OGH 1Ob15/23x

OGH1Ob15/23x25.4.2023

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei I*, vertreten durch Dr. Isabella Hödl, Rechtsanwältin in Graz, gegen die Republik Österreich (Bund), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, wegen 20.000 EUR und Feststellung, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 13. Dezember 2022, GZ 5 R 123/22f‑78, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 20. Juli 2022, GZ 41 Cg 30/22h‑71, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0010OB00015.23X.0425.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Amtshaftung inkl. StEG

 

Spruch:

 

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts einschließlich der Kostenentscheidung wiederhergestellt wird.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 3.933,06 EUR (darin 654,81 EUR USt) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

 

Entscheidungsgründe:

[1] Der Kläger verbüßt eine mehrjährige Haftstrafe. Er ist Tschetschene und muslimischen Glaubens. Er war gemeinsam mit zwei georgischen Häftlingen („Mithäftlinge“) (christlich) orthodoxen Glaubens in einem Haftraum untergebracht. Aufgrund seiner während der Haft begonnenen Lehre und der damit einhergehenden Lerntätigkeit wurde er von den beiden Mithäftlingen „schikaniert“. Auch wegen der unterschiedlichen Herkunft und Religionszugehörigkeit kam es zu erheblichen Auseinandersetzungen mit diesen, die „teilweise das verbale Maß überschritten“. Der Kläger ersuchte daher mehrfach (schriftlich und mündlich) um Verlegung in einen anderen Haftraum, weil er körperliche Übergriffe durch die Mithäftlinge fürchtete und stark unter den Konflikten litt.

[2] Diesen Ersuchen wurde nicht entsprochen, der Kläger wurde davon allerdings nicht verständigt. Auch zwischen den beiden georgischen Mithäftlingen kam es zu Auseinandersetzungen. Bei einem Vorfall griff einer der beiden („Täter“) den anderen mit einem heimlich aus der Küche mitgenommenen (Fleischer‑)Hammer an. Der Kläger konnte eine Verletzung noch verhindern. Eine „formelle“ Meldung dieses Vorfalls unterblieb, weil der Kläger fürchtete, als „Verräter“ Angriffen von Mithäftlingen ausgesetzt zu sein. Er vertraute sich aber mündlich einem Justizwachebeamten an.

[3] Mangels „offizieller“ Meldung und da der Hammer wieder in der Küche aufgefunden wurde, unterblieb eine Kontrolle des Haftraums. Etwa eine Woche nach diesem Vorfall wurde der Kläger vom Täter in der Nacht im Schlaf mit einem Brotmesser attackiert und schwer verletzt. Wie das Messer in den Haftraum gelangte, konnte ebenso wenig festgestellt werden wie der konkrete Auslöser für den Angriff. Der Täter wurde wegen versuchten Mordes verurteilt. „Die Beklagte“ (ihre Organe) war(en) in Kenntnis der „aggress i onsgeladenen Spannungen“ und der Auseinandersetzungen zwischen dem Kläger und den Mithäftlingen sowie seines dringenden Wunsches, deshalb in einen anderen Haftraum verlegt zu werden.

[4] Der Kläger begehrt mit seiner Amtshaftungsklage Schmerzengeld sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für künftige Schäden aus seiner Verletzung. Er wirft den Justizwacheorganen vor, die erforderlichen Maßnahmen unterlassen zu haben, um ihn vor einem Angriff durch den Täter zu schützen. Sie hätten dadurch gegen § 102 Abs 1 StVG verstoßen, wonach strafbare Handlungen an Strafgefangenen durch angemessene Vorsorge hintanzuhalten seien.

[5] Die Beklagte bestritt die Verletzung von Schutz- und Sorgfaltspflichten gegenüber dem Kläger. Seine Gefährdung sei nicht erkennbar gewesen. Spannungen und Konflikte zwischen Mithäftlingen seien systemimmanent und nicht zu verhindern. Da der Kläger kein formales Ansuchen auf Verlegung nach den dafür vorgesehenen Bestimmungen gestellt habe, sei ihm auch ein Verstoß gegen seine Rettungsobliegenheit vorzuwerfen. Jedenfalls treffe ihn am Angriff ein Mitverschulden. Es fehle auch am Adäquanzzusammenhang, weil der Angriff nicht zu erwarten gewesen sei.

[6] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt.

[7] Die Organe der Beklagten hätten sowohl Kenntnis von den anhaltenden Konflikten und (teilweise körperlichen) Auseinandersetzungen zwischen dem Kläger und dem Täter als auch von dessen Angriff auf einen Mithäftling mit einem Hammer gehabt. Dass sie die Strafgefangenen dennoch – trotz ihrer bekannten Gewaltbereitschaft – nur mangelhaft überwacht hätten, begründe einen Verstoß gegen ihre Schutzpflichten. Ein Verstoß gegen die Rettungsobliegenheit sei dem Kläger nicht vorzuwerfen. Die Höhe des begehrten Schmerzengeldes sei aufgrund der Verletzungen des Klägers angemessen, Spätfolgen seien nicht auszuschließen und Dauerfolgen bereits eingetreten.

[8] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und wies das Klagebegehren ab. Es sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 30.000 EUR übersteige und die ordentliche Revision nicht zulässig sei.

[9] Es bestehe kein Schutzgesetz, das die „Belegung der Hafträume im Zusammenhang mit dem persönlichen Auskommen der Strafgefangenen untereinander, deren Staatsangehörigkeit oder deren Religionszugehörigkeit“ regle. Auch „das verbale Maß überschreitende“ Auseinandersetzungen und „aggressionsgeladene Spannungen“ zwischen den Mithäftlingen hätten keine Änderung der Belegung des Haftraums erfordert; ebenso wenig deren unterschiedliche Staats‑ und Religionszugehörigkeit. Der Angriff eines Mithäftlings durch den Täter mit einem Hammer habe keine besonderen Schutzmaßnahmen indiziert, zumal nach Auffinden des Hammers keine Gefahr mehr bestanden habe. Der Angriff sei auch nicht gegen den Kläger gerichtet gewesen. Von einem Angriff auf diesen hätten die Organe der Beklagten nicht ausgehen müssen. Die Verlegungsgesuche des Klägers seien nicht im Zusammenhang mit dem Angriff auf den Mithäftling gestanden und bereits lange zuvor erfolgt. Anhaltspunkte für die Notwendigkeit häufigerer Durchsuchungen des Haftraums nach einer weiteren Waffe seien nicht vorgelegen.

[10] Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil „bereits Rechtsprechung zur Haftung nach dem AHG im Zusammenhang mit Unterlassungen" vorliege und „nur ein Einzelfall zu beurteilen" sei.

Rechtliche Beurteilung

[11] Die außerordentliche Revision ist entgegen diesem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig und berechtigt.

[12] 1. Unterlassungen von Organen eines Rechtsträgers sind rechtswidrig, wenn eine Handlungspflicht bestand und pflichtgemäßes Handeln den Schaden verhindert hätte (RS0081378 [T3]). Voraussetzung für eine Amtshaftung ist, dass amtswegige Maßnahmen vorzunehmen gewesen wären, die schuldhaft nicht gesetzt wurden (RS0081378 [T12]). Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Organverhalten richtig, sondern nur ob es rechtlich vertretbar war (RS0049955).

[13] 2. Nach § 102 Abs 1 Satz 2 StVG ist angemessene Vorsorge dafür zu treffen, dass die Begehung strafbarer Handlungen von und an Strafgefangenen hintangehalten wird. Strafbare Handlungen unter Strafgefangenen sind also keinesfalls hinzunehmen (Drexler/Weger, StVG5 [2022] § 102 Rz 2). Den Bund treffen diesen gegenüber vielmehr Schutz‑ und Fürsorgepflichten (RS0049813). Diese bestehen nicht nur aufgrund gesetzlich angeordneter (konkreter) Handlungspflichten, sondern ergeben sich allgemein aus der Verantwortung des Staats für die ihm anvertrauten Strafgefangenen, wobei insbesondere deren Gesundheit (vgl § 66 Abs 1 StVG) und körperliche Unversehrtheit zu schützen ist.

[14] 3. Im Einzelfall hängen die erforderlichen Schutzmaßnahmen davon ab, inwieweit eine konkrete Gefahr erkennbar war und mit zumutbaren Maßnahmen abgewendet werden hätten können (vgl RS0022778 [T27]). Maßgeblich für das Entstehen einer Handlungspflicht ist also – bei Fehlen konkreter gesetzlicher Verhaltensvorgaben – die Erkennbarkeit einer naheliegenden und voraussehbaren Gefahr (RS0023902; 1 Ob 215/21f zur Amtshaftung). Je größer eine bei gehöriger Aufmerksamkeit erkennbare potentielle Gefahr für Leib und Leben ist, umso eher muss zur Gefahrenabwehr eingeschritten werden und umso geringer ist das Gewicht, das der Zumutbarkeit von Abwehrmaßnahmen zukommt (RS0105568).

[15] 4. Gemäß § 103 StVG können gegenüber Strafgefangenen, von denen ua die Gefahr von Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen oder für die „Sicherheit oder Ordnung“ ausgeht, besondere Sicherheitsmaßnahmen (etwa eine häufigere Durchsuchung des Haftraums oder die Verlegung in einen Einzelhaftraum) vorgenommen werden. Auch gelindere Mittel – insbesondere eine Verlegung in einen anderen Haftraum (vgl Drexler/Weger, StVG5 § 103 Rz 5) – kommen in Betracht. § 102 Abs 1 Satz 1 StVG sieht vor, dass „darüber zu wachen“ ist, dass sich Strafgefangene so verhalten, „wie es in diesem Bundesgesetz angeordnet“ ist. Damit wird nicht nur eine Überwachungspflicht angesprochen, sondern es ergibt sich daraus auch die Verpflichtung, Verhaltensverstößen von Strafgefangenen entsprechend entgegenzuwirken.

[16] 5. Zwischen den drei in einem Haftraum untergebrachten Mithäftlingen war es bereits seit längerer Zeit zu erheblichen – auch körperlichen („das verbale Maß überschreitenden“) – Auseinandersetzungen gekommen. Diese gingen nach den erstinstanzlichen Feststellungen primär von den Mithäftlingen des Klägers aus und hatten ihren Grund in religiösen und nationalen Differenzen sowie darin, dass den Mithäftlingen das Engagement des Klägers bei seiner Lehrausbildung „missfiel“. Diese Auseinandersetzungen und die „aggress i onsgeladenen Spannungen“ waren den Organen der Beklagten bekannt; ebenso, dass der Kläger deshalb in einen anderen Haftraum verlegt werden wollte, was er mehrmals schriftlich sowie mündlich – erfolglos – beantragt hatte.

[17] 6. Wenngleich „Spannungen“ zwischen Häftlingen nie ganz verhindert werden können, wäre zu erwarten gewesen, dass die Organe der Beklagten auf die – über verbale Feindseligkeiten hinausgehenden – Auseinandersetzungen des Klägers mit seinen Mithäftlingen (insbesondere dem späteren Täter) mit angemessenen Mitteln reagierten. Dies wäre jedenfalls nach dem versuchten Angriff des Täters auf seinen Mithäftling mit einem Hammer (was – hätte der Kläger dies nicht verhindert – schwerste Verletzungen oder den Tod bewirken hätte können) zu fordern gewesen. Dieser Vorfall wurde auch (zumindest) einem Justizwacheorgan zur Kenntnis gebracht. Er ließ die besondere Gefährlichkeit des Täters, der bereits in einer anderen Vollzugsanstalt einen Häftling schwer verletzt hatte (was unbestritten blieb und wovon die Organe der Beklagten ebenfalls Kenntnis haben mussten), gegenüber seinen im selben Haftraum untergebrachten Mithäftlingen klar erkennen. Dass sich dessen Gewaltbereitschaft gerade auch gegen den Kläger richtete, ergab sich daraus, dass es diesem gegenüber bereits mehrfach zu körperlichen Auseinandersetzungen gekommen war, was die Justizwacheorgane – wie dargelegt – ebenfalls wussten.

[18] 7. Den Organen der Beklagten wäre es leicht möglich gewesen, der spätestens nach dem Angriff des Täters auf einen Mithäftling mit einem Hammer erkennbaren Gefährdung des Klägers, gegen den sich die Aggression in besonderem Maße richtete, durch eine Verlegung eines der beiden Häftlinge zu begegnen. Dass dem organisatorische Schwierigkeiten entgegengestanden wären, behauptete die Beklagte nicht. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob gegebenenfalls auch eine Verlegung des Täters nach § 103 Abs 2 Z 1a StVG in einen Einzelhaftraum angezeigt gewesen wäre, weil jedenfalls (als gelinderes Mittel) auch eine Verlegung des Klägers (was dieser ohnehin mehrfach angestrebt hatte) eine Entspannung bewirkt und den konkreten Angriff (in der Nacht) verhindert hätte. Dass die Organe der Beklagten nach dem Angriff des Täters auf den Mithäftling untätig blieben und keine Maßnahmen zum Schutz des erkennbar (ebenfalls) gefährdeten Klägers trafen, wobei zumindest die von ihm angestrebte Verlegung in einen anderen Haftraum in Betracht gekommen wäre, kann daher nicht mehr als vertretbar angesehen werden.

[19] 8. Dabei vermag es die Beklagte auch nicht zu entlasten, dass der Kläger den „Vorfall mit dem Hammer“ aus Angst vor Repressalien durch andere Häftlinge nicht „offiziell, formell korrekt“ meldete, weil für eine Kenntnis ihrer Organe jedenfalls auch die mündliche Information eines Justizwacheorgans ausreichte (vgl § 36 Abs 2 StVG, wo keine besonderen Voraussetzungen für die Meldung von Umständen vorgesehen ist, aus denen eine ernste Gefahr für die körperliche Sicherheit von Menschen entstehen könnte). Da der erkennbaren Gefährdung des Klägers durch den Täter schon durch eine Verlegung eines der beiden entgegengewirkt werden hätte können, kommt es für die Haftung der Beklagten auch nicht darauf an, ob der Täter nach seinem Angriff auf den dritten Mithäftling (nach § 103 Abs 2 Z 1 StVG) intensiver überwacht werden hätte müssen (die Revisionsgegnerin spricht von einer Überwachung „Rund-um-die-Uhr“) oder ob die Organe der Beklagten verhindern hätten können, dass dieser heimlich ein Brotmesser (Tatwaffe) in den Haftraum „schmuggelte“.

[20] 9. Eine schuldhafte (RS0027200) Verletzung der Rettungsobliegenheit nach § 2 Abs 2 AHG kann dem Kläger schon deshalb nicht vorgeworfen werden, weil er mehrmals seine Verlegung in einen anderen Haftraum angestrebt und dies mit den Auseinandersetzungen mit seinen beiden Mithäftlingen begründet hatte. Dass dies nicht im Zusammenhang mit der „Hammerattacke“ des Täters auf den (weiteren) Mithäftling stand, spielt schon deshalb keine Rolle, weil der Kläger die Verlegung (für die Organe der Beklagten erkennbar) aufgrund der von diesem ausgehenden besonderen Aggressivität anstrebte. Darauf, in welcher Form er um eine Verlegung ansuchte, kommt es nicht an, räumt doch § 119 StVG den Strafgefangenen das Recht ein, Ansuchen mündlich oder schriftlich zu stellen. Dem Argument der Beklagten, der Kläger habe keine Beschwerde nach den §§ 120 ff StVG erhoben, ist zu entgegnen, dass die Frist zu deren Erhebung gemäß § 120 Abs 2 Satz 3 StVG – soweit hier relevant – erst dann zu laufen beginnt, wenn dem Strafgefangenen der Beschwerdegrund bekannt geworden ist. Der Kläger wurde von den ablehnenden Erledigungen seiner Ansuchen aber gar nicht verständigt, sodass ihm nicht vorgeworfen werden kann, dagegen keine Beschwerde erhoben zu haben. Das Unterlassen von Urgenzen begründet im Allgemeinen keinen Verstoß gegen die Rettungspflicht nach § 2 Abs 2 AHG (RS0110188 [T1]).

[21] 10. Auf ihre Einwände gegen die Höhe des Zahlungsbegehrens und gegen das Feststellungsbegehren, auf den in erster Instanz erhobenen Mitverschuldenseinwand sowie auf den Einwand der fehlenden Adäquanz kam die Beklagte schon in ihrer Berufung nicht mehr zurück. Auch ihre Revisionsrekursbeantwortung enthält dazu keine Ausführungen. Darauf ist daher in dritter Instanz nicht einzugehen.

[22] 11. Zusammengefasst ist der Revision des Klägers aus den dargelegten Gründen Folge zu geben und das klagestattgebende Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.

[23] 12. Aufgrund der Abänderung der Entscheidung des Berufungsgerichts war auch die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens neu zu fassen. Diese sowie die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf den §§ 41, 50 ZPO.

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