OGH 10ObS108/22p

OGH10ObS108/22p17.1.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Hofrat Mag. Ziegelbauer als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Faber und den Hofrat Mag. Schober sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Heinz Schieh (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Robert Kramreither (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei R*, vertreten durch Mag. Christoph Arnold, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Wienerbergstraße 11, 1100 Wien, wegen Versehrtenrente, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 20. Juli 2022, GZ 23 Rs 22/22 i‑14, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:010OBS00108.22P.0117.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Sozialrecht

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger war ab 5. November 2020 für ein Seilbahnunternehmen als Montageleiter in Indien tätig. Nach negativen Tests am 17. und 20. April 2021 wurde er am 2. Mai 2021 positiv auf SARS-CoV-2 getestet. Nach mehreren Tagen in einem indischen Krankenhaus wurde er aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands über Veranlassung seines Dienstgebers mit einem Ambulanzjet nach Österreich gebracht und eine Woche intensivmedizinisch und weitere vier Wochen auf einer Normalstation (stationär) behandelt.

[2] Mit Bescheid vom 26. Juli 2021 sprach die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt aus, dass die Erkrankung des Klägers (Infektionskrankheit COVID‑19) vom Mai 2021 nicht als Berufskrankheit anerkannt wird und kein Anspruch auf Leistungen aus der Unfallversicherung besteht.

[3] Die Vorinstanzen wiesen das auf Leistung einer Versehrtenrente im Ausmaß von 50 % der Vollrente für die Folgen einer Berufskrankheit Nr 38 gemäß Anlage 1 zu § 177 Abs 1 ASVG gerichtete Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht verwies zunächst darauf, dass eine Ansteckung außerhalb des Betriebs (der Baustelle in Indien) gleich wahrscheinlich sei, wie die vom Kläger behauptete Infektion über einen engen Mitarbeiter des bauausführenden indischen Unternehmens. Angesichts dessen mangle es daher schon an einem für die Zurechnung als Berufskrankheit ausreichenden Kausalzusammenhang zwischen der Exposition in einem allenfalls von der Gefährdungslage vergleichbaren Betrieb und einer Exposition mit SARS‑CoV‑2 in diesem Betrieb im krankheitsauslösenden Ausmaß. Abgesehen davon sei die Tätigkeit des Klägers nicht in einem in der Spalte 3 der Anlage 1 zum ASVG bezeichneten Unternehmen ausgeübt worden. Es scheide aber auch eine Anerkennung als Berufskrankheit im Einzelfall aus, weil § 177 Abs 2 ASVG Infektionskrankheiten wie SARS‑CoV‑2 nicht erfasse und die Ansteckung auch nicht auf die Verwendung schädigender Stoffe oder Strahlen zurückgehe.

Rechtliche Beurteilung

[4] In seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO auf.

[5] 1.1. Nach § 177 Abs 1 ASVG gelten die in der Anlage 1 zum ASVG bezeichneten Krankheiten unter den dort angeführten Voraussetzungen nur dann als Berufskrankheiten, wenn sie durch Ausübung der die Versicherung begründenden Beschäftigung in einem in Spalte 3 der Anlage bezeichneten Unternehmen verursacht sind. Voraussetzung für die Anerkennung als Berufskrankheit ist daher, dass die Erkrankung des Versicherten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die betrieblichen Einwirkungen zurückzuführen ist (RIS‑Justiz RS0084375 [T1]). Die objektive Beweislast dafür trifft den Versicherten (RS0043249).

[6] 1.2. Um Härten eines unzumutbaren Beweisnotstands für den Versicherten zu vermeiden, sind nach ständiger Rechtsprechung besonders im Verfahren über einen sozialversicherungsrechtlichen Anspruch aus Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten die Regeln des sogenannten Anscheinsbeweises modifiziert anzuwenden (RS0110571). Die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises beruht darauf, dass bestimmte Geschehensabläufe typisch sind und es daher wahrscheinlich ist, dass auch im konkreten Fall ein derartiger gewöhnlicher und nicht ein atypischer Ablauf gegeben ist (RS0040266).

[7] 1.3. Der Oberste Gerichtshof darf im Rahmen der rechtlichen Beurteilung nurprüfen, ob in einem bestimmten Fall ein Anscheinsbeweis zulässig ist. Ob er erbracht oder erschüttert worden ist, ist hingegen eine vom Revisionsgericht nicht mehr überprüfbare Beweisfrage (RS0086050 [T2, T11]; RS0022624). Die Entkräftung des Anscheinsbeweises geschieht durch den Beweis, dass der typisch formelhafte Geschehensablauf im konkreten Fall nicht zwingend ist, sondern dass die ernste Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs besteht. In Sozialrechtssachen ist der Anscheinsbeweis nur dann entkräftet, wenn dem atypischen Geschehensablauf zumindest die gleiche Wahrscheinlichkeit zukommt (10 ObS 88/17i; RS0040266 [T9]).

[8] 1.4. Auch wenn das Berufungsgericht das nicht explizit zum Ausdruck brachte, ging es von einem Fall der Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises aus, was der Kläger zutreffend erkennt und wogegen er sich in der Revision auch nicht wendet. Er behauptet auch nicht, dass das Berufungsgericht die dargestellten Grundsätze missachtet hätte. Der Kläger wendet sich vielmehr gegen das Ergebnis ihrer Anwendung, wenn er meint, die Ansicht des Berufungsgerichts sei nicht überzeugend, weil anhand der Verfahrensergebnisse mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei, dass die Erkrankung ursächlich auf betriebliche Einwirkungen zurückgehe. Damit spricht er aber nur die vom Obersten Gerichtshof nicht überprüfbare Beweiswürdigung an.

[9] 1.5. Andere Gründe, die das vom Berufungsgericht auf Tatsachenebene erzielte Ergebnis in Zweifel ziehen könnten, macht der Kläger in der Revision nicht geltend. Der Oberste Gerichtshof, der nicht Tatsacheninstanz ist, ist somit an die Verneinung des Kausalzusammenhangs durch das Berufungsgericht gebunden.

[10] 2. Darauf aufbauend ist die Frage, ob das Unternehmen, in dem der Kläger seine Tätigkeit ausübte, einem in der Spalte 3 der Anlage 1 zum ASVG bezeichneten entsprach, nicht (mehr) entscheidend.

[11] 3. Mit der Beurteilung des Berufungsgerichts, dass auch eine Anerkennung als Berufskrankheit im Einzelfall iSd § 177 Abs 2 ASVG ausgeschlossen sei, weil es bei Viruserkrankungen wie der Corona‑Infektion an dem in § 177 Abs 2 ASVG angeführten Erfordernis fehle, dass die Infektion „durch die Verwendung schädigender Stoffe oder Strahlen“ eingetreten sei, setzt sich der Kläger in der Revision nicht nachvollziehbar auseinander (RS0043603 [T9]; RS0043312 [T13]).

[12] 4. Mangels einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die Revision zurückzuweisen.

Stichworte