European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0150OS00088.23I.0830.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Im Verfahren AZ 82 Hv 165/22t des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzt der Beschluss vom 11. Jänner 2023 (ON 21.1), mit welchem vom Widerruf der mit Urteil des Bezirksgerichts Schärding vom 10. Mai 2021, GZ 1 U 42/21v-7, gewährten bedingten Strafnachsicht abgesehen und die Probezeit auf fünf Jahre verlängert wurde, § 494a Abs 3 StPO und § 86 Abs 1 StPO.
Dieser Beschluss wird (ersatzlos) aufgehoben.
Gründe:
[1] Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 11. Februar 2022, GZ 17 Hv 53/21f-43, wurde * As* des Vergehens der schweren Sachbeschädigung nach §§ 125, 126 Abs 1 Z 3 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Unter einem fasste das Gericht den Beschluss, gemäß § 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO vom Widerruf der mit Urteil des Bezirksgerichts Schärding mit vom 10. Mai 2021, AZ 1 U 42/21v, gewährten bedingten Strafnachsicht unter Verlängerung der Probezeit auf fünf Jahre abzusehen (AZ 1 U 42/21v des Bezirksgerichts Schärding [ON 17 S 9 ff]).
[2] Der dagegen erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft gab das Oberlandesgericht Graz als Berufungsgericht mit Beschluss vom 4. November 2022, AZ 8 Bs 270/22z, nicht Folge (AZ 1 U 42/21v [ON 17 S 5 ff]).
[3] Mit Verfügung vom 24. November 2022 ersuchte das Landesgericht für Strafsachen Wien im gegen * A* zu AZ 82 Hv 165/22t geführten Verfahren (offenbar ausgehend von Personenidentität) das Bezirksgericht Schärding um Übermittlung des dortgerichtlichen Aktes AZ 1 U 42/21v (ON 1.3). Dieses teilte daraufhin mit, dass der in Bezug auf das Verfahren gegen * As* wegen § 50 Abs 1 Z 3 WaffG geführte Akt dem Bezirksgericht Josefstadt zu AZ 15 U 64/22y übermittelt und von diesem offenbar nach der dort am 18. Oktober 2022 durchgeführten Hauptverhandlung dem Oberlandesgericht Graz zu AZ 8 Bs 270/22z weitergeleitet worden sei; dort befinde er sich derzeit (AZ 82 Hv 165/22t [ON 7.1]).
[4] Entgegen der Pflicht zur unverzüglichen Verständigung gemäß § 494a Abs 7 StPO (vgl RIS-Justiz RS0101932) verfügte der Vorsitzende des Landesgerichts für Strafsachen Graz im gegen * As* zu AZ 17 Hv 53/21f geführten Verfahren die Übermittlung einer den Beschluss nach § 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO enthaltenden Ausfertigung des (erstinstanzlichen) Urteils vom 11. Februar 2022 an das Bezirksgericht Schärding zu AZ 1 U 42/21v erst am 2. Jänner 2023, und zwar unter einem mit der bezughabenden Rechtsmittelentscheidung des Oberlandesgerichts Graz, AZ 8 Bs 270/22z (AZ 1 U 42/21v [ON 17 S 3]).
[5] In der am 11. Jänner 2023 zu AZ 82 Hv 165/22t des Landesgerichts für Strafsachen Wien durchgeführten Hauptverhandlung verlas der Einzelrichter – nach der Anhörung des Angeklagten * A* – in Bezug auf den Akt AZ 1 U 42/21v des Bezirksgerichts Schärding nur die gekürzte Urteilsausfertigung (vgl ON 21 S 8).
[6] Mit Urteil vom gleichen Tag erkannte das Landesgericht für Strafsachen Wien * A*des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB sowie des Vergehens des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 erster Fall, Abs 2 StGB schuldig und verhängte über ihn eine bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe. Unter einem fasste der Einzelrichter den Beschluss, gemäß § 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO vom „Widerruf der * A* zu 1 U 42/21v des BG Schärding gewährten bedingten Strafnachsicht“ abzusehen und die diesbezügliche Probezeit auf fünf Jahre zu verlängern.
[7] Nach den Entscheidungsgründen wies der (am 7. Jänner 1999 in Ar-Raqqa) geborene syrische Staatsangehörige * A* fünf Vorstrafen auf, wobei er zuletzt mit Urteil des Bezirksgerichts Schärding vom 10. Mai 2021, GZ 1 U 42/21v-7, des Vergehens nach § 50 Abs 1 Z 3 WaffG schuldig erkannt und zu einer für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwei Monaten, verurteilt worden war (US 3).
[8] Die Feststellungen zur Vorstrafenbelastung des Angeklagten * A*, insbesondere auch zu der dem Beschluss gemäß § 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO zugrundeliegenden Vor-Verurteilung stützte das Erstgericht auf die Strafregisterauskunft ON 18 (US 5).
[9] Jene enthält den Hinweis, dass eine Person mit den Anfragedaten („* A*, männlich, geboren am 7. Jänner 1999“) im Strafregister nicht verzeichnet, jedoch ein ähnlicher Personensatz gefunden worden und eine Identitätsprüfung daher unbedingt erforderlich sei, sowie, dass – falls die vorstehende Auskunft die angefragte Person nicht betreffe – diese im Strafregister keine Verurteilung aufweise. Der gefundene – fünf Verurteilungen ausweisende – Personendatensatz betreffe * As*, alias Al*, männlich, geboren am 1. Jänner 1999 (ON 18).
[10] Der gegen dieses Urteil von der Staatsanwaltschaft erhobenen Berufung wegen des Strafausspruchs gab das Oberlandesgericht Wien als Berufungsgericht mit Urteil vom 27. April 2023, AZ 31 Bs 39/23x, nicht Folge. Es stellte in seiner Entscheidung fest, dass * A* in Österreich unbescholten ist und die im Akt erliegende Strafregisterauskunft eine Person mit ähnlichem Namen betrifft (AZ 82 Hv 165/22t [ON 28]).
[11] Die gegen den Beschluss gemäß § 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO von der Staatsanwaltschaft Wien erhobene Beschwerde wurde von der Sitzungsvertreterin der Oberstaatsanwaltschaft Wien in der Berufungsverhandlung zurückgezogen (AZ 82 Hv 165/22t [ON 29]).
Rechtliche Beurteilung
[12] Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 11. Jänner 2023, GZ 82 Hv 165/22t-21.1, auf Absehen vom Widerruf und Verlängerung der Probezeit in Ansehung der mit Urteil des Bezirksgerichts Schärding vom 10. Mai 2021, GZ 1 U 42/21v-7, gewährten bedingten Strafnachsicht steht – wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes ausführt – mit dem Gesetz nicht im Einklang:
[13] Wird jemand wegen einer strafbaren Handlung verurteilt, die er vor Ablauf der Probezeit nach einer bedingten Nachsicht begangen hat, und liegen die Voraussetzungen für das Absehen vom Widerruf der bedingten Nachsicht vor, so hat das erkennende Gericht (mit Beschluss; vgl Jerabek/Ropper, WK-StPO § 494a Rz 11) auszusprechen, dass von einem Widerruf aus Anlass der neuen Verurteilung abgesehen wird; es kann diesfalls die Probezeit verlängern (§ 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO).
[14] Vor der Entscheidung hat das erkennende Gericht (ua) Einsicht in die Akten über die frühere Verurteilung zu nehmen; es kann sich mit der Einsicht in eine Abschrift des früheren Urteils begnügen, wenn dieses eine ausreichende Grundlage für seine Entscheidung darstellt (§ 494a Abs 3 erster und letzter Satz StPO).
[15] Entscheidungen (§ 35 Abs 1 und Abs 2 erster Fall StPO) sind rechtsfehlerhaft, wenn die Ableitung der Rechtsfolge aus dem vom Entscheidungsträger zugrunde gelegten Sachverhaltssubstrat das Gesetz verletzt oder die Sachverhaltsannahmen entweder in einem rechtlich mangelhaften Verfahren zustande gekommen oder mit einem formalen Begründungsmangel behaftet sind und demnach willkürlich getroffen wurden (Ratz, WK-StPO § 292 Rz 17; RIS-Justiz RS0118412, https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Justiz&Rechtssatznummer=RS0126648&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False und https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Justiz&Rechtssatznummer=RS0132725&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False ).
[16] 1./ Aufgrund der Mitteilung des Bezirksgerichts Schärding, wonach der Akt AZ 1 U 42/21v dem Bezirksgericht Josefstadt zu AZ 15 U 64/22y übermittelt und von dort dem Oberlandesgericht Graz zu AZ 8 Bs 270/22z weitergeleitet worden sei (ON 7.1), lag im Verfahren AZ 82 Hv 165/22t des Landesgerichts für Strafsachen Wien die Annahme nahe, dass die in jenem Verfahren gewährte bedingte Nachsicht bereits Gegenstand einer Entscheidung gemäß § 494a StPO durch ein anderes erkennendes Gericht geworden sein könnte (siehe zum – vergleichbaren – Rückschluss aus den sich aus der Strafregisterauskunft ergebenden Daten der früheren Verurteilung auf eine allenfalls zwischenzeitlich erfolgte endgültige Nachsicht RIS-Justiz RS0101953). Der vom Einzelrichter des Landesgerichts für Strafsachen Wien beigeschaffte Protokolls- und Urteilsvermerk war nicht geeignet, über diesen Umstand Aufschluss zu geben, weswegen vorliegend – schon aus diesem Grund, aber auch zur weiteren Abklärung der (fragwürdigen) Personenidentität anhand von weiteren aktenkundigen personenbezogenen Daten – die Beischaffung des Aktes (allenfalls bei dessen Unabkömmlichkeit bis zur Hauptverhandlung die Abstandnahme von einer Beschlussfassung gemäß § 494a StPO; vgl dazu Jerabek/Ropper in WK-StPO § 494a Rz 10) zur Herstellung einer ausreichenden Entscheidungsgrundlage geboten gewesen wäre. Der am 11. Jänner 2023 gefasste Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzt daher das Gesetz in § 494a Abs 3 letzter Satz StPO.
[17] 2./ Ein Beschluss hat gemäß § 86 Abs 1 StPO neben Spruch und Rechtsmittelbelehrung eine Begründung zu enthalten. In der Begründung sind die tatsächlichen Feststellungen und die rechtlichen Überlegungen auszuführen, die der Entscheidung zu Grunde gelegt werden (§ 86 Abs 1 erster und vierter Satz StPO). Die Pflicht zur Angabe des rechtlich als entscheidend beurteilten Sachverhalts umfasst auch jene zur Darlegung der Tatsachen (Beweisergebnisse), auf denen diese Sachverhaltsannahmen beruhen. Erst dadurch wird die Tatsachengrundlage der Entscheidung (§ 35 Abs 2 erster Fall StPO) dahin überprüfbar, ob sie in formal einwandfreier Weise – also ohne Begründungsmängel im Sinn des § 281 Abs 1 Z 5 StPO und demnach nicht willkürlich – geschaffen worden ist (RIS-Justiz https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Justiz&Rechtssatznummer=RS0132725&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False; zuletzt 13 Os 109/22m).
[18] Die (auch) für das Absehen vom Widerruf und die Verlängerung der Probezeit maßgeblichen Sachverhaltsannahmen des Vorliegens von fünf Vorstrafen, insbesondere aber auch des den Angeklagten * A* betreffenden Urteils des Bezirksgerichts Schärding vom 10. Mai 2021, GZ 1 U 42/21v-7, stützte das Landesgericht für Strafsachen Wien allein auf die eingeholte Strafregisterauskunft (ON 18), die sich auf eine Person mit abweichendem Vor- und Familiennamen und Geburtsdatum bezieht. Der (nur) daraus gezogene Schluss des Erstgerichts, es handle sich dabei um den Angeklagten, der daher die angenommenen Vor-Verurteilungen aufweise, ist somit mit den Gesetzen folgerichtigen Denkens nicht vereinbar (vgl § 281 Abs 1 Z 5 vierter Fall StPO [RIS-Justiz https://www.ris.bka.gv.at/Ergebnis.wxe?Abfrage=Justiz&Rechtssatznummer=RS0116732&SkipToDocumentPage=True&SucheNachRechtssatz=True&SucheNachText=False ]). Solcherart erweist sich die Begründung dieser Sachverhaltsannahme(n) als willkürlich; der genannte Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien verletzt daher (auch) § 86 Abs 1 StPO.
[19] Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 11. Jänner 2023 ist zwar angesichts des – den identen Entscheidungsgegenstand betreffenden – vorangegangenen Beschlusses des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 11. Februar 2022, GZ 17 Hv 53/21f-43, (ohnehin) wirkungslos; im Hinblick darauf, dass die Verfahren des Bezirksgerichts Schärding zu AZ 1 U 42/21v und des Landesgerichts für Strafsachen Wien zu AZ 82 Hv 165/22t zwei verschiedene Personen als Angeklagte betreffen, war er aber (zur Klarstellung) gemäß § 292 letzter Satz StPO zu beseitigen.
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