OGH 9ObA122/22i

OGH9ObA122/22i27.4.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Hargassner und Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter KR Thomas Schaden und Alexander Leitner in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei * E*, vertreten durch Holter‑Wildfellner Rechtsanwälte GmbH in Grieskirchen, gegen die beklagte Partei S* GmbH, *, vertreten durch Lirk Spielbüchler Hirtzberger Rechtsanwälte OG in Salzburg, wegen 108.884,70 EUR sA, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Aufhebungsbeschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 22. September 2022, GZ 11 Ra 42/22h-32, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits- und Sozialgericht vom 12. Mai 2022, GZ 14 Cga 30/21d-26, Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:009OBA00122.22I.0427.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der Rekurs der beklagten Partei wird zurückgewiesen.

Die klagende Partei hat die Kosten ihrer Rekursbeantwortung selbst zu tragen.

 

Begründung:

[1] Der Kläger war für die Beklagte als Handelsvertreter tätig. Das Vertragsverhältnis unterlag dem Handelsvertretergesetz. Aufgrund bestehender Divergenzen wurde es von den Streitteilen einvernehmlich zum 12. 6. 2020 beendet. In der dazu am 8. 6. 2020 unterzeichneten Aufhebungsvereinbarung verpflichtete sich die Beklagte zur Provisionierung der vom Kläger vermittelten Verträge und der Kläger zur Zurückstellung der zur Verfügung gestellten Unterlagen. Weiters wurde festgehalten: „Weitere wechselseitige Ansprüche aus dem Vertrag, welcher Art auch immer, bestehen nicht.“

[2] Der Kläger macht einen Ausgleichsanspruch nach § 24 HVertrG geltend, der zwingend sei. Die am 19. 5. 2020 erfolgte Abmahnung sei zu Unrecht erfolgt. Eine konkurrenzierende Tätigkeit eines Handelsvertreters nach Beendigung des Vertragsverhältnisses sei grundsätzlich zulässig.

[3] Die Beklagte bestritt und beantragte Klagsabweisung. Die Zusammenarbeit mit ihm habe sich in der Corona-Krise verschlechtert. Er habe beabsichtigt gehabt, ein zur Beklagten konkurrierendes Unternehmen aufzubauen. Bereits am 2. 6. 2020 sei seine Gesellschaft errichtet worden, mit der er nahezu idente Leistungen zu jenen der Beklagten erbringe. Die Voraussetzungen des § 24 HVertrG seien nicht erfüllt.

[4] Das Erstgericht wies das Klagebegehren im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass die Auflösungsvereinbarung wirksam sei (keine Anspruchs‑beschränkung „im Voraus“; aus Anlass der Beendigung geschlossener Vergleich im Interesse des Klägers an der Klärung der unklaren Sach- und Rechtslage), ein Ausgleichsanspruch aber auch der Billigkeit widerspräche.

[5] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers im Sinn eines Aufhebungsbeschlusses Folge. Auf den Ausgleichsanspruch könne im Voraus, das heißt, vor dem rechtlichen Ende des Vertragsverhältnisses, nicht verzichtet werden. Für die Wirksamkeit eines Vergleichs müsste der Verzicht auf den Ausgleichsanspruch durch andere Vorteile aufgewogen werden, was nicht der Fall sei. Es bedürfte der Prüfung der Voraussetzungen des § 24 HVertrG. Der Rekurs sei zulässig, weil erst eine höchstgerichtliche Entscheidung zum Verzicht eines Handelsvertreters auf einen Ausgleichsanspruch in einer vergleichbaren Konstellation vorliege.

[6] In ihrem dagegen gerichteten Rekurs beantragt die Beklagte, den Beschluss des Berufungsgerichts im Sinn einer Wiederherstellung des klagsabweisenden Ersturteils abzuändern, in eventu, ihn zur neuerlichen Entscheidung durch das Berufungsgericht aufzuheben.

[7] Der Kläger beantragt, dem Rekurs keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[8] Der Rekurs ist mangels einer entscheidungswesentlichen Rechtsfrage von der Qualität des § 519 Abs 2 ZPO unzulässig.

[9] 1. Die geltend gemachte Aktenwidrigkeit wurde geprüft, liegt jedoch nicht vor. Durch die Nichtbeachtung oder Nichterwähnung einer Parteienbehauptung, eines Vorbringens oder eines Beweismittels wird der Rechtsmittelgrund der Aktenwidrigkeit nicht verwirklicht (RS0043402; RS0041814). Eine unrichtige Wiedergabe des Parteienvorbringens begründet nicht den Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit nach § 503 Z 3 ZPO, sie kann allenfalls – wenn das Berufungsgericht Vorbringen übersehen oder missverstanden hat – zu einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung geführt haben (RS0043402 [T5]; RS0041814 [T8]).

[10] 2. Nach § 27 Abs 1 iVm § 24 HVertrG kann der Ausgleichsanspruch im Voraus durch Vertrag zum Nachteil des Handelsvertreters weder aufgehoben noch beschränkt werden. Der Oberste Gerichtshof hat aber bereits in der Entscheidung 8 ObA 41/13g (RS0028337 [T10]) ausgesprochen, dass sich der Handelsvertreter bei Beendigungsstreitigkeiten auch über solche Ansprüche wirksam vergleichen kann, die sonst unverzichtbar wären, sofern die Einbuße bestimmter Rechtsstellungen durch andere Vorteile, insbesondere durch die Klärung einer strittigen Sach- und Rechtslage aufgewogen wird. Das entspricht vergleichsweise auch der Rechtsprechung, dass sich ein Arbeitnehmer aus Anlass der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses unter diesen Voraussetzungen auch über an sich unverzichtbare Ansprüche vergleichen kann (s RS0028337). Ob diese Voraussetzungen vorliegen, hängt naturgemäß von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab und stellt damit keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar. Das ist auch hier nicht der Fall; das Vorliegen dieser Voraussetzungen wurde vom Berufungsgericht in vertretbarer und nicht weiter korrekturbedürftiger Weise verneint.

[11] Den Ausführungen der Beklagten zum geplanten Konkurrenzunternehmen des Klägers steht grundsätzlich entgegen, dass die Erwerbstätigkeit eines selbständigen Handelsvertreters für die Zeit nach Beendigung des Vertragsverhältnisses vertraglich nicht beschränkt werden kann (§ 25 HVertrG; s auch RS0116868). Dass es der Vergleich dem Kläger ermöglichte, ohne Einhaltung der Kündigungsfrist sein eigenes Unternehmen zu gründen, betraf lediglich seine Motivlage, die der Beklagten bei Abschluss der Vereinbarung nicht bekannt war und daher auch nicht im Sinn eines einem Vergleich immanenten beidseitigen Nachgebens (s RS0032681) in diesen eingeflossen ist. Dass die Vereinbarung der Klärung einer bisher strittigen Sach- und Rechtslage gedient hätte, die den Wegfall des Ausgleichsanspruchs des Klägers aufgewogen hätte (vgl RS0028337 [T2, T9]), ist aus dem hier festgestellten Sachverhalt nicht hinreichend ableitbar („Unstimmigkeiten“).

[12] 3. Ein anderes Ergebnis zeigt sich auch nicht mit Blick auf Art 19 der Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, wonach die Parteien vor Ablauf des Vertrags keine Vereinbarungen treffen können, die von Art 17 (Ausgleichsanspruch) zum Nachteil des Handelsvertreters abweichen.

[13] Auch wenn man mit Stimmen der Literatur davon ausgeht, dass ein vor dem zeitlichen Ende des Vertrags abgeschlossener Vergleich bei richtlinienkonformer Interpretation des § 27 HVertrG eine solche Vereinbarung darstellt und daher unwirksam ist (Nocker, HVertrG2 [2015] § 24 Rz 781 mit Verweis auf dt. Literatur; s auch Petsche/Petsche-Demmel, HVertrG2 [2014] § 27 Rz 1a zur Zulässigkeit eines Vergleichs im Nachhinein), bedürfte es infolge der Unwirksamkeit des Vergleichs erstgerichtlicher Feststellungen zu den in § 24 Abs 1 HVertrG normierten Kriterien des Ausgleichsanspruchs. In diesem Zusammenhang ist auch die darauf Bezug nehmende Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dass der Billigkeitsgesichtspunkt des § 24 Abs 1 Z 3 HVertrG nicht darauf abstelle, ob eine nach Ablauf des Vertrags gesetzte Handlung rechtswidrig sei, hier nicht zu beanstanden (vgl Nocker, HVertrG2 § 24 Rz 718, zur Berücksichtigung eines nachvertraglichen Wettbewerbsverhaltens bei der Ermittlung der Provisionsverluste [Abwanderungsquote]). Eine Aufhebung des erstgerichtlichen Urteils zur Verfahrensergänzung ist damit in jedem Fall erforderlich.

[14] 4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 40, 50 ZPO. Der Kläger hat auf die Unzulässigkeit des Rekurses nicht hingewiesen (vgl RS0123222 [T8, T13]).

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