OGH 3Ob67/23h

OGH3Ob67/23h19.4.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon.‑Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun‑Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei J* B*, vertreten durch Dr. Martin Neuwirth und Dr. Alexander Neurauther, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei I* B*, vertreten durch Dr. Wolf-Heinrich Heistinger, Rechtsanwalt in Mödling, wegen Ehescheidung, über den (richtig) Rekurs des Klägers gegen den (richtig) Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Berufungsgericht vom 14. Februar 2023, GZ 16 R 392/22v‑21, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts Mödling vom 19. September 2022, GZ 2 C 9/22w‑13, bestätigt (richtig: die Berufung des Klägers zurückgewiesen) wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0030OB00067.23H.0419.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)

Entscheidungsart: Zurückweisung aus anderen Gründen

 

Spruch:

Der Rekurs wird zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Das Erstgericht schied die Ehe der Parteien unter Ausspruch des überwiegenden Verschuldens des Klägers an ihrer Zerrüttung gemäß § 61 Abs 3 EheG. Nach Verkündung dieses Urteils erklärte der Kläger (sowie auch die Beklagte) nach Rechtsmittelbelehrung durch das Gericht, auf Rechtsmittel zu verzichten.

[2] Gegen das Urteil erhob der Kläger dennoch Berufung, wobei er Nichtigkeit, Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtige rechtliche Beurteilung geltend machte. Zum Rechtsmittelverzicht führte der Kläger in seiner Berufung aus, dieser sei „unwirksam bzw unbeachtlich“, was er im Wesentlichen damit begründete, an einer Hörschwäche zu leiden und deshalb die Rechtsmittelbelehrung akustisch nicht verstanden zu haben.

[3] Zufolge deren Spruchs wurde mit der – in Urteilsform ergangenen – angefochtenen Entscheidung die Berufung wegen Nichtigkeit verworfen und der Berufung im Übrigen nicht Folge gegeben. In den Entscheidungsgründen führte das Berufungsgericht aus, aufgrund des Rechtsmittelverzichts des Berufungswerbers seien zunächst ausschließlich jene Argumente zu hinterfragen, die allenfalls Auswirkungen auf die Gültigkeit dieser Prozesserklärung haben könnten. Das Berufungsgericht kam zum Ergebnis, dass der Rechtsmittelverzicht des Klägers die Erklärung einer postulationsfähigen Partei gewesen sei. Dies stehe einer erfolgreichen Berufung entgegen. Auf die „übrigen Berufungsgründe“ sei damit nicht einzugehen. Das Berufungsgericht erklärte die ordentliche Revision mit der Begründung, es mangle an einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO, für nicht zulässig.

[4] Gegen diese den Parteien am 24. 2. 2023 zugestellte Entscheidung richtet sich das vom Kläger am 23. 3. 2023 eingebrachte und als „außerordentliche Revision“ bezeichnete Rechtsmittel, mit dem er eine Abänderung des erstinstanzlichen Urteils dahin anstrebt, dass festgestellt werde, dass die Beklagte das überwiegende Verschulden an der Zerrüttung der Ehe treffe.

Rechtliche Beurteilung

[5] Das richtig als Rekurs iSd § 519 Abs 1 Z 1 ZPO zu wertende Rechtsmittel ist wegen Nichteinhaltung der 14‑tägigen Rekursfrist verspätet.

[6] 1. Nach der – der sogenannten objektiven Theorie folgenden – ständigen Rechtsprechung ist für die Beurteilung, ob ein Urteil oder ein Beschluss vorliegt, nicht die tatsächlich gewählte, sondern die vom Gesetz vorgesehene Form der Entscheidung maßgebend. Demgemäß bestimmt sich auch die Anfechtbarkeit eines Beschlusses nach der gesetzlich vorgesehenen – also objektiv richtigen – Entscheidungsform. Der tatsächliche oder vermeintliche Wille des Gerichts, in einer bestimmten Form seine Entscheidung zu treffen, ist ohne Bedeutung, soweit das Gericht nicht bewusst die Rechtsfrage anders qualifiziert und die seiner Rechtsauffassung entsprechende richtige Entscheidungsform wählt. Vergreift sich das Gericht in der Entscheidungsform, wählt es also fälschlich jene des Urteils statt jene des Beschlusses oder umgekehrt, so ändert dies nichts an der Zulässigkeit des Rechtsmittels und dessen Behandlung (8 Ob 56/19x [Pkt II.3] mzwN).

[7] Welche Entscheidungsform die vom Gesetz vorgesehene, also objektiv richtige ist, bestimmt sich nach dem vom Gericht als entscheidend erachteten Umstand. War dieser Umstand ein solcher, der objektiv zu einem Beschluss zu führen hätte (zB eine angenommene res iudicata), liegt ein Beschluss, war es ein Umstand, der objektiv zu einem Urteil zu führen hätte (zB eine angenommene Verjährung), ein Urteil vor. Damit ist stets anhand der Begründung der Entscheidung zu untersuchen, welchen Umstand das Gericht als entscheidend betrachtete (8 Ob 56/19x [Pkt II.4]; 6 Ob 111/19w [Pkt 4.]; 7 Ob 13/21v [Rz 6]; RS0040727 [T1, T2, T3]; RS0041880).

[8] 2. Im vorliegenden Fall erachtete es das Berufungsgericht allein für entscheidend, dass – seiner Beurteilung nach – der Kläger wirksam auf Rechtsmittel verzichtet habe.

[9] Wurde die Berufung von einer Person eingebracht, welche auf die Berufung gültig Verzicht geleistet hat, so ist die Berufung unzulässig (§ 472 Abs 1 ZPO). In diesem Fall ist die Berufung – wie aus § 519 Abs 1 Z 1 ZPO ersichtlich – mit Beschluss zurückzuweisen (5 Ob 605/88 [Pkt 1.]; 3 Ob 291/99m; A. Kodek in Rechberger, ZPO5 [2019] § 519 Rz 7; Obermaier in Höllwerth/Ziehensack, ZPO‑TaKom [2019] § 472 Rz 2 aE). Die Frist zur Bekämpfung dieses Beschlusses mit Rekurs (nach § 519 Abs 1 Z 1 ZPO) beträgt gemäß § 521 Abs 1 Satz 1 ZPO 14 Tage (A. Kodek aaO).

[10] Ausgehend von der der Rechtsprechung zugrunde liegenden objektiven Theorie erweist sich das vorliegende Rechtsmittel daher als verspätet.

[11] 3.1. Voraussetzung der Rechtsprechung, wonach das Vergreifen in der Entscheidungsform weder die Zulässigkeit noch die Behandlung des Rechtsmittels und die Rechtsmittelfrist beeinflusst, weil auch Gerichtsfehler nicht zur Verlängerung der Notfristen führen können, soll nach jüngeren Entscheidungen des 10. Senats sein, dass das Gericht in den Entscheidungsgründen unzweifelhaft und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht hat, das Klagebegehren in Form eines Beschlusses zurückweisen zu wollen, es im Spruch aber dann irrtümlich mit einer Klageabweisung vorgegangen ist. Nur unter dieser Voraussetzung wäre nach Ansicht des 10. Senats davon auszugehen, dass die Entscheidung trotz der unrichtigen Bezeichnung (Wahl der Urteilsform) einen Beschluss darstellt (10 Ob 6/19h [Pkt 1. und 2.] mwH; 10 ObS 54/22x [Rz 17] ua).

[12] 3.2. Die Sichtweise des 10. Senats stieß in der Literatur auf Zustimmung (Klicka, Die „verfehlte Entscheidungsform“ im Zivilprozess – neue Rechtsprechung des OGH, ÖJZ 2020, 478 f), aber auch auf Ablehnung (Schindl, Die verfehlte Entscheidungsform: Rück- und Ausblick, ÖJZ 2023, 196 ff). Ihr Vorteil wird darin gesehen, dass sie anders als die streng objektive Theorie nicht einen schweren Gerichtsfehler zu Lasten der Partei ausschlagen lasse und alleine dieser die Folgen der durch das rechtswidrige Verhalten des Gerichts provozierten Fristversäumnis auferlege (Klicka, ÖJZ 2020, 478).

[13] Gegen die Sichtweise des 10. Senats wird eingewendet, dass sie die objektive Theorie um ein subjektives und konturloses Kriterium auflade. Man werde trefflich streiten können, „wie unzweifelhaft unzweifelhaft genug ist, um dem Gericht einen von der gewählten Form abweichenden Entscheidungswillen zu unterstellen“ (Schindl, ÖJZ 2023, 199). Der 10. Senat behandle – wie zB auch aus Pkt 4. seiner Entscheidung 10 Ob 57/18g ersichtlich – eine Entscheidung, obgleich sie eigentlich objektiv betrachtet in Beschlussform ergehen hätte müssen, als „echtes“ Urteil, wenn sich aus ihrer Begründung nicht unzweifelhaft erkennen lasse, das Gericht habe (zB) die Klage aus formellen Gründen zurückweisen wollen und sich nur in der Entscheidungsform vergriffen. Den 10. Senat beim Wort genommen müsste dies auch Einfluss auf die Statthaftigkeit haben. Umgekehrt müsste unter Anlegung der vom 10. Senat aufgestellten Kriterien eine Entscheidung, die in Urteilsform ergehen müsste, aber vom Gericht in Form eines Beschlusses gefällt wird, eigentlich binnen 14 Tagen angefochten werden (Schindl, ÖJZ 2023, 200).

[14] 3.3. Der erkennende Senat vermag sich der Sichtweise des 10. Senats nicht anzuschließen. Kern der objektiven Theorie ist, dass es für die Anfechtbarkeit darauf ankommt, welche Entscheidungsform nach dem Gesetz die richtige ist. Es ist allein Sache des Gesetzes vorzugeben, binnen welcher Frist und unter welchen Voraussetzungen eine bestimmte Entscheidung angefochten werden kann. Daran vermag die Wahl einer unrichtigen Entscheidungsform durch das Gericht nichts zu ändern.

[15] Dass eine Partei aufgrund einer unrichtigen Entscheidungsform über das ihr zustehende Rechtsmittel irren kann, trifft zwar zu. Es ist aber auch sonst Aufgabe des Rechtsmittelwerbers, Beschwer, Rechtsmittelfrist und Richtigkeit der anzufechtenden Entscheidung selbstständig zu prüfen.

[16] Wenn gesagt wird, die Sichtweise des 10. Senats vermeide, dass ein schwerer Gerichtsfehler zu Lasten der Partei ausschlage, so kann auch die Qualifikation des Rechtsmittels als rechtzeitig zu Lasten des Rechtsmittelgegners in die Rechtskraft eingreifen.

[17] Letztlich stellte sich die Frage der Grenzen der vom 10. Senat eingenommenen Sichtweise. Behandelt man danach ein Rechtsmittel bei der Prüfung seiner Rechtzeitigkeit statt gesetzeskonform als Beschluss als Urteil, bleibt unklar, wie die angefochtene Entscheidung zB bei der Prüfung der Statthaftigkeit oder für die Frage der Zusammensetzung des Rechtsmittelgerichts behandelt werden soll. Behandelte man all dies einheitlich nach der unrichtigen Entscheidungsform, würde daraus auch ein unzutreffendes Rechtsmittelsystem resultieren. Ginge man demgegenüber allein für die problematische Frage der Rechtzeitigkeit in Fällen wie dem vorliegenden von einem Urteil, ansonsten aber von einem Beschluss aus, so würde daraus ein „gemischtes“ Rechtsmittelsystem resultieren, das im Gesetz gar nicht vorgesehen ist.

[18] Der erkennende Senat sieht aus diesen Gründen keine Veranlassung, von der (streng) objektiven Theorie abzugehen.

[19] Ob zur Vermeidung dessen, dass ein Gerichtsfehler, weil ihn die Partei nicht erkannt hat, endgültig zum Rechtsmittelverlust wegen Verspätung führt, in Fällen wie dem vorliegenden eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden könnte, ist hier nicht zu entscheiden.

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