindung zu bevorzugen.
[6] Ein eingeholtes Sachverständigengutachten ergab einen – von der Witwe als zu gering erachteten – Unternehmenswert von zumindest 3.618.174 EUR. Der Kollisionskurator und der bestellte Verlassenschaftskurator verweigerten die Herausgabe der von der Witwe geforderten Planbilanzen/Prognoserechnung unter Hinweis darauf, diese seien als Geschäftsgeheimnisse anzusehen. Der Sachverständige bestätigte, die Unterlagen bei der Erstellung des Gutachtens gehabt und berücksichtigt zu haben.
[7] Mit E‑Mail vom 13. 12. 2020 übermittelte der Kollisionskurator dem Erstgericht die Planbilanzen/Prognoserechnung. Die Kuratoren und der erwachsene Sohn stimmten einer Einsicht der Witwe in die übermittelten Unterlagen nicht zu.
[8] Diese beantragt, ihr Einsicht in den gesamten Verlassenschaftsakt, auch in das E‑Mail des Kollisionskurators und die angeschlossenen Beilagen zu gewähren. Sie sei als erbantrittserklärte Erbin Partei des Verlassenschaftsverfahrens und habe ohne weitere Voraussetzungen jederzeit das Recht, Akteneinsicht zu nehmen. Die E‑Mail und die angeschlossenen Unterlagen seien keine gesetzlich von der Akteneinsicht ausgenommenen Schriftstücke.
[9] Das Erstgericht gewährte der Witwe Einsicht in den Verlassenschaftsakt, nahm davon jedoch die E‑Mail des Kollisionskurators und die angeschlossenen Beilagen aus. Gemäß § 22 AußStrG seien im Verfahren außer Streitsachen die Bestimmungen der ZPO über die Akten sinngemäß anzuwenden. Das Recht auf Akteneinsicht sei daher nach § 219 ZPO und § 170 Geo zu beurteilen. Gemäß § 26h Abs 2 UWG sei aber die E‑Mail vom 13. 12. 2020 und die dem Gericht übermittelten Planbilanzen/Prognoserechnung als Geschäftsgeheimnis von der Akteneinsicht auszunehmen.
[10] Das Rekursgerichtbestätigte diese Entscheidung. Da der Erblasser über seine Geschäftsanteile mit Kodizill verfügt habe, bestehe zwischen den Vermächtnisnehmern und den Erben in diesem Verfahren eine einem Zivilprozess durchaus vergleichbare Situation, die es geboten erscheinen lasse, § 26h UWG zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen auch in diesem Verfahren anzuwenden. Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil zur Anwendbarkeit des § 26h Abs 2 UWG im Verlassenschaftsverfahren Rechtsprechung fehle.
[11] Gegen diese Entscheidung richtet sich der ordentliche Revisionsrekursder Witwe, mit dem sie die Ausweitung der Akteneinsicht auch auf das E-Mail vom 13. 12. 2020 und die damit vorgelegten Unterlagen anstrebt.
[12] Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und auch berechtigt.
[13] Die Witwe argumentiert, § 26h UWG sei auf das Verlassenschaftsverfahren nicht anzuwenden. Sie hätte vielmehr als Partei uneingeschränkte Akteneinsicht. Überdies seien die Unterlagen für die Ermittlung der Pflichtteils‑ und Erbansprüche wesentlich.
Rechtliche Beurteilung
[14] 1. Auch bloß verfahrensrechtliche Entscheidungen (hier: Akteneinsicht) sind schon wegen ihres Einflusses auf die Entscheidung in der Hauptsache als solche vermögensrechtlicher Natur anzusehen, wenn die Hauptsache (hier: Verlassenschaftsverfahren) vermögensrechtlicher Natur ist (RS0010054). Da das Rekursgericht den ordentlichen Revisionsrekurs ohnehin zugelassen hat, ist eine sonst gebotene Bewertung des Entscheidungsgegenstands entbehrlich (RS0007073 [T5]).
[15] 2. Die Akteneinsicht ist die Informationsaufnahme aus dem Gerichtsakt. Dabei handelt es sich schon begrifflich um einen einmaligen Vorgang und um kein unbefristetes Recht, welches – einmal bewilligt (hier mit Beschluss des Rekursgerichts vom 11. 8. 2020, GZ 43 R 290/20w‑57) – nach Belieben des (einmal) Einsichtsberechtigten immer wiederholt werden könnte. Vielmehr müsste eine neuerliche Akteneinsicht erneut beantragt und darüber neuerlich entschieden werden, können sich doch zwischenzeitig die Bewilligungsvoraussetzungen geändert haben (RS0079198 [T8]).
[16] 3. Nach § 22 AußStrG sind die Bestimmungen der ZPO über Akten im Außerstreitverfahren sinngemäß anzuwenden. Der Antrag der Witwe auf Gewährung von Akteneinsicht ist daher nach § 219 ZPO zu beurteilen (vgl 2 Ob 9/17p 1.).
[17] 4. Gemäß § 219 Abs 1 ZPO können die Parteien in sämtliche ihre Rechtssache betreffenden, bei Gericht befindlichen Akten (Prozessakten) mit Ausnahme der Entwürfe zu Urteilen und Beschlüssen, der Protokolle über Beratungen und Abstimmungen des Gerichts und solcher Schriftstücke, welche Disziplinarverfügungen enthalten, Einsicht nehmen und sich davon auf ihre Kosten Abschriften (Kopien) und Auszüge (Ausdrucke) erteilen lassen.
[18] Bei der Auslegung des Begriffs der Partei im Sinne des § 219 Abs 1 ZPO ist auf das jeweilige Verfahren abzustellen (Rassi in Fasching/Konecny 3 II/3 § 219 ZPO Rz 13). Nach ständiger Rechtsprechung wird der potentielle Erbe mit der Abgabe seiner Erbantrittserklärung Partei des Verlassenschaftsverfahrens (2 Ob 28/21p Rz 6 mwN). Die Parteistellung der Witwe liegt daher unzweifelhaft vor.
[19] Das durch Art 6 MRK geschützte Grundrecht des fair trial macht für die am Verfahren Beteiligten eine generelle Verweigerung des Rechts auf Akteneinsicht und Entnahme von Aktenabschriften, die für die wirksame Rechtsdurchsetzung, insbesondere für die Erhebung von Rechtsmittel unerlässlich sind, unzulässig. Beschränkungen dieses Rechts sind nur in sehr geringem Umfang möglich und bedürfen einer besonderen gesetzlichen Regelung. Die in § 219 Abs 1 ZPO normierten Ausnahmen sind daher, soweit nicht sondergesetzliche Regelungen bestehen, wie durch das Datenschutzgesetz oder bei der Inkognitoadoption, als taxative Aufzählung zu verstehen (RS0110043).
[20] Die E‑Mail vom 13. 12. 2020 sowie die angeschlossenen Beilagen fallen nicht unter die Ausnahmen des § 219 Abs 1 ZPO.
[21] 5. Die Vorinstanzen haben aber in § 26h Abs 2 UWG eine sondergesetzliche Ausnahme erblickt.
§ 26h Abs 2 UWG lautet:
„Das Gericht hat auf Antrag oder von Amts wegen Maßnahmen zu treffen, dass der Verfahrensgegner und Dritte keine Informationen über das Geschäftsgeheimnis erhalten, welche über ihren bisherigen diesbezüglichen Wissensstand hinausgehen. Die allenfalls zu treffenden Maßnahmen können auch umfassen, dass die Offenlegung des behaupteten Geschäftsgeheimnisses nur gegenüber einem vom Gericht bestellten Sachverständigen erfolgt. Der bestellte Sachverständige ist anzuweisen, dem Gericht eine Zusammenfassung vorzulegen, die keine vertraulichen Informationen über das Geschäftsgeheimnis enthält. Darüber hinaus hat er dem Gericht zur Beurteilung sämtliche Unterlagen, den Befund und das Gutachten zu den Geschäftsgeheimnissen vorzulegen und Geschäftsgeheimnisse als solche zu kennzeichnen. Diese Aktenbestandteile sind vom Recht auf Akteneinsicht ausgenommen. Das Gericht hat unbeschadet des Abs. 3 diese schriftlichen Aufzeichnungen über ein Geschäftsgeheimnis in einem gesonderten Aktenteil zu verwahren, der weder dem Verfahrensgegner noch Dritten zugänglich ist.“
[22] Die Bestimmung wurde durch BGBl I 109/2018 eingefügt, dient der Umsetzung des Art 9 der Richtlinie (EU) 2016/943 über den Schutz vertraulichen Know‑hows und vertraulicher Geschäftsinformationen (Geschäftsgeheimnisse) vor rechtswidrigem Erwerb sowie rechtswidriger Nutzung und Offenlegung, ABl Nr L 157 vom 15. 6. 2016 (GG‑RL) und soll spezielle verfahrensrechtliche Bestimmungen über den Schutz von Geschäftsgeheimnissen sowohl des Klägers als auch des Beklagten regeln (ErläutRV 375 BlgNR 26. GP 7).
[23] Gemäß Art 9 GG‑RL stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Parteien, ihre Rechtsanwälte oder sonstige Vertreter, Gerichtsbedienstete, Zeugen, Sachverständige und alle sonstigen Personen, die an einem Gerichtsverfahren beteiligt sind, das den rechtswidrigen Erwerb oder die rechtswidrige Nutzung oder Offenlegung eines Geschäftsgeheimnisses zum Gegenstand hat oder die Zugang zu Dokumenten haben, die Teil eines solchen Gerichtsverfahrens sind, nicht befugt sind, ein Geschäftsgeheimnis oder ein angebliches Geschäftsgeheimnis zu nutzen oder offen zu legen, das von den zuständigen Gerichten aufgrund eines ordnungsgemäß begründeten Antrags einer interessierten Partei als vertraulich eingestuft worden ist und von dem sie aufgrund der Teilnahme an dem Verfahren oder des Zugangs zu den Dokumenten Kenntnis erlangt haben.
[24] 6. Bei der Auslegung der nationalen Vorschrift haben sich die Gerichte so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie zu orientieren (RS0075866). Nach der Richtlinie ist der verfahrensrechtliche Geschäfts-geheimnisschutz nur dann zu gewähren, wenn es sich um ein Verfahren handelt, das den rechtswidrigen Erwerb, die rechtswidrige Nutzung oder Offenlegung eines Geheimnisses zum Gegenstand hat. Die Norm ist daher nicht anwendbar, wenn das Geschäftsgeheimnis nur beiläufig zu Tage tritt. Es werden lediglich Verfahren nach § 26c UWG erfasst, bei denen die rechtswidrige Erlangung oder Verwendung des Geschäftsgeheimnisses den Verfahrensgegenstand an sich bildet (Thiele in Wiebe/Kodek, UWG2 § 26h Rz 10; Rassi, Prozessualer Vertraulichkeitsschutz – Zur Umsetzung der Geschäftsgeheimnisrichtlinie im Verfahrensrecht, ipCompetence 2019/21, 28). Gerade in jenen Verfahren, die die Richtlinie vor Augen hat, ist es erforderlich, die Art der Information zu bewerten, die Gegenstand des Rechtsstreits ist. Inhaber von Geschäftsgeheimnissen sollen aber aufgrund der Notwendigkeit der Prüfung im Gerichtsverfahren nicht von der gerichtlichen Durchsetzung abgeschreckt werden (GG‑RL ErwGr 24 f). Eine Ausdehnung auf Verfahren, die nicht der Wahrung und Durchsetzung von Geschäftsgeheimnissen dienen, lässt sich aus diesem Normzweck daher nicht ableiten. In solchen Verfahren kommen die ohnehin zur Wahrung von Geschäftsgeheimnissen vorhandenen allgemeinen Regeln (§§ 298 Abs 2, 305 Z 4, 321 Abs 1 Z 5, 380 Abs 1 ZPO) zur Anwendung.
[25] Aber auch systematisch-logische Erwägungen sprechen für dieses Ergebnis. Hätte der Gesetzgeber eine generelle, über den Regelungsbereich der GG-RL hinausgehende Anwendung auch in anderen Verfahren intendiert, wäre eine Regelung in den allgemeinen Verfahrensgesetzen und nicht im Rahmen wettbewerbsrechtlicher Sondervorschriften zur Durchsetzung von Geschäftsgeheimnissen zu erwarten gewesen.
Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten:
[26] Der verfahrensrechtliche Geheimnisschutz des § 26h UWG ist auf Verfahren beschränkt, die den rechtswidrigen Erwerb, die rechtswidrige Nutzung oder Offenlegung eines Geheimnisses gemäß §§ 26c ff UWG zum Gegenstand haben. Die Bestimmung stellt daher keine sondergesetzlich geregelte Grundlage zur Einschränkung des einer Partei gemäß § 22 AußStrG iVm § 219 Abs 1 ZPO zustehenden Rechts auf Akteneinsicht im Verlassenschaftsverfahren dar.
[27] 7. Auch sonst ergibt sich keine gesetzliche Grundlage, die mit E‑Mail vom 13. 12. 2020 dem Gericht übermittelten und auch vom Sachverständigen bei seiner Gutachtenserstellung verwerteten Unterlagen von der Akteneinsicht auszunehmen.
[28] Gemäß § 35 AußStrG sind die Bestimmungen der Zivilprozessordnung unter anderem über die einzelnen Beweismittel mit Ausnahme der Bestimmungen über die Gemeinschaftlichkeit der Beweise sinngemäß anzuwenden. Soweit sich die Kuratoren sowie der erwachsene Sohn daher darauf berufen, durch die Zugänglichmachung der Unterlagen gegen Geschäfts‑ oder Betriebsgeheimnisse zu verstoßen, wäre es ihnen offen gestanden, die Urkundenvorlage allenfalls gemäß § 35 AußStrG iVm § 305 Z 4 ZPO zu verweigern. Wurden die Unterlagen aber ins Verfahren eingebracht, besteht keine Grundlage dafür, dass der maßgebende Prozessstoff nur einem Sachverständigen zugänglich gemacht wird und sich dieser im Verfahren lediglich über die von ihm gezogenen Schlüsse äußert (vgl RS0119631).
[29] Dass die Witwe auf allfällige Pflichtteilsergänzungsansprüche im Zusammenhang mit den Gesellschaftsanteilen verzichtet hat, ändert nichts an ihrer Rechtsstellung als Partei des Verlassenschaftsverfahrens und dem daraus resultierenden, mangels sondergesetzlicher Regelung uneingeschränkten Akteneinsichtsrecht. Eine im Verhältnis zu Dritten gemäß § 22 AußStrG iVm § 219 Abs 2 ZPO vorzunehmende Abwägung allfälliger Geheimhaltungsinteressen gegen das Einsichtsinteresse ist bei der Verfahrenspartei nicht vorgesehen.
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