OGH 10ObS75/23m

OGH10ObS75/23m24.7.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Elisabeth Schmied (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Veronika Bogojevic (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei E*, vertreten durch Dr. Bernhard Fink, Dr. Peter Bernhart, Mag. Klaus Haslinglehner, Mag. Bernd Peck, Mag. Kornelia Kaltenhauser, LL.M., und Mag. Michael Lassnig, Rechtsanwälte in Klagenfurt am Wörthersee, gegen die beklagte Partei Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter, Eisenbahnen und Bergbau, 1081 Wien, Josefstädter Straße 80, wegen Feststellung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 4. Mai 2023, GZ 6 Rs 9/23 z-17, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00075.23M.0724.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Die Vorinstanzen wiesen das Begehren des Klägers, die bei ihm bestehende „COVID-19-Infektion“ als Folge eines Dienstunfalls festzustellen, ab.

Rechtliche Beurteilung

[2] In seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf.

[3] 1. Nach ständiger Rechtsprechung können vom Berufungsgericht verneinte Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens auch in Sozialrechtssachen nicht mehr mit Erfolg an den Obersten Gerichtshof herangetragen werden (RIS‑Justiz RS0042963; RS0043061). Anderes könnte nur gelten, wenn das Berufungsgericht die Mängelrüge infolge einer unrichtigen Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften nicht erledigt (RS0043086 [T8]; RS0043144 [T4]) oder mit einer durch die Aktenlage nicht gedeckten Begründung verworfen hätte (RS0043086 [T4, T7]; RS0043166). Das ist hier nicht der Fall.

[4] Das Berufungsgericht hat dem unterbliebenen Beweis (Sachverständigengutachten aus dem Bereich der Epidemiologie oder Infektiologie) die abstrakte Eignung abgesprochen, relevante Ergebnisse zu erzielen. Zudem hat es den Beweisgegenstand als lückenhaft und damit insgesamt als unerheblich erachtet. Damit kann ihm nicht vorgeworfen werden, sich mit der Mängelrüge nicht befasst zu haben. Die vom Kläger angestrebte inhaltliche Prüfung dieser Begründung hat im Revisionsverfahren nicht zu erfolgen (10 ObS 8/23h; 10 ObS 35/22b).

[5] 2. Mit seinen Ausführungen, das Berufungsgericht sei zu Unrecht und aktenwidrig davon ausgegangen, dass eine Ansteckung im privaten Umfeld gleich wahrscheinlich sei wie eine Ansteckung im betrieblichen Bereich, wendet sich der Kläger gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung der Feststellungen des Erstgerichts. Damit spricht er weder eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung an (RS0118891 [T4]) noch zeigt er eine Aktenwidrigkeit auf.

[6] 2.1. Nach ständiger Rechtsprechung hängt die Zuordnung einzelner Teile eines Urteils zu den Feststellungen nicht von seinem Aufbau ab (RS0043110). Für die Beurteilung, ob es sich bei außerhalb der Feststellungen vorzufindenden Urteilspassagen um Tatsachenfeststellungen handelt, kommt es vielmehr auf die Qualität und nicht den Ort der Aussage an (10 ObS 60/21b; 5 Ob 89/17z; 10 ObS 67/17a ua). Demgemäß sind etwa in der rechtlichen Beurteilung enthaltene, aber eindeutig dem Tatsachenbereich zuzuordnende Ausführungen als („dislozierte“) Feststellungen zu behandeln (RS0043110 [T2]; 4 Ob 182/19x). Von diesen Grundsätzen ist das Berufungsgericht nicht abgewichen, wenn es die Einschätzung des Erstgerichts im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung, eine Ansteckung im privaten Umfeld sei „(zumindest auch gleich wahrscheinlich)“ – wie die vom Kläger behauptete Ansteckung während des Dienstes – (Seite 6 des Ersturteils), als Tatsachenfeststellung qualifiziert.

[7] 2.2. Vor diesem Hintergrund trifft sodann auch der Vorwurf der Aktenwidrigkeit nicht zu, den der Kläger darin erkennt, dass das Berufungsgericht die Feststellungen unrichtig wiedergegeben und dadurch ein so nicht festgestelltes Sachverhaltsbild seiner rechtlichen Beurteilung unterzogen habe (RS0043324 [T8]).

[8] 3. Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass in Verfahren über den Anspruch aus Dienstunfällen oder Berufskrankheiten die Regeln des Anscheinsbeweises (modifiziert) anzuwenden sind (RS0110571; RS0086050 [T19]). Nach der Rechtsprechung wird der Anscheinsbeweis in Sozialrechtssachen durch den Beweis entkräftet, dass dem atypischen Geschehensablauf zumindest die gleiche Wahrscheinlichkeit zukommt (10 ObS 108/22p; RS0040266 [T9]). Wenn der Kläger argumentiert, der Beklagten sei die Entkräftung des Anscheinsbeweises nicht gelungen, spricht er die vom Obersten Gerichtshof nicht überprüfbare Beweiswürdigung der Vorinstanzen an (RS0086050 [T2, T11]; RS0022624 [T1, T3]).

[9] 4. Rechtliche Feststellungsmängel liegen mit Blick auf die dislozierten Tatsachenfeststellungen (oben 2.) nicht vor.

[10] Diese sind auch nicht „überschießend“, weil sie sich im Rahmen der erhobenen Einwendungen halten (vgl RS0040318). Warum dafür das Vorbringen der Beklagten, die Ansteckung des Klägers im privaten Bereich sei zumindest gleich wahrscheinlich wie die Ansteckung im geschützten Bereich, nicht ausreichen soll, legt der Kläger nicht dar. Eine im Einzelfall ausnahmsweise aufzugreifende Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts (vgl RS0040318 [T3]) zeigt er daher nicht auf.

[11] 5. Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO, ist die Revision zurückzuweisen.

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