OGH 1Ob63/23f

OGH1Ob63/23f23.5.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei K* S*, vertreten durch Dr. Meinrad Einsle, Rechtsanwalt in Bregenz, gegen die beklagte Partei V*gesellschaft mit beschränkter Haftung, *, vertreten durch die Achammer & Mennel Rechtsanwälte OG in Feldkirch, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens AZ 57 Cg 140/17a des Landesgerichts Feldkirch (Streitwert 57.000 EUR sA), über den Rekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Innsbruck (als Rekursgericht) vom 8. März 2023, GZ 4 R 37/23g‑26, mit dem der als „Berufung“ bezeichnete Rekurs der klagenden Partei gegen den irrig als Urteil bezeichneten Beschluss des Landesgerichts Feldkirch vom 6. Februar 2023, GZ 57 Cg 114/22k‑15, zurückgewiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0010OB00063.23F.0523.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Zivilverfahrensrecht

Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)

 

Spruch:

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 2.253,60 EUR (darin enthalten 375,60 EUR USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Begründung:

[1] Der Wiederaufnahmskläger (kurz: Kläger) begehrt mit auf § 530 Abs 1 Z 7 ZPO gestützter Wiederaufnahmsklage die Wiederaufnahme des vom Erstgericht zu AZ 57 Cg 140/17a geführten und rechtskräftig abgeschlossenen Prozesses, mit dem sein Schadenersatzbegehren von 57.000 EUR sA wegen eines behaupteten Behandlungsfehlers der Beklagten abgewiesen worden war.

[2] Das Erstgericht wies die Wiederaufnahmsklage zurück, wobei die Entscheidung äußerlich die Form eines Urteils aufwies (Ausspruch „Im Namen der Republik“, Formulierung „zu Recht erkannt“). Es gelangte zum Ergebnis, dem Kläger wäre es spätestens Anfang August 2022 möglich gewesen, die neu erstellten Röntgenbilder ausdrucken zu lassen. Da er dies erst am 13. 9. 2022 veranlasst habe, habe er nicht unverzüglich gehandelt, sodass die erst am 5. 12. 2022 eingebrachte Wiederaufnahmsklage selbst unter Berücksichtigung der mit der Verfahrenshilfegewährung verbundenen Dauer außerhalb der Notfrist von vier Wochen (§ 534 ZPO) erhoben worden und damit verspätet sei. Zudem „wäre“ die Wiederaufnahmsklage selbst unter Annahme der Rechtzeitigkeit mangels Vorliegens der Voraussetzungen nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO abzuweisen gewesen. Die neu vorgelegte Röntgenaufnahme sei nämlich nicht geeignet, eine für den Kläger günstigere Entscheidung herbeizuführen.

[3] Das mit Berufung des Klägers angerufene Gericht zweiter Instanzwies die als Rekurs behandelte Berufung zurück. Rechtlich führte es aus, das Erstgericht habe zwar in Urteilsform entschieden, jedoch gehe aus der Entscheidungsbegründung unzweifelhaft hervor, dass es die Zulässigkeitsvoraussetzung der Rechtzeitigkeit der Wiederaufnahmsklage verneint und die Klage aus diesem Grund zurückgewiesen habe. Diese Entscheidung wäre gemäß §§ 538, 543 ZPO in Beschlussform zu treffen gewesen. Der Kläger hätte den Beschluss innerhalb der 14‑tägigen Rekursfrist (§ 521 Abs 1 ZPO) bekämpfen müssen, was er unterlassen habe. Die als Rekurs zu wertende Berufung sei als verspätet zurückzuweisen. Es ließ den ordentlichen Revisionsrekurs nicht zu.

Rechtliche Beurteilung

[4] Der dagegen erhobene (richtig:) Rekurs des Klägers ist zulässig, aber nicht berechtigt.

1. Zur Zulässigkeit des Rekurses

[5] 1.1. Deutet das als Berufungsgericht angerufene Gericht zweiter Instanz eine Berufung in einen Rekurs um und weist es das Rechtsmittel als verspätet zurück, ist dagegen ein Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof zu erheben, das grundsätzlich nur unter den Voraussetzungen des § 528 ZPO zulässig ist.

[6] 1.2. Läuft allerdings der Zurückweisungs-beschluss des Rekursgerichts auf die abschließende Verweigerung des Rechtsschutzes nach einer Klage hinaus, ist für die Beurteilung der Zulässigkeit des Rechtsmittels nach jüngerer Rechtsprechung § 519 Abs 1 Z 1 ZPO analog anzuwenden (RS0043802 [T4]). Dies wird auch für die hier vorliegende Konstellation bejaht, wenn das Gericht zweiter Instanz eine Berufung gegen eine Klagszurückweisung in einen Rekurs umdeutet und wegen Verspätung zurückweist (RS0036324 [T8]). Das Rechtsmittel ist daher als „Vollrekurs“ zulässig (10 ObS 54/22x mwN = RS0036324 [T19]; RS0043882 [T3]; 8 Ob 169/18p mwN).

2. Zur Berechtigung des Rekurses

[7] 2.1. Nach der – der sogenannten objektiven Theorie folgenden (G. Kodek in Fasching/Konecny 3 §§ 84, 85 ZPO Rz 63; Konecny in Fasching/Konecny 3 IV/1 Einleitung IV/1 ZPO Rz 28, jeweils mwN) – ständigen Rechtsprechung ist für die Beurteilung, ob ein Urteil oder ein Beschluss vorliegt, nicht die tatsächlich gewählte, sondern die vom Gesetz vorgesehene Form der Entscheidung maßgebend (RS0036324 [T7]; RS0040727 [T1]). Demgemäß bestimmt sich auch die Anfechtbarkeit eines Beschlusses nach der gesetzlich vorgesehenen – also objektiv richtigen – Entscheidungsform. Der tatsächliche oder vermeintliche Wille des Gerichts, in einer bestimmten Form seine Entscheidung zu treffen, ist grundsätzlich ohne Bedeutung, soweit das Gericht nicht bewusst die Rechtsfrage anders qualifiziert und die seiner Rechtsauffassung entsprechende richtige Entscheidungsform wählt (RS0041859 [T6]). Vergreift sich das Gericht in der Entscheidungsform, wählt es also fälschlich jene des Urteils statt jene des Beschlusses oder umgekehrt, so ändert dies nichts an der Zulässigkeit des Rechtsmittels und dessen Behandlung (RS0036324 [T1]; RS0041859 [T1]; 8 Ob 56/19x [Pkt II.3] mwN).

[8] Welche Entscheidungsform die vom Gesetz vorgesehene, also objektiv richtige ist, bestimmt sich nach dem vom Gericht als entscheidend erachteten Umstand. War dieser Umstand ein solcher, der objektiv zu einem Beschluss zu führen hätte (zB eine angenommene res iudicata), liegt ein Beschluss, war es ein Umstand, der objektiv zu einem Urteil zu führen hätte (zB eine angenommene Verjährung), liegt ein Urteil vor. Damit ist stets anhand der Begründung der Entscheidung zu untersuchen, welchen Umstand das Gericht als entscheidend betrachtete (8 Ob 56/19x [Pkt II.4]; 6 Ob 111/19w [Pkt 4.]; 7 Ob 13/21v [Rz 6]; RS0040727 [T1, T2, T3]; RS0041880).

[9] 2.2. Nach einer speziell vom 10. Senat vertretenen Rechtsansicht setzt diese Rechtsprechung voraus, dass das Gericht in den Entscheidungsgründen unzweifelhaft und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, das Klagebegehren in Form eines Beschlusses zurückweisen zu wollen, im Spruch aber dann irrtümlich mit einer Abweisung des Klagebegehrens vorgegangen ist (10 Ob 57/18g; 10 Ob 6/19h; 10 ObS 114/20t; 10 ObS 54/22x). Im Fall der Erledigung in Form eines Urteils anstatt mit Beschluss soll eine Entscheidung demnach (nur) dann als Beschluss zu behandeln sein, wenn sie nach dem erkennbaren Entscheidungswillen des Gerichts – klar erkennbar zu Unrecht – bloß als Urteil bezeichnet wurde (10 ObS 17/21d; 10 ObS 54/22x; zustimmend Klicka, Die „verfehlte Entscheidungsform“ im Zivilprozess – neue Rechtsprechung des OGH, ÖJZ 2020/65, 478 f).

[10] 2.3. Das Abgrenzungskriterium der (Un‑)Zweifel-haftigkeit des subjektiven gerichtlichen Entscheidungswillens – Umdeutung nur dann, wenn das Gericht in den Entscheidungsgründen „unzweifelhaft“ zum Ausdruck bringt, in der richtigen Form entscheiden zu wollen, dann aber „irrtümlich“ die andere wählt – eröffnet einen beliebigen und nicht näher fassbaren Beurteilungsspielraum für die Rechtsmittelgerichte. Das schafft Rechtsunsicherheit. Zudem kann das Abstellen auf die ausschlaggebende Bedeutung des Entscheidungswillens – als Kontrollüberlegung – sogar dazu führen, dass ein Vergreifen in der Entscheidungsform die Rechtsmittelfrist verkürzt. Dies wäre dann der Fall, wenn ein Urteil fälschlicherweise als „Beschluss“ ausgefertigt wird und der Entscheidung ein unzweifelhaft auf Fällung eines Urteils gerichteter Entscheidungswille nicht zu entnehmen ist. In diesem Fall wäre von einem „echten“ Beschluss auszugehen, für dessen Anfechtung nur die zweiwöchige (Revisions‑)Rekursfrist offen stünde (so zutreffend Schindl, Die verfehlte Entscheidungsform: Rück‑ und Ausblick, ÖJZ 2023/34, 196 [199 ff]).

[11] 2.4. Jüngst trat auch der 3. Senat zu 3 Ob 67/23h mit überzeugenden Argumenten der Sichtweise des 10. Senats entgegen. Wenn – so Klicka, ÖJZ 2020/65, 478 – die Rechtsansicht des 10. Senats vermeide, dass ein schwerer Gerichtsfehler zu Lasten der Partei ausschlage, so sei zu beachten, dass auch die Qualifikation des Rechtsmittels als rechtzeitig zu Lasten des Rechtsmittelgegners in die Rechtskraft eingreife (Rz 16). Letztlich stelle sich die Frage der Grenzen der vom 10. Senat eingenommenen Sichtweise. Behandle man danach ein Rechtsmittel bei der Prüfung seiner Rechtzeitigkeit statt gesetzeskonform als Beschluss als Urteil, bleibe unklar, wie die angefochtene Entscheidung zB bei der Prüfung der Statthaftigkeit oder für die Frage der Zusammensetzung des Rechtsmittelgerichts behandelt werden solle. Behandle man all dies einheitlich nach der unrichtigen Entscheidungsform, würde daraus auch ein unzutreffendes Rechtsmittelsystem resultieren. Gehe man demgegenüber allein für die problematische Frage der Rechtzeitigkeit von einem Urteil, ansonsten aber von einem Beschluss aus, so resultiere daraus ein „gemischtes“ Rechtsmittelsystem, das im Gesetz nicht vorgesehen sei (Rz 17).

[12] 2.5. Der erkennende Senat erachtet daher (ebenso wie der 3. Senat) auch weiterhin die Beurteilung nach der gesetzlich vorgesehenen – also objektiv richtigen – Entscheidungsform für zutreffend, ohne dass es auf den subjektiven Willen des Gerichts ankommt.

[13] 2.6. Schindl (Die verfehlte Entscheidungsform: Rück‑ und Ausblick, ÖJZ 2023/34, 202 f) erwägt, um dem Rechtsmittelwerber nur für die Rechtsmittelfrist entgegenzukommen, eine Analogie zu § 61 Abs 2 und 3 AVG (unrichtige Rechtsmittelbelehrungen im Verwaltungsverfahren). Während die Angabe einer zu kurzen Frist im Bescheid die nach dem Gesetz zustehende Frist nicht verkürze (§ 61 Abs 2 AVG), dürfe sich der Adressat bei einer zu langen Frist auf deren Richtigkeit verlassen: Ein binnen der angegebenen Frist eingebrachtes Rechtsmittel sei dann rechtzeitig (§ 61 Abs 3 AVG). Habe das Gericht durch die fehlerhafte Bezeichnung seiner Entscheidung als Urteil den objektiven Anschein geschaffen, dass dagegen binnen vier Wochen vorgegangen werden könne, spreche „manches dafür“, dass diese Frist im Sinn eines (nur) „fristenrechtlichen Vertrauensschutzes“ auch tatsächlich zur Verfügung stehe. Demgegenüber würde die irrige Ausfertigung als Beschluss zu keiner Verkürzung der Berufungs- oder Revisionsfrist führen.

[14] Eine die Voraussetzung für eine Analogie bildende Lücke, die durch die Anwendung von § 61 Abs 2 und 3 AVG geschlossen werden könnte, liegt aber nicht vor (so bereits 8 Ob 177/99h [zu § 61 Abs 3 AVG]); eine solche Lücke zeigt auch Schindl nicht auf, wenn er bloß mit einem „fristenrechtlichen Vertrauensschutz“ argumentiert. Zudem knüpfen diese Bestimmungen einer im zivilgerichtlichen Verfahren nicht anwendbaren Verfahrensordnung an falsche Rechtsmittelbelehrungen an, die es im Anwaltsprozess – wie hier – nicht gibt. Weiters sind im Zivilprozess grundsätzlich die Interessen beider Prozessparteien im Auge zu behalten, weshalb einer analogen Anwendung der im Verwaltungsverfahren geltenden (vom Zivilprozessrecht abweichenden) Bestimmung des § 61 Abs 3 AVG (verlängerte Rechtsmittelfrist bei „Fehlgriff“ der Behörde) auch entgegenzuhalten ist, dass durch verlängerte Rechtsmittelfristen regelmäßig das Interesse der Gegenpartei am Verfahrensabschluss bzw Erhalt der bereits erlangten Rechtsposition gefährdet wäre (4 Ob 77/14y). Eine analoge Anwendung von § 61 Abs 2 und 3 AVG scheidet damit aus.

[15] 3. Von den Grundsätzen der zu Punkt 2.1. angeführten Rechtsprechung ist das Gericht zweiter Instanz nicht abgewichen, wenn es die „Berufung“ des Klägers gegen das „Urteil“ des Erstgerichts als Rekurs gegen den erstinstanzlichen Beschluss ansah. Aus der Begründung des Erstgerichts folgt, dass dessen Entscheidung als Beschluss zu werten ist (§§ 538 Abs 1, 543 ZPO), der mit Rekurs innerhalb der 14‑tägigen Rekursfrist (§ 521 Abs 1 ZPO) angefochten werden konnte, was der Kläger unterließ. Am Entscheidungswillen des Erstgerichts, die Klage zurückzuweisen (und nicht abzuweisen), kann angesichts von Spruch und Begründung der Entscheidung kein Zweifel bestehen. Die tragende Begründung des Erstgerichts ist nämlich, dass die Wiederaufnahmsklage außerhalb der vierwöchigen Notfrist des § 534 ZPO und daher verspätet erhoben wurde. Wurde die Wiederaufnahmsklage verspätet überreicht, so ist sie durch Beschluss zurückzuweisen (§ 543 ZPO). Dass das Erstgericht darüber hinaus ausführte, dass selbst unter der Annahme der Rechtzeitigkeit die Wiederaufnahmsklage überdies mangels Vorliegens der Voraussetzungen nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO abzuweisen „wäre“, kann an seinem klaren Entscheidungswillen nichts ändern.

[16] 4. Der Beschluss des Erstgerichts enthält – entgegen der Ansicht des Klägers – auch nicht mehrere Entscheidungen (mit unterschiedlich langen Rechtsmittelfristen), sondern nur die, dass die Wiederaufnahmsklage zurückgewiesen wird.

[17] 5. Der Rekurs muss daher erfolglos bleiben.

[18] 6. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41 und 50 ZPO. Der Streitwert der Wiederaufnahmsklage ist denknotwendig derselbe wie im Hauptprozess (RS0042445). Der Wert des Streitgegenstands im Wiederaufnahmsprozess kann grundsätzlich kein höherer sein als der des Hauptprozesses (RS0042409). Der Beklagten sind daher die Kosten der Rekursbeantwortung auf Basis des Streitwerts im wiederaufzunehmenden Verfahren von 57.000 EUR zuzusprechen.

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