European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0070OB00127.23M.0927.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Versicherungsvertragsrecht
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Der Revision wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 730,97 EUR (darin enthalten 121,83 EUR an USt) bestimmten Kosten des Berufungsverfahrens und die mit 1.364,54 EUR (darin enthalten 762 EUR an Barauslagen und 100,42 EUR an USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Entscheidungsgründe:
[1] Zwischen dem Kläger und der Beklagten besteht ein Kfz‑Kaskoversicherungsvertrag mit einem Selbstbehalt von 330 EUR.
[2] Vor dem Haus des Klägers befindet sich eine Parkfläche, die aus gepflasterten Betonsteinen besteht. Das (Nord-Süd‑)Gefälle der Parkfläche beträgt auf den ersten vier Metern nach der Begrenzung durch eine Steinmauer 1 % und steigt innerhalb der nächsten vier Meter auf bis zu 30 % an. Der Kläger wusste, dass ein auf der Parkfläche abgestelltes Fahrzeug bei nicht entsprechender Absicherung über eine Wegstrecke von nahezu 20 Metern wegrollen und dies zu einem größeren Schaden führen kann.
[3] Das Fahrzeug des Klägers verfügt über ein Schaltgetriebe, eine Handbremse und ein sogenanntes „Hill‑Holdsystem“. Dieses System bewirkt, dass bei Abstellen des Fahrzeugs und kurzem Betätigen des Bremspedals im Leerlauf die Bremse über eine Zeitspanne von etwa 20 Sekunden aktiviert wird und sich anschließend wieder löst. Wenn die Handbremse beim Abstellvorgang nicht aktiviert ist, scheint nach dem Abstellen des Motors auf dem Display im Fahrzeug ein Warnhinweis auf, der für jeden aufmerksamen Kfz-Lenker klar ersichtlich ist. Der Kläger ist mit der technischen Einrichtung des Fahrzeugs gut vertraut.
[4] Am 24. Jänner 2022 stellte der Kläger sein Fahrzeug auf der Parkfläche vor seinem Haus mit der Front in Richtung Norden in etwa auf Höhe der Begrenzung durch eine Steinmauer ab. Ein derart abgestelltes Fahrzeug rollt aufgrund des vorhandenen Gefälles in Richtung Süden ab, wenn weder die Handbremse noch ein Gang eingelegt ist. Der Kläger legte dennoch keinen Gang ein und zog die Handbremse überhaupt nicht an. Er betätigte jedoch kurz das Bremspedal, wodurch sich das „Hill‑Holdsystem“ aktivierte. Anschließend stieg er aus dem Fahrzeug, ohne sich davor zu vergewissern, ob ein Gang eingelegt oder die Handbremse aktiviert war. Nachdem sich die Bremse nach ungefähr 20 Sekunden wieder löste, rollte das Fahrzeug über die Parkfläche nach hinten in Richtung Süden, prallte gegen die nordöstliche Ecke der Gartenhütte des Klägers und wurde dadurch beschädigt.
[5] Der Kläger begehrt die Feststellung der Versicherungsdeckung, in eventu Zahlung von 5.008,80 EUR (Reparaturkosten abzüglich Selbstbehalt). Er habe sein Fahrzeug vor seinem Wohnhaus abgestellt und – soweit erinnerlich – sowohl den Gang eingelegt, als auch die elektronische Handbremse betätigt. Ungeachtet dessen sei das Fahrzeug weggerollt und gegen die Gartenhütte geprallt, wodurch es beschädigt worden sei.
[6] Die Beklagte bestreitet das rechtliche Interesse an der Feststellung und wendet Leistungsfreiheit wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls ein.
[7] Das Erstgericht wies das Hauptbegehren mangels rechtlichen Interesses und das Eventualbegehren wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls ab.
[8] Das Berufungsgericht gab der dagegen vom Kläger erhobenen Berufung teilweise Folge. Es bestätigte die Abweisung des Feststellungsbegehrens, änderte aber das Eventualbegehren im stattgebenden Sinn ab und verpflichtete die Beklagte zur Zahlung von 5.008,80 EUR sA. Das Fahrzeug des Klägers sei durch die „Hill‑Hold‑Funktion“ – wenn auch nur kurzfristig – eingebremst gewesen, weshalb der Kläger auch im Zusammenhang mit dem bestehenden geringen Gefälle von 1 bis 4 % im Bereich der Parkfläche nicht befürchten habe müssen, dass das Fahrzeug wegrollen würde. Da der Kläger somit den Versicherungsfall nicht grob fahrlässig herbeigeführt habe, sei die Beklagte zur Zahlung der Reparaturkosten (abzüglich des Selbstbehalts) verpflichtet.
[9] Über Antrag der Beklagten ließ das Berufungsgericht die Revision nachträglich zu.
[10] Die Beklagte beantragt in ihrer Revision, die angefochtene Entscheidung im Sinn einer gänzlichen Klageabweisung abzuändern.
[11] Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, in eventu ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[12] Die Revision ist zur Wahrung der Rechtssicherheit zulässig, sie ist auch berechtigt.
[13] 1. Gemäß § 61 VersVG ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeiführt.
[14] 2. Im Allgemeinen ist grobe Fahrlässigkeit anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar ist (RS0030644). Das entscheidende Kriterium für die Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist nicht die Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern die Schwere der Sorgfaltsverstöße und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (RS0085332). Grobe Fahrlässigkeit erfordert, dass ein objektiv besonders schwerer Sorgfaltsverstoß bei Würdigung aller Umstände des konkreten Falls auch subjektiv schwerstens vorzuwerfen ist (RS0030272). In diesem Sinn ist für das Versicherungsvertragsrecht anerkannt, dass grobe Fahrlässigkeit dann gegeben ist, wenn schon einfachste, naheliegende Überlegungen nicht angestellt und Maßnahmen nicht ergriffen werden, die jedermann einleuchten müssen (RS0030331 [T6]; RS0080371 [T1]). Eine Reihe jeweils für sich allein nicht grob fahrlässiger Fehlhandlungen kann in ihrer Gesamtheit grobe Fahrlässigkeit begründen. Voraussetzung hiefür ist, dass sie in ihrer Gesamtheit als den Regelfall weit übersteigende Sorglosigkeit anzusehen sind (RS0030372).
[15] Gemäß § 23 Abs 5 StVO ist der Lenker eines Kraftfahrzeugs verpflichtet, dieses vor dem Verlassen so zu sichern, dass es nicht abrollen kann. Welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um das Abrollen eines Fahrzeugs zu verhindern, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (RS0075129). Selbst ein Verstoß gegen Schutzgesetze wie etwa die StVO bedeutet als solcher nicht schon grobe Fahrlässigkeit, sondern muss der ohne Zweifel objektiv besonders schwere Verstoß auch subjektiv schwerstens vorwerfbar sein (RS0111723).
[16] Die höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage der hinreichenden Sicherung eines Kfz (vor allem beim Abstellen gegenüber abschüssigen Straßenlagen einerseits sowie gegenüber einem Diebstahl andererseits) iSv § 61 VersVG ist vornehmlich von den Erwägungen bestimmt, ob es der Versicherungsnehmer bewusst bei einer unzureichenden Sicherung beließ, und in welchem Umfang der drohende Schadenseintritt für den Versicherungsnehmer evident war bzw zumindest evident sein musste. Der Tatbestand des § 61 VersVG wird dann als erfüllt angesehen, wenn der Lenker auf einer abschüssigen Straße bewusst nur einen Gang eingelegt, die Betätigung der Handbremse aber unterlassen hat, hingegen verneint, wenn sich die objektiv ex ante als ausreichend anzusehende Absicherung nur ex post, und zwar aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls, als unzureichend erwiesen hat (vgl 7 Ob 58/77).
[17] 3. Der Kläger war im vorliegenden Fall sowohl mit den Örtlichkeiten als auch mit den technischen Einrichtungen seines Fahrzeugs, wozu auch das „Hill‑Holdsystem“ zählt, gut vertraut. Er wusste daher, dass dieses System beim Abstellen des Fahrzeugs und kurzem Betätigen des Bremspedals im Leerlauf die Bremse nur über eine Zeitspanne von etwa 20 Sekunden aktiviert und sich die Bremse anschließend wieder löst. Weiters steht fest, dass er weder einen Gang einlegte noch die Handbremse – trotz eines Warnhinweises am Display – betätigte und das Fahrzeug in einem Bereich abstellte, in dem leichtes (aber rasch und stark zunehmendes) Gefälle besteht. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist den getroffenen Feststellungen nicht zu entnehmen, der Kläger sei irrtümlich davon ausgegangen, er habe das Fahrzeug dauerhaft ordnungsgemäß abgesichert. Anders als hier hatte der Fahrer in 7 Ob 142/22s den ersten Gang eingelegt und keinen Grund zur Annahme, dass der Gang nicht eingerastet, das Fahrzeug also nicht dauerhaft gegen Wegrollen abgesichert gewesen war. Die genannte Entscheidung und der vorliegende Fall sind daher – worauf die Revision zutreffend hinweist – nicht vergleichbar.
[18] Auch ergibt sich aus den Feststellungen kein Hinweis auf ein „Augenblicksversagen“ (vgl dazu Vonkilch in Fenyves/Perner/Riedler, § 61 VersVG Rz 42) des Klägers.
[19] Insgesamt ist das festgestellte Verhalten des Klägers bei den festgestellten örtlichen Gegebenheiten daher nicht mehr als nur leicht fahrlässig einzustufen. Das Ziehen der Handbremse und/oder Einlegen eines Gangs beim Abstellen des Fahrzeugs auf einem Parkplatz mit Gefälle ist auch bei Vorliegen eines „Hill‑Holdsystems“ eine einfache und naheliegende Maßnahme, um das Wegrollen des Fahrzeugs zu verhindern, weshalb der Sorgfaltsverstoß dem Kläger auch subjektiv schwer vorwerfbar ist. Durch das Abrollen des Fahrzeugs aufgrund der unterbliebenen Absicherung des Klägers und den Aufprall an der Gartenhütte verwirklichte sich auch genau jene Gefahr, der das Schutzgesetz des § 23 Abs 5 StVO entgegenwirken will.
[20] 4. Da der Kläger den Versicherungsfall somit grob fahrlässig herbeigeführt hat, ist die Beklagte gemäß § 61 VersVG leistungsfrei.
[21] 5. Der Revision der Beklagten war daher Folge zu geben und die Entscheidung des Erstgerichts wiederherzustellen.
[22] 6. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO.
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