OGH 14Os47/23b

OGH14Os47/23b1.8.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 1. August 2023 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Nordmeyer und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann, Dr. Setz‑Hummel LL.M. und Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Mair in der Strafsache gegen * S* wegen des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 und 2 vierter Fall StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 20. Jänner 2023, GZ 18 Hv 132/22g‑66, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Gföller, des Angeklagten und seiner Verteidiger Dr. Aschl und Mag. Kern zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0140OS00047.23B.0801.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Sexualdelikte

 

Spruch:

 

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechung) aufgehoben und in diesem Umfang in der Sache selbst erkannt:

* S* wird für die ihm nach dem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz als Schöffengericht vom 20. Jänner 2023 (ON 66) zur Last liegende strafbare Handlung des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 und 2 vierter Fall StGB unter Anwendung des § 39 Abs 1a StGB nach dem ersten Strafsatz des § 201 Abs 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt.

Gemäß § 38 Abs 1 Z 1 StGB wird die von 2. Juni 2022, 20:15 Uhr, bis 20. Juni 2022, 8:00 Uhr, und von 20. Dezember 2022, 8:00 Uhr, bis 20. Jänner 2023, 12:30 Uhr, erlittene Vorhaft auf die Freiheitsstrafe angerechnet.

Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.

Mit seiner Berufung wird der Angeklagte auf die Strafneubemessung verwiesen.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten desRechtsmittelverfahrens zur Last.

 

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde * S* des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 Abs 1 und Abs 2 vierter Fall StGB schuldig erkannt.

[2] Danach hat er am 1. Juni 2022 in G* * M* mit Gewalt und durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben (§ 89 StGB) zur Vornahme und Duldung einer dem Beischlaf gleichzusetzenden geschlechtlichen Handlung, nämlich zur Vornahme des Oralverkehrs sowie der digitalen vaginalen Selbstpenetration und zur Duldung der gewaltsamen digitalen vaginalen Penetration, genötigt, indem er sie an den Händen packte, ihr den Mund zuhielt, sie auf die Couch und auf den Boden stieß, ihr gewaltsam die Unterhose auszog und sinngemäß äußerte, dass er an ihr gewaltsam den Vaginal- sowie Analverkehr durchführen werde, sollte sie an ihm nicht den Oralverkehr durchführen oder ihn mit der Hand befriedigen, ihr den Befehl gab, sich mehrere Finger einzuführen und selbst drei Finger einführte und sie nach einem Fluchtversuch abermals packte, ihr eine Vergewaltigung in Form von gewaltsamem Analverkehr ankündigte, sollte sie nicht das tun, was er wolle, und sie erneut auf den Boden stieß, wo er sie zum Oralverkehr zwang, wobei er zwischenzeitig seinen Penis an ihren Brüsten rieb und letztlich in ihren Mund ejakulierte, sodass das Opfer in besonderer Weise erniedrigt wurde.

Rechtliche Beurteilung

[3] Die dagegen aus § 281 Abs 1 Z 4, 5 und 11 StPO ergriffene Nichtigkeitsbeschwerde ist teilweise im Recht.

[4] Der Verfahrensrüge (Z 4) zuwider erfolgte die Abweisung des in der Hauptverhandlung vom 18. November 2022 zum Beweis dafür, „dass die Aussage von * M* über den Tathergang nicht richtig sei“, gestellten Antrags auf „Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens über die Aussage der * M*“, zur Beurteilung deren „Wahrnehmungs- und Aussagefähigkeit“ (ON 57, 33 f), ohne Verletzung von Verteidigungsrechten.

[5] Die Einschätzung der Wahrheit und Richtigkeit von Zeugenaussagen ist als Ergebnis der Prüfung der Glaubwürdigkeit und Beweiskraft der im Verfahren vorgeführten Beweismittel ein Akt freier Beweiswürdigung, der ausschließlich dem Gericht zukommt (§ 258 Abs 2 StPO). Nur in besonders gelagerten Fällen ist die Hilfestellung eines Sachverständigen erforderlich (RIS‑Justiz RS0097733 [insb T3, T8], RS0098297).

[6] Grundsätzlich bedarf es für die Beiziehung eines Sachverständigen in der Hauptverhandlung aktenkundiger oder im Verfahren hervorgekommener – nach Ansicht des Schöffengerichts unwiderlegter – tatsächlicher Umstände, die es diesem erlauben könnten, mithilfe des besonderen Fachwissens des Sachverständigen die Frage nach dem Vorliegen entscheidender Tatsachen zu beantworten (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 347).

[7] Die psychologische oder psychiatrische Untersuchung eines Zeugen setzt in diesem Zusammenhang (abgesehen von dessen Zustimmung; vgl dazu gleich unten) voraus, dass objektive Momente seine geistige Gesundheit und damit seine Fähigkeit, Wahrnehmungen zu machen und diese gedächtnistreu wiederzugeben, in Frage stellen. Solche persönlichkeitsbedingte Zweifel müssen ganz erheblich sein und nach Bedeutung und Gewicht dem Grad der in § 11 StGB erfassten Geistesstörung nahekommen (RIS‑Justiz RS0107370, RS0097733 [T7]).

[8] Diesbezügliche Anhaltspunkte wurden im Beweisantrag mit der spekulativen – ohne Nennung entsprechender Verfahrensergebnisse aufgestellten – Behauptung, die „mehreren psychischen Erkrankungen“ des Tatopfers hätten „unter anderem als Symptomatik typischerweise ein Fehlen von Wirklichkeitsbezug sowie unrichtigen Angaben“, nicht aufgezeigt. Dies gilt ebenso für die Bezugnahme auf – im Antrag eigenständig interpretierte, sinnentstellend verkürzt und isoliert wiedergegebene – Passagen aus der Aussage der Zeugin anlässlich ihrer kontradiktorischen Vernehmung, wonach sie (richtig:) am Vorfallstag reichlich Alkohol konsumiert und keine Medikamente eingenommen habe (ON 30, 3 und 10). Widersprüchliche Angaben eines Zeugen, die – allenfalls – gegen dessen Glaubwürdigkeit sprechen, unterliegen schließlich der Beweiswürdigung durch das Gericht (RIS‑Justiz RS0097576 [insb T3]), weshalb auch der Hinweis darauf, dass M* den Angeklagten zunächst fälschlich des Besitzes einer verbotenen Waffe bezichtigte (ON 7.11, 1, ON 31.7, 3 f), ins Leere geht.

[9] Darüber hinaus wurde mit der bloßen Vermutung, die Zeugin hätte „mit Sicherheit Interesse daran, dass ihre Aussagetüchtigkeit durch ein Aussagegutachten belegt werde“, im Antrag nicht plausibel dargelegt, dass diese die Zustimmung zur Begutachtung erteilt habe oder erteilen würde, zumal sie anlässlich der kontradiktorischen Vernehmung klarstellte, in der gegenständlichen Strafsache nicht nochmals als Zeugin zu Gericht kommen und „keine weitere Aussage mehr tätigen“ zu wollen (ON 30, 15; RIS‑Justiz RS0108614, RS0118956; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 350). Der Beschwerdekritik, das Erstgericht habe nicht „nachgefragt“, ob ein Einverständnis bestehe, ist zu entgegnen, dass ein Antrag auf entsprechende Befragung des Opfers nicht gestellt wurde und eine Verpflichtung des Gerichts zu amtswegiger Ergänzung eines Beweisantrags wiederum nicht besteht (RIS‑Justiz RS0108614 [T1, T2]). Dass der Beschwerdeführer an entsprechender Antragstellung gehindert gewesen wäre (vgl zur Aufklärungsrüge [Z 5a] RIS‑Justiz RS0115823), behauptet die Rüge nicht.

[10] Mit Blick auf das aus dem Wesen des herangezogenen Nichtigkeitsgrundes resultierende Neuerungsverbot hat das den Antrag ergänzende Beschwerdevorbringen auf sich zu beruhen (RIS-Justiz RS0099618).

[11] Die Mängelrüge bekämpft mit dem Einwand von Unvollständigkeit (Z 5 zweiter Fall) zwar nominell die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen, wendet sich aber inhaltlich ausschließlich gegen die Annahme der Glaubwürdigkeit der Zeugin M*, auf deren Aussage das Erstgericht die Konstatierungen (auch) stützte (US 6 f). Diese kann zwar als – in der Regel – erhebliche Tatsache unter dem Gesichtspunkt der Unvollständigkeit mangelhaft erscheinen. Der Bezugspunkt besteht dabei aber nicht in der Sachverhaltsannahme der Überzeugungskraft von Aussagen, sondern ausschließlich in den Feststellungen zu den entscheidenden Tatsachen (RIS‑Justiz RS0119422 [T4], RS0106268 [T9]; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 431 f).

[12] Diesen Bezugspunkt verfehlt die Rüge, indem sie erneut auf eine (im Übrigen noch im Ermittlungsverfahren richtig gestellte) Falschbelastung des Angeklagten in Bezug auf ein – nicht anklagegegenständliches – Vergehen nach § 50 Abs 1 Z 2 und 3 WaffG durch das Tatopfer (ON 7.11, 1, ON 31.7, 3 f) rekurriert. Gleiches gilt für Hinweise auf ausschließlich den genauen zeitlichen Ablauf und unerhebliche Details des Tatgeschehens betreffende angebliche Widersprüche in den Aussagen der Zeugin, die zudem auf Basis eigener beweiswürdigender Überlegungen aus einzelnen Details daraus (etwa der zeitlichen Einordnung einer auf deren Mobiltelefon gespeicherten Sprachnachricht und ihren Erklärungen für Divergenzen in Bezug auf die Anzahl der erzwungenen sexuellen Handlungen sowie zu Verfahrensergebnissen in Zusammenhang mit der Frage, ob der Angeklagte während einer – den inkriminierten Tathandlungen vorangehenden – Auseinandersetzung den Stecker des Fernsehers aus der Steckdose zog) abgeleitet werden. Soweit sich der Beschwerdeführer auf seine Wahrnehmungen über eine in der Hauptverhandlung vorgespielte „Videosequenz vom 31. Mai 2022, 23.28 Uhr“ beruft, ist ein solcher Inhalt dem darüber aufgenommenen Protokoll (ON 62, 4) zudem nicht zu entnehmen (vgl aber RIS‑Justiz RS0130728).

[13] Im Übrigen haben sich die Tatrichter sowohl mit dem Verhalten des Opfers nach der Tat als auch pauschal (vgl dazu RIS‑Justiz RS0098778) mit Abweichungen in den Depositionen dieser Zeugin in Bezug auf die Chronologie des Tatgeschehens auseinandergesetzt und dargelegt, aus welchen Gründen sie – aufgrund des in der Hauptverhandlung anhand der Vorführung der Bild- und Tonaufnahmen über die kontradiktorische Vernehmung gewonnenen persönlichen Eindrucks (US 6 f) – dennoch von deren Glaubwürdigkeit ausgingen (US 8).

[14] Die Kritik an diesen Erwägungen und der Einschätzung der Aussagen der Zeugin als authentisch und nachvollziehbar, erschöpft sich in bloßer Bekämpfung der Beweiswürdigung des Schöffengerichts nach Art einer – im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen (§ 283 Abs 1 StPO) – Schuldberufung (Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 431; RIS-Justiz RS0106588).

[15] Aus welchem Grund schließlich das – erneut aus dem Kontext gelöst dargestellte – Eingeständnis der Genannten, an verschiedenen, vor 15 Jahren diagnostizierten Erkrankungen („ADHS-Leiden“, Borderline-Syndrom und Burnout) gelitten, diesbezüglich Medikamente verordnet bekommen, am Vorfalltag rund eine Flasche Wein konsumiert und keine Medikamente eingenommen zu haben (ON 30, 3 und 10), gegen deren Glaubwürdigkeit sprechen sollte und damit einer gesonderten Erörterung bedurft hätte, erklärt die Rüge nicht (vgl im Übrigen US 6).

[16] In diesem Umfang war die Nichtigkeitsbeschwerde daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – zu verwerfen.

[17] Zutreffend reklamiert die Sanktionsrüge (Z 11 erster Fall), dass das Urteil, obwohl die erweiterte Strafbefugnis nach § 39 Abs 1a StGB zur Anwendung gelangte (US 2, 13), keine ausreichenden Feststellungen zu deren Voraussetzungen enthält. Das Schöffengericht hat bloß Urteilskonstatierungen zu einer Vorstrafe (Urteil des Bezirksgerichts Graz‑Ost vom 24. November 2021 zum AZ 216 U 100/20s wegen ua § 83 Abs 1 StGB), zur dort verhängten Freiheitsstrafe von sechs Monaten und der Dauer des Vollzugs bis 20. Dezember 2022 getroffen (US 2 f). Feststellungen zu einer weiteren Verurteilung wegen vorsätzlicher strafbarer Handlungen gegen Leib und Leben, gegen die Freiheit oder gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung zu einer Freiheitsstrafe und solche zur Rückfallverjährung (§ 39 Abs 1a und 2 StGB) enthält das Urteil nicht. Der in den Entscheidungsgründen enthaltene Hinweis auf 14 Vorverurteilungen, wovon fünf „einschlägig“ sind (US 2), genügt nicht (13 Os 27/22b). Damit wurde eine die Annahme von Strafschärfung bei Rückfall nach § 39 Abs 1a StGB tragende Tatsachengrundlage nicht geschaffen.

[18] Dieser Rechtsfehler führt – ebenso in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – zur Aufhebung des Strafausspruchs wie aus dem Spruch ersichtlich und zur Neubemessung der Strafe durch den Obersten Gerichtshof (§ 288 Abs 2 Z 3 erster Satz StPO). Dabei ging der erkennende Senat von folgenden Erwägungen aus:

[19] S* wurde mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz zum AZ 6 Vr 2352/2000, Hv 8/2001 wegen ua § 142 Abs 1, § 143 StGB sowie § 83 Abs 1, § 84 Abs 2 Z 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt, die er bis zum 2. Jänner 2017 verbüßte.

[20] Datum der (letzten) Tat in Ansehung der Verurteilung des Bezirksgerichts Graz‑Ost zum AZ 216 U 100/20s ist der 4. September 2020 (Strafregisterauskunft ON 50, 3 f Pos 14 und 16).

[21] Es war daher unter Anwendung des § 39 Abs 1a StGB von einem Strafrahmen von fünf bis zu 20 Jahren auszugehen.

[22] Erschwerend waren mehrere auf gleicher schädlicher Neigung beruhende Verurteilungen (§ 33 Abs 1 Z 2 StGB), die dem Opfer zugefügten Verletzungen (US 5; RIS‑Justiz RS0090709) und die Tatbegehung gegen eine Angehörige iSd § 33 Abs 2 Z 2 StGB (US 3).

[23] Im Rahmen allgemeiner Strafzumessungserwägungen schlägt auch der rasche Rückfall zum Nachteil des Angeklagten aus (RIS‑Justiz RS0091041).

[24] Besondere Milderungsgründe liegen nicht vor.

[25] Ausgehend davon (§ 32 Abs 2 erster Satz StGB) erweist sich auf der Grundlage der Schuld des Angeklagten (§ 32 Abs 1 StGB) die im Spruch genannte Freiheitsstrafe als angemessen.

[26] Die Gewährung bedingter Nachsicht der gesamten oder eines Teils der Strafe (§ 43 Abs 1, § 43a Abs 4 StGB) kommt schon (in Bezug auf gänzliche bedingte Strafnachsicht) aufgrund § 43 Abs 3 StGB sowie insgesamt infolge der Höhe der verhängten Freiheitsstrafe nicht in Betracht.

[27] Die Anrechnung der Vorhaftzeiten gründet auf § 38 Abs 1 Z 1 StGB.

[28] Über die Anrechnung der nach Fällung des Urteils erster Instanz in Vorhaft (§ 38 StGB) zugebrachten Zeit hat gemäß § 400 StPO die Vorsitzende des Erstgerichts mit Beschluss zu entscheiden (RIS‑Justiz RS0091624; Lässig, WK-StPO § 400 Rz 1).

[29] Mit seiner Berufung war der Angeklagte auf die Strafneubemessung zu verweisen.

[30] Der Kostenausspruch beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

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