European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0020OB00063.23P.0420.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Fachgebiet: Familienrecht (ohne Unterhalt)
Entscheidungsart: Ordentliche Erledigung (Sachentscheidung)
Spruch:
Das Revisionsrekursverfahren betreffend die mj N*ina wird von Amts wegen fortgesetzt.
Dem Revisionsrekurs betreffend die mj N*ina wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Pflegschaftssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
[1] N*a *, geboren 2016, N*ina *, geboren 2018, und N*e *, geboren 2019, sind die Kinder von M* und B*. Die Obsorge wurde den Eltern in den Bereichen Pflege und Erziehung rechtskräftig entzogen, die Kinder befinden sich derzeit bei (verschiedenen) Pflegefamilien. Strittig ist, wem die Obsorge in Zukunft zukommen soll: Das Land Tirol beantragt, die Obsorge für N*a und N*e ihm als Träger der Kinder- und Jugendhilfe und für N*ina jenem Pflegeelternpaar zu übertragen, von dem sie derzeit betreut wird. Die – 1954 bzw 1956 geborenen – mütterlichen Urgroßeltern beantragen, die Obsorge für alle drei Kinder ihnen zu übertragen. Die Großeltern sind nicht bereit, die Obsorge zu übernehmen.
[2] Das Erstgericht übertrug die Obsorge für N*a und N*e dem Land Tirol als Träger der Kinder- und Jugendhilfe und für N*ina den Pflegeeltern.
[3] Es stellte fest, dass N*a und N*e bei ihren Pflegeeltern gut gefördert würden und ein Abbruch der Beziehungen ihr Wohl gefährdete; zudem wären die Urgroßeltern mit der Betreuung dieser Kinder überfordert. Hingegen werde N*ina bei ihren Pflegeeltern vergleichsweise weniger gefördert; ihre Pflegeeltern bemühten sich zwar, wiesen aber eine geringe Bindungstoleranz und ein unsicheres Bindungsverhalten auf. Zwar sei N*ina in die Pflegefamilie integriert, sie hätte aber bei ihren Urgroßeltern die besseren Entwicklungschancen. Daher sei aus „fachlicher Sicht“ auch unter Bedachtnahme auf die negativen Folgen eines Beziehungsabbruchs zu den Pflegeeltern eine Platzierung von N*ina bei den Urgroßeltern zu empfehlen.
[4] Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass bei N*a und N*e von vornherein der Kinder- und Jugendhilfeträger zu betrauen sei, weil die Betrauung der Urgroßeltern das Kindeswohl gefährdete und auch sonst keine geeigneten Personen vorhanden seien. Bei N*ina hätten die grundsätzlich geeigneten Pflegeeltern nach § 178 ABGB Vorrang vor den in dieser Bestimmung nicht genannten Urgroßeltern.
[5] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu.
[6] Es teilte die Auffassung des Erstgerichts, dass die Urgroßeltern nicht – auch nicht analog – von § 178 ABGB erfasst würden. Daher seien bei N*ina die Pflegeeltern zu betrauen. Bei N*a und N*e sei die Betrauung der Urgroßeltern schon wegen der in diesem Fall drohenden Kindeswohlgefährdung nicht möglich, sodass insofern jedenfalls der Kinder- und Jugendhilfeträger zu betrauen sei. Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob § 178 ABGB – allenfalls analog – auch Urgroßeltern erfasse.
[7] Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Urgroßeltern, mit dem sie die Betrauung mit der Obsorge für alle drei Kinder anstreben. Sie vertreten die Auffassung, dass § 178 Abs 1 ABGB (zumindest analog) auch die Urgroßeltern erfasse.
[8] Die Pflegeeltern von N*ina und das Land Tirol als Träger der Kinder- und Jugendhilfe beantragen in ihrer jeweiligen Revisionsrekursbeantwortungen, das Rechtsmittel zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht stattzugeben.
Rechtliche Beurteilung
[9] 1. Der Senat hat den Revisionsrekurs mit Beschluss vom 30. Mai 2022 zu 2 Ob 42/22y zurückgewiesen, soweit er die Regelung der Obsorge für N*a und N*e betrifft. Die Betrauung der Urgroßeltern kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil sie nach den Feststellungen das Wohl dieser Kinder gefährdet. Damit ist der Anwendungsbereich von § 178 Abs 1 ABGB unerheblich.
[10] 2. Das N*ina betreffende Rechtsmittel ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig, es ist auch im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.
[11] 3. Der Senat hat in Bezug auf die Obsorge von N*ina § 178 Abs 1 ABGB anzuwenden.
[12] 3.1. Wegen Bedenken, ob diese Bestimmung und die mit ihr in Zusammenhang stehende Regelung des § 204 ABGB mit Art 1 des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern, BGBl I Nr 2011/4, vereinbar ist, stellte der Senat mit weiterem Beschluss vom 30. Mai 2022 zu 2 Ob 42/22y beim Verfassungsgerichtshof den Antrag,
1. in § 178 Abs 1 ABGB idF des BG BGBl I 2013/15 die Wortfolge: „Ist in dieser Weise der Elternteil, der mit der Obsorge allein betraut ist, betroffen, so hat das Gericht unter Beachtung des Wohles des Kindes zu entscheiden, ob der andere Elternteil oder ob und welches Großelternpaar (Großelternteil) oder Pflegeelternpaar (Pflegeelternteil) mit der Obsorge zu betrauen ist; Letzteres gilt auch, wenn beide Elternteile betroffen sind. Die Regelungen über die Obsorge gelten dann für dieses Großelternpaar (diesen Großelternteil).“
2. in § 204 ABGB idF des BG BGBl I 2013/15 die Wortfolge: „noch Großeltern oder Pflegeeltern“ sowie „oder betraut werden können“.
als verfassungswidrig aufzuheben.
[13] 3.2. Mit der Fortführung des Revisionsrekursverfahrens wurde gemäß § 62 Abs 3 VfGG bis zur Zustellung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs innegehalten.
[14] 3.3. Aufgrund dieses Antrags hob der Verfassungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 9. 3. 2023, GZ G 223/2022-26, in §§ 178 und 204 ABGB die oben zitierten Wortfolgen als verfassungswidrig auf. Weiters wurde ausgesprochen, dass die Aufhebung mit Ablauf des 30. 9. 2024 in Kraft tritt und frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten.
[15] 4.1. Das Revisionsrekursverfahren war damit wieder fortzusetzen.
[16] 4.2. Auch wenn der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen hat, dass die Aufhebung erst mit Ablauf des 30. 9. 2024 in Kraft tritt, ist die aufgehobene Norm doch auf den vorliegenden „Anlassfall“ nicht anzuwenden (Art 140 Abs 7 B-VG). Dieser Anlassfall ist daher so zu entscheiden, als ob die aufgehobene Bestimmung im maßgeblichen Zeitpunkt dem Rechtsbestand nicht angehört hätte (RS0054005; VfGH B 581/03 VfSlg 17.470/2005; Grabenwarter/Frank, B-VG Art 140 Rz 67).
[17] 4.3. Das bei der Betrauung mit der Obsorge sich aus §§ 178, 204 ABGB ergebende "starre Rangverhältnis“, wonach Urgroßeltern oder andere geeignete Angehörige erst dann mit der Obsorge betraut werden könnten, wenn weder der andere Elternteil noch die Groß- oder Pflegeeltern zur Übernahme der Obsorge geeignet sind, ist im Anlassfall nicht mehr anzuwenden. Damit kann die angefochtene Übertragung der Obsorge an die Pflegeeltern nicht mehr auf die aufgehobenen Bestimmungen gestützt werden.
[18] 5.1. Im Beschluss vom 30. Mai 2022 wurde im Zusammenhang mit der Präjudizialität der angefochtenen Normen zwar darauf hingewiesen, dass die Urgroßeltern nach den Feststellungen des Erstgerichts besser geeignet sind als die Pflegeeltern. Dessen ungeachtet kann die von den Rechtsmittelwerbern angestrebte inhaltliche Entscheidung derzeit nicht getroffen werden. Da Obsorgeentscheidungen eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt haben, können sie nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf einer aktuellen bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruhen (RS0106312).
[19] 5.2.1. N*ina war knapp zwei Jahre alt, als sie im Februar 2020 in den Haushalt der Pflegeeltern kam. Seitdem sind mehr als drei Jahre vergangen. Das Erstgericht hat in seinem Beschluss vom 13. 10. 2021 festgestellt, dass sich zwischen N*ina und ihren Pflegeeltern eine Beziehung entwickelt hat, wie sie der zwischen leiblichen Eltern und ihren Kindern entspricht. Im Hinblick auf eine mögliche Vertiefung dieser Beziehung in den letzten 1 ½ Jahren kann sich eine Sachentscheidung nicht allein auf die erstgerichtliche Feststellung stützen, wonach die Entwicklungschancen der damals dreijährigen N*ina bei den Urgroßeltern besser als bei den Pflegeeltern zu qualifizieren seien. Diese Feststellung stützt sich auf das im August 2021 zu Fragen der Obsorge eingeholte (und im Oktober 2021 erörterte) Gutachten.
[20] 5.2.2. Hinzukommt, dass das Erstgericht für die Urgroßeltern eine Erziehungsberatung und eine ambulante Betreuung durch die Kinder- und Jugendhilfe zwingend für erforderlich gehalten hat, wobei offen blieb, ob dies vor oder (auch) nach der Übertragung der Obsorge geschehen soll bzw im Rahmen des Obsorgeverfahrens (vgl auch RS0131142).
[21] 5.2.3. Schließlich ist das Erstgericht von einer Kindeswohlgefährdung ausgegangen, wenn N*ina im Haushalt der Urgroßeltern den Eltern für mehrere Stunden unbeaufsichtigt übergeben wird. Es bleibt aber offen, ob eine solche Gefährdung überhaupt in Betracht kommt bzw sie vermieden werden kann.
[22] 5.3. Die aufgezeigten offenen Punkte bedürfen einer Klärung, damit abschließend beurteilt werden kann, ob iSd § 204 ABGB die Betrauung der Urgroßeltern mit der Obsorge dem Kindeswohl besser entspricht als die Belassung des Kindes bei seinen Pflegeeltern. Dem Erstgericht war deshalb eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.
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