European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0140OS00137.22M.0328.000
Rechtsgebiet: Strafrecht
Spruch:
Die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 23. April 2020, AZ 317 HR 303/17m, und des Oberlandesgerichts Wien vom 21. April 2022, AZ 31 Bs 158/20t, verletzen § 114 Abs 2 StPO.
Gründe:
[1] Die Zentrale Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Wirtschaftsstrafsachen und Korruption führt zu AZ 83 UT 19/17w gegen unbekannte Täter ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts dem Verbrechen des gewerbsmäßigen schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 vierter Fall und Abs 3, § 148 zweiter Fall StGB subsumierter Taten. Nach der Verdachtslage sollen unbekannte Täter am 2. und 3. November 2017 mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz und in der Absicht, sich durch die wiederkehrende Begehung solcher Taten längere Zeit hindurch ein nicht bloß geringfügiges fortlaufendes Einkommen zu verschaffen, * L* als Verfügungsberechtigte der S* AG durch Täuschung über Tatsachen unter Verwendung falscher Daten, nämlich falscher E-Mails des * J* und des vorgeblich beigezogenen Rechtsanwalts * B*, sowie unter Einsatz besonderer Fähigkeiten und Mittel, die eine wiederkehrende Begehung nahelegen (§ 70 Abs 1 Z 1 StGB), durch die Vorgabe, Auftraggeber der Transaktion wäre der Geschäftsführer der S* Holding NV, * J*, und die gewünschten Überweisungen würden im Interesse des Unternehmens erfolgen, zur Durchführung dreier Überweisungen im Gesamtbetrag von 5.822.000 Euro vom Konto der S* AG auf ein Konto der L* Ltd bei der I* Bank Co Ltd (Volksrepublik China) verleitet und damit die S* AG in einem 300.000 Euro übersteigenden Betrag am Vermögen geschädigt haben (ON 2).
[2] Am 6. November 2017 wurde das auf der ersten Überweisung basierende Guthaben von 1.747.000 Euro über Veranlassung der chinesischen Behörden „eingefroren“. Die aufgrund der zweiten und dritten Überweisung gutgeschriebenen Beträge von insgesamt 4.075.000 Euro wurden an die S* AG rücküberwiesen (ON 6 S 19).
[3] Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 15. November 2017, AZ 317 HR 303/17m (ON 10), erfolgte über Antrag der Staatsanwaltschaft (ON 1 S 7 f) gemäß § 109 Z 2 lit a (iVm Z 1 lit b), § 115 Abs 1 Z 2 und 3 StPO die gerichtliche Beschlagnahme des auf einem bestimmt bezeichneten Konto der L* Ltd befindlichen Bankguthabens in Höhe von 1.747.000 Euro durch Drittverbot (§ 379 Abs 3 Z 3 EO).
[4] Über neuerlichen Antrag der Staatsanwaltschaft (ON 1 S 17) erfolgte mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 22. Februar 2018, AZ 317 HR 303/17m (ON 25), abermals gemäß § 109 Z 2 lit a (iVm Z 1 lit b), § 115 Abs 1 Z 2 und 3 StPO die gerichtliche Beschlagnahme des zuvor genannten Bankguthabens nun durch (gesetzwidrige [RIS‑Justiz RS0133580 {T1}]) Überweisung desselben auf ein Konto der Verwahrungsabteilung beim Oberlandesgericht Wien. Am 10. Mai 2019 wurde diesem Beschluss (unter Abzug von Fremdspesen) entsprochen und von der Verwahrungsabteilung ein Geldbetrag von 1.746.821,20 Euro in Verwahrung genommen (ON 46). Am 22. Mai 2019 erteilte die Staatsanwaltschaft der Verwahrungsabteilung gemäß § 307 Abs 2 Geo den Auftrag, den Geldbetrag in gerichtliche Verwahrung zu nehmen und fruchtbringend zu veranlagen (ON 47), was mittels Eröffnung eines Einlagebuchs (in Form eines e-Sparbuchs) durchgeführt wurde (ON 48).
[5] Mit Schriftsatz vom 18. Dezember 2019 beantragte die S* AG die Aufhebung der Beschlagnahme und die Überweisung des beschlagnahmten Vermögenswerts auf ein von ihr bekannt gegebenes Bankkonto (ON 51). Am 14. Jänner 2020 teilte die Staatsanwaltschaft der Antragstellerin mit, dass ihrem Antrag nicht entsprochen werden könne (ON 1 S 31 f).
[6] Einem gegen die Ablehnung des Antrags gerichteten Einspruch wegen Rechtsverletzung (ON 52) gab das Landesgericht für Strafsachen Wien mit Beschluss vom 23. April 2020, AZ 317 HR 303/17m (ON 55), Folge und stellte fest, dass die Einspruchswerberin durch die Weigerung der Staatsanwaltschaft, dem Antrag vom 18. Dezember 2019 zu entsprechen, in ihren subjektiven Rechten gemäß § 114 Abs 2 zweiter Satz erster Fall StPO verletzt wurde.
[7] Das Oberlandesgericht Wien gab der dagegen eingebrachten Beschwerde der Staatsanwaltschaft vom 15. Mai 2020 (ON 56) mit Beschluss vom 21. April 2022, AZ 31 Bs 158/20t (ON 59), nicht Folge.
[8] Das Erstgericht und das Rechtsmittelgericht gingen zusammengefasst jeweils davon aus, dass mit Blick auf die Erweiterung des Anwendungsbereichs von Sicherstellung und Beschlagnahme zur Sicherung privatrechtlicher Ansprüche (§ 110 Abs 1 Z 2, § 115 Abs 1 Z 2 StPO) mit dem Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014, BGBl I 2014/71, und die nach dem Strafverfahrensrecht gebotene Beachtung der Opferinteressen § 114 Abs 2 StPO auch auf unkörperliche Vermögenswerte (wie etwa beschlagnahmte Bankguthaben) analog anzuwenden und demnach eine Ausfolgung solcher Vermögenswerte an berechtigte Personen zulässig sei.
[9] In ihrer gegen die zuletzt genannten Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien und des Oberlandesgerichts Wien gerichteten Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes führt die Generalprokuratur aus:
[10] Sicherstellung und Beschlagnahme sind gemäß §§ 110 Abs 1, 115 Abs 1 StPO aus Beweisgründen (jeweils Z 1) sowie zur Sicherung privatrechtlicher Ansprüche (jeweils Z 2) und vermögensrechtlicher Anordnungen (jeweils Z 3) zulässig. Im Hinblick auf den Entfall des Verweises auf § 367 StPO in § 110 Abs 1 Z 2 StPO und § 115 Abs 1 Z 2 StPO mit BGBl I 2014/71 wurde ihr Anwendungsbereich dahingehend erweitert, dass sie zur Sicherung privatrechtlicher Ansprüche nicht bloß in Bezug auf dem Opfer gehörende körperliche Sachen, sondern etwa auch in Ansehung von Bankguthaben angeordnet werden können (EBRV 181 BlgNR 25. GP 8; Einführungserlass des Bundesministeriums für Justiz vom 12. Dezember 2014, GZ BMJ‑S578.028/0021‑IV 3/2014, eJABl 2014/13).
[11] Gemäß § 114 Abs 1 StPO (siehe auch § 113 Abs 4 StPO) fällt die Verwahrung sichergestellter (und beschlagnahmter; § 109 Z 2 lit a StPO) Gegenstände im Ermittlungsverfahren (nach erfolgter Berichterstattung durch die Kriminalpolizei; § 113 Abs 2 StPO) in die Kompetenz der Staatsanwaltschaft. Dieser obliegt auch die Aufhebung einer Sicherstellung oder Beschlagnahme (§§ 113 Abs 1 Z 2, 114 Abs 2, 115 Abs 6 StPO; RIS‑Justiz RS0130934).
[12] Wenn der Grund für die weitere Verwahrung sichergestellter oder beschlagnahmter Gegenstände wegfällt, sind diese im Allgemeinen jener Person auszufolgen, in deren Verfügungsmacht sie sichergestellt (beschlagnahmt) wurden. Ist diese Person aber offensichtlich nicht berechtigt, sind sie der berechtigten Person auszufolgen oder, wenn eine solche nicht bekannt ist und auch nicht ohne unverhältnismäßigen Aufwand festgestellt werden kann, nach § 1425 ABGB gerichtlich zu hinterlegen (§ 114 Abs 2 StPO; siehe auch § 2 VerwEinzG [strafrechtlicher Erlag]).
[13] Die Bestimmungen des § 114 Abs 1 und 2 StPO nehmen indessen allein auf Gegenstände Bezug und erfassen nach ihrem Wortlaut andere Vermögenswerte nicht.
[14] In der zu Gw 103/21m (14 Os 107/21y) erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes führte die Generalprokuratur folgende Argumente für eine (analoge) Anwendung dieser Bestimmungen auch auf andere Vermögenswerte an:
[15] § 115 Abs 1 StPO spricht etwa ebenfalls bloß von sichergestellten Gegenständen, umfasst nach dem Willen des historischen Gesetzgebers aber evidentermaßen auch sonstige Vermögenswerte (§ 109 Z 1 lit b und Z 2 lit a StPO; vgl EBRV 181 BlgNR 25. GP 8; Einführungserlass BMJ 12. 12. 2014, GZ BMJ‑S578.028/0021‑IV 3/2014, eJABl 2014/13; Tipold/Zerbes, WK‑StPO § 115 Rz 1; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 7.214; Rebisant in LiK‑StPO § 115 Rz 1). Der Umstand, dass in § 5 Abs 1 Z 2 GEG sonstige Vermögenswerte explizit angeführt sind, vermag an dieser Auffassung nichts zu ändern, weil diese Bestimmung in Bezug auf beschlagnahmte Gegenstände und Vermögenswerte auf § 115 StPO verweist, in welchem Vermögenswerte aber gerade nicht genannt sind. Die Ansicht, dass die Ausfolgung sichergestellter (oder beschlagnahmter) Vermögenswerte an das Opfer nach dem Wortlaut des § 114 Abs 2 StPO unzulässig, eine gerichtliche Hinterlegung nach § 1425 ABGB aber denkbar wäre (Tipold/Zerbes, WK‑StPO § 110 Rz 8/1; diesen folgend Frauenberger in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 2 VerwEinzG Rz 10), überzeugt nicht. § 114 Abs 2 StPO spricht generell bloß von sichergestellten Gegenständen. Gelangt man daher zu der Überzeugung, dass diese Formulierung tatsächlich auch sonstige Vermögenswerte umfasst, so ist sowohl deren Ausfolgung an die berechtigte Person als auch – in Ermangelung einer solchen – die gerichtliche Hinterlegung zulässig. Erachtet man eine solche Auslegung und damit eine Ausfolgung von Vermögenswerten an das Opfer für unzulässig, kann definitionsgemäß auch eine Hinterlegung nach § 1425 ABGB nicht in Betracht kommen.
[16] Insoweit ist zu beachten, dass eine solche Hinterlegung auch in Bezug auf Geldforderungen möglich ist (§§ 289 Z 1, 290 Abs 1 Geo [Förderung des bargeldlosen Verkehrs]). Der Begriff „Ausfolgung“ (siehe § 114 Abs 2 StPO) erfasst im Übrigen auch Banküberweisungen (vgl §§ 319 Z 1 lit a, 320 Abs 1 Geo, § 15 Abs 1 VerwEinzG; Stabentheiner in Kletečka/Schauer, ABGB‑ON1.05 § 1425 Rz 20) und ist damit nicht auf körperliche Gegenstände reduziert. Demnach erscheint es – weil die StPO keine Vorkehrungen enthält, wie Opfer auf sichergestellte (beschlagnahmte) Vermögenswerte greifen können (Tipold/Zerbes, WK‑StPO § 110 Rz 8/1) – geboten, § 114 Abs 1 und 2 StPO (wie auch § 115 Abs 1 StPO) auf solche Werte (analog) anzuwenden.
[17] Im Übrigen kann auch in Ansehung des Umstands, dass Sicherstellung und Beschlagnahme gemäß §§ 110 Abs 1 Z 2, 115 Abs 1 Z 2 StPO ohnedies ausschließlich zur Sicherung privatrechtlicher Rückstellungs-, Rückabwicklungs- und Rückforderungsansprüche zulässig sind (Tipold/Zerbes, WK‑StPO § 110 Rz 8/1; Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 7.173), dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, die tatsächliche Befriedigung solcher (evidenter) Ansprüche im Strafverfahren schlechterdings unmöglich machen zu wollen.
[18] Demgegenüber lassen sich Gründe anführen, die einer analogen Anwendung des § 114 (Abs 1 und 2) StPO auch auf unkörperliche Vermögenswerte (wie etwa Bankguthaben) entgegenstehen (vgl Gw 115/21a; JSt‑GP 2022/1, 188):
[19] Strafprozessuale Vorschriften sind zwar einer Analogie zugänglich, unabdingbare Voraussetzung für einen zulässigen Analogieschluss ist aber eine planwidrige Regelungslücke. Eine solche ist dort anzunehmen, wo das Gesetz, gemessen an seiner eigenen Absicht und immanenten Teleologie, unvollständig ist und seine Ergänzung nicht einer vom Gesetz selbst gewollten Beschränkung widerspricht (Markel, WK‑StPO § 1 Rz 41; RIS‑Justiz RS0008866, RS0088780). Wurde vom Gesetzgeber für einen bestimmten Sachverhalt eine bestimmte Rechtsfolge bewusst nicht angeordnet, fehlt es an einer Gesetzeslücke und damit an der Grundvoraussetzung ergänzender Rechtsfindung. Allein der Umstand, dass eine Regelung wünschenswert wäre, reicht für die Annahme einer planwidrigen Lücke nicht aus (RIS‑Justiz RS0008866 [insb T6, T8, T10, T12 und T13]).
[20] Mit dem Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014, BGBl I 2014/71, wurde lediglich der Anwendungsbereich von Sicherstellung und Beschlagnahme zur Sicherung privatrechtlicher Ansprüche (§§ 110 Abs 1 Z 2, 115 Abs 1 Z 2 StPO) erweitert, die rechtliche Möglichkeit einer Ausfolgung (iSd § 114 Abs 2 StPO) sichergestellter oder beschlagnahmter unkörperlicher Vermögenswerte (insb etwa an Opfer; § 65 Z 1 lit c StPO) im Ermittlungs- oder Hauptverfahren (schon vor Urteilsfällung) wurde hingegen nicht geschaffen. Allein aus dem Unterbleiben der Normierung einer § 114 Abs 2 StPO entsprechenden Ausfolgungsregelung (auch) für andere Vermögenswerte als körperliche Gegenstände ist die Annahme, der Gesetzgeber hätte einen gesondert regelungsbedürftigen Sachverhalt schlechterdings übersehen, aber nicht abzuleiten, sodass eine planwidrige Regelungslücke nicht vorliegt und eine analoge Anwendung des § 114 Abs 2 StPO ausscheidet.
[21] Im Übrigen sprechen auch die Bestimmungen der §§ 367 Abs 1 und 2, 369 Abs 1 StPO gegen eine Gleichbehandlung körperlicher Gegenstände und anderer Vermögenswerte. Gemäß § 367 Abs 1 und 2 StPO sind nämlich sichergestellte oder beschlagnahmte körperliche Sachen des Opfers (von Amts wegen und unter bestimmten Voraussetzungen auch schon vor Rechtskraft des Urteils im Hauptverfahren oder im Ermittlungsverfahren) an dieses auszufolgen, wobei die Rückstellungsanordnung des Gerichts (im Hauptverfahren) oder der Staatsanwaltschaft (im Ermittlungsverfahren) aber keine bindende Entscheidung über das Recht an der Sache darstellt (Spenling, WK‑StPO § 367 Rz 4 ff, 17 f), während gemäß § 369 Abs 1 StPO die Verpflichtung des Angeklagten zum Schadenersatz – aufgrund einer hinreichend konkretisierten Anschlusserklärung des Privatbeteiligten – im Urteil auszusprechen ist, das sodann einen Exekutionstitel begründet (§ 373 StPO, § 1 Z 8 EO; Spenling, WK‑StPO § 369 Rz 1, 2, 4, 11 f). Der Befriedigung von Geldansprüchen einzelner Tatopfer im Ermittlungsverfahren mangelt es daher an einer gesetzlichen Grundlage.
[22] Um die – mit Blick auf divergierende Rechtsprechung (OLG Wien 17 Bs 149/17m, 19 Bs 26/20t, 19 Bs 105/20k und 31 Bs 158/20t) wichtige – Rechtsfrage, ob eine (analoge) Anwendung des § 114 StPO auf Vermögenswerte geboten ist, an den Obersten Gerichtshof heranzutragen (vgl Ratz, WK‑StPO § 292 Rz 4), vertritt die Generalprokuratur nominell letzteren Standpunkt.
Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:
Rechtliche Beurteilung
[23] Die Beschlagnahme nach § 115 Abs 1 StPO dient der Sicherung des behördlichen Zugriffs auf Gegenstände und – weil das Gesetz mit Blick auf die bestehenden Möglichkeiten der Sicherstellung auch anderer Vermögenswerte (§ 109 Z 2 lit a iVm Z 1 lit b StPO) und der Beschlagnahme durch Veräußerungs-, Belastungs‑ und Verpfändungsverbot (§ 109 Z 2 lit b, § 115 Abs 4 StPO) planwidrig lückenhaft ist (Hinterhofer/Oshidari, Strafverfahren Rz 7.214; Rebisant in LiK‑StPO § 115 Rz 1; Tipold/Zerbes, WK‑StPO § 115 Rz 1; vgl auch EBRV 181 BlgNR 25. GP 8) – andere Vermögenswerte sowie in öffentlichen Büchern eingetragene Liegenschaften und Rechte.
[24] Über sie hat das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft oder einer von der Sicherstellung betroffenen Person unverzüglich (mit Beschluss) zu entscheiden (§ 115 Abs 2 StPO). Dabei ist nach Maßgabe des § 109 Z 2 lit a (iVm Z 1 lit a und b) StPO zwischen Gegenständen und anderen Vermögenswerten zu unterscheiden, darüber hinaus kommt die (hier nicht gegenständliche) Beschlagnahme von in öffentlichen Büchern eingetragenen Liegenschaften oder Rechten (mittels Verbot der Veräußerung, Belastung oder Verpfändung [§ 109 Z 2 lit b StPO]) in Betracht. (Nur) Bei Gegenständen, also beweglichen körperlichen Sachen, kann die Beschlagnahme (auch) durch Begründung der behördlichen Verfügungsmacht über diese erfolgen (§ 109 Z 2 lit a iVm Z 1 lit a StPO; vgl [zur Sicherstellung] § 111 Abs 1, § 114 Abs 1 StPO). Steht hingegen die Beschlagnahme eines anderen Vermögenswertes in Rede, kommt nur das Drittverbot oder das Verbot der Veräußerung oder Verpfändung desselben in Betracht (§ 109 Z 2 lit a iVm Z 1 lit b StPO). Das Gesetz sieht daher nicht vor, dass sich andere Vermögenswerte (als Gegenstände) in behördlicher Verwahrung befinden (zur Unzulässigkeit der Überweisung einer durch Drittverbot beschlagnahmten [Bank-]Forderung auf ein Konto der Verwahrungsabteilung beim Oberlandesgericht vgl RIS‑Justiz RS0133580).
[25] Die Beschlagnahme ist – im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft, nach Einbringen der Anklage vom Gericht – (nur) aufzuheben, wenn und sobald die Voraussetzungen derselben nicht oder nicht mehr bestehen oder (im Fall der Beschlagnahme zur Sicherung einer Entscheidung auf Verfall [§ 20 StGB] oder auf erweiterten Verfall [§ 20b StGB]) ein nach § 115 Abs 5 StPO bestimmter Geldbetrag erlegt wird (§ 115 Abs 6 StPO). Eine Sicherungsbeschlagnahme nach § 115 Abs 1 Z 2 oder 3 StPO ist somit im Ermittlungsverfahren erst dann aufzuheben, wenn es aus den genannten Gründen wahrscheinlich nicht (mehr) zu einer Entscheidung über privatrechtliche Ansprüche im Hauptverfahren oder zu einer vermögensrechtlichen Anordnung im Hauptverfahren oder in einem selbständigen Verfahren (§§ 443 ff StPO) kommt. Liegen diese Voraussetzungen nur für einen Teil der von der Beschlagnahme umfassten Gegenstände und Vermögenswerte vor oder fällt ein Rechtsgrund für die Beschlagnahme weg, ist sie nur in diesem Umfang aufzuheben oder der Befreiungsbetrag nach § 115 Abs 5 StPO entsprechend herabzusetzen (vgl Tipold/Zerbes, WK‑StPO § 115 Rz 33, 36 ff).
[26] Nach dem Telos des Gesetzes soll durch die Aufhebung der Beschlagnahme grundsätzlich jener Zustand wiederhergestellt werden, der vor der Sicherungsmaßnahme bestanden hat. Dies ist in den Fällen der Beschlagnahme nach § 109 Z 2 lit a iVm Z 1 lit b oder nach § 109 Z 2 lit b StPO de lege lata stets der Fall, bedeutet doch die Aufhebung der Beschlagnahme diesfalls, dass die gerichtlichen Verfügungen, mit denen die Rechtspositionen der von der Beschlagnahme betroffenen Personen eingeschränkt wurden, aufzuheben und bücherliche Anmerkungen zu löschen sind. Lediglich für die Rückstellung beschlagnahmter Gegenstände sind die Kriterien des § 114 Abs 2 StPO sinngemäß heranzuziehen (RIS‑Justiz RS0130934), weshalb sie primär jener (auch juristischen) Person auszufolgen sind, in deren Verfügungsmacht sie sichergestellt oder in Beschlag genommen wurden. Ist diese Person offensichtlich nicht berechtigt, sind sie der berechtigten Person auszufolgen oder, wenn eine solche nicht ersichtlich ist und nicht ohne unverhältnismäßigen Aufwand festgestellt werden kann, nach § 1425 ABGB gerichtlich zu hinterlegen. Die Ausfolgung von Gegenständen an Personen, in deren Verfügungsmacht sie sich vor der Beschlagnahme gar nicht befanden, ist damit de facto auf völlig unstrittige Sachverhaltskonstellationen beschränkt (RIS-Justiz RS0131296, RS0130932) und setzt voraus, dass sich die Gegenstände auch tatsächlich in behördlicher Verfügungsmacht („Verwahrung“; §§ 109 Z 1 lit a, 114 StPO) befinden.
[27] Von den soeben dargelegten Folgen der Aufhebung einer Beschlagnahme ist die Frage zu unterscheiden, ob die Strafprozessordnung Bestimmungen enthält, die darüber hinaus eine Übertragung von Vermögenswerten an Opfer oder Privatbeteiligte (ausnahmsweise) im Ermittlungsverfahren oder vor einer die Anklage erledigenden Gerichtsentscheidung ermöglichen.
[28] Das in § 69 Abs 3 StPO geregelte Vorgehen nach einer gemäß § 110 Abs 1 Z 2 StPO erfolgten Sicherstellung im Ermittlungsverfahren bezieht sich ausschließlich auf die Rückgabe von Gegenständen an das Opfer, deren Beschlagnahme aus Beweisgründen nicht erforderlich ist. Ebenso ist die Ausfolgung nach § 367 Abs 2 StPO nur auf körperliche, „in natura“ noch vorhandene und behördlich verwahrte Sachen, die zur Beweisführung nicht mehr benötigt werden, anwendbar (vgl Spenling, WK-StPO § 367 Rz 5). Beide Bestimmungen sind in Zusammenschau mit § 109 Z 1 lit a und (im Fall der Beschlagnahme) Z 2 lit a StPO zu lesen und setzen voraus, dass sich die Gegenstände in behördlicher Verfügungsmacht befinden, weshalb sie für die Übertragung anderer Vermögenswerte an Opfer oder Privatbeteiligte von vornherein keine taugliche Grundlage bieten.
[29] Aus § 114 Abs 2 StPO kann eine allgemeine Bestimmung zur Ausfolgung oder Übertragung beschlagnahmter Gegenstände (oder gar anderer Vermögenswerte) an Opfer oder Privatbeteiligte vor einer endgültigen Entscheidung über privatrechtliche Ansprüche (§§ 366 ff StPO) nicht abgeleitet werden. Wie aus den obigen Ausführungen hervorgeht, sieht die StPO nicht vor, dass andere Vermögenswerte (als bewegliche körperliche Sachen) in behördliche Verwahrung genommen werden können. Die von den Gerichten erster und zweiter Instanz sowie von der Generalprokuratur angedachte analoge Anwendung (vgl dazu RIS-Justiz RS0088780, RS0008866) des § 114 Abs 2 StPO auf andere Vermögenswerte (als behördlich verwahrte Gegenstände) scheitert daher schon aus diesem Grund am Fehlen einer planwidrigen Lücke.
[30] Eine der Analogie zugängliche Regelungslücke kann auch nicht auf Basis der Beseitigung des Klammerverweises auf § 367 StPO in § 110 Abs 1 Z 2 und § 115 Abs 1 Z 2 StPO mit dem Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014 (BGBl I 2014/71) argumentiert werden. Denn durch die Novellierung sollte (nur) der Anwendungsbereich von Sicherstellung und Beschlagnahme erweitert werden, indem die Möglichkeit geschaffen wurde, nicht nur körperliche Sachen, sondern auch andere Vermögenswerte (insb Bankguthaben) zur Sicherung privatrechtlicher Ansprüche sicherzustellen oder in Beschlag zu nehmen (EBRV 181 BlgNR 25. GP 8; Einführungserlass des BMJ vom 12. Dezember 2014, GZ BMJ‑S578.028/0021‑IV 3/2014, 23). Mit Blick auf die ausdrückliche Bezugnahme der Materialien auf den eingeschränkten Anwendungsbereich des § 367 StPO bestand für den Gesetzgeber ersichtlich (zu Recht) kein Bedarf, darüber hinaus (systemfremde) Regelungen zu schaffen, die eine Übertragung anderer Vermögenswerte an Opfer oder Privatbeteiligte (auch schon im Ermittlungsverfahren) ermöglichen (vgl auch die unverändert gebliebene Bestimmung des § 115a StPO).
[31] Solche würden auch nicht im Einklang mit den übrigen Bestimmungen der StPO über die Geltendmachung privatrechtlicher Ansprüche im Strafverfahren und die Rückgabe von Gegenständen an Opfer stehen. So kann der Zuspruch einer in Geld bestehenden Ersatzleistung an Opfer, die sich dem Verfahren als Privatbeteiligte (§ 65 Z 2 StPO) angeschlossen und ihre Ansprüche hinreichend konkretisiert haben (§ 67 StPO), ebenso wie der Ausspruch auf Herausgabe eines bestimmten, nicht in der Verfügungsmacht des Gerichts stehenden Gegenstands nur in einem über die Anklage erkennenden, schuldig sprechenden Urteil erfolgen (§ 260 Abs 1 Z 5, § 366 Abs 2, § 369 Abs 1 StPO), das im Fall der Rechtskraft ein Exekutionstitel (§ 373 StPO, § 1 Z 8 EO) ist. Steht demgegenüber die Rückstellung einer entzogenen, aber – nach Auffindung bei einer der in § 367 Abs 1 StPO genannten Personen oder an einem solchen Ort – in Verwahrung des Gerichts befindlichen körperlichen Sache an ein Opfer (§ 65 Z 1 StPO) in Rede, ist (nur) nach § 367 StPO vorzugehen, wobei mit dieser Vorgangsweise keine bindende Entscheidung über das Recht an der Sache getroffen wird (zum Ganzen Spenling, WK‑StPO § 367 Rz 4 ff, 16 ff und § 369 Rz 1 f, 3 ff). Für die Befriedigung von (geldwerten) Schadenersatz- oder Bereicherungsansprüchen einzelner Tatopfer bereits im Ermittlungsverfahren besteht demnach keine gesetzliche Grundlage (vgl Gw 115/21a, JSt‑GP 2022/1, 188).
[32] Im vorliegend zu beurteilenden Fall ist zu beachten, dass zwar eine wirksame Beschlagnahme vorliegt, die beschlagnahmte Geldforderung aber rechtswidrig (vgl 14 Os 107/21y) in gerichtliche Verwahrung genommen wurde. Damit besteht ein Zustand, den das Gesetz im Zusammenhang mit beschlagnahmten Vermögenswerten nicht vorsieht. Dieser bewirkt aber nicht, dass das Bankguthaben als (anderer) Vermögenswert nunmehr wie ein gemäß § 109 Z 2 lit a iVm Z 1 lit a StPO beschlagnahmter Gegenstand zu behandeln ist.
[33] Eine tatsächlich erfolgte Befriedigung von privatrechtlichen Ansprüchen, die darüber hinaus zu einem Wegfall der – in der Beschlagnahmeanordnung bejahten, in den angefochtenen Beschlüssen aber nicht umfassend thematisierten – Voraussetzungen des § 115 Abs 1 Z 3 StPO geführt hätte (vgl zum Verhältnis zwischen Rückforderungsansprüchen des Opfers und [nur] § 20 Abs 1 zweiter Fall StGB RIS‑ Justiz RS0132362), lag gegenständlich nicht vor. Die Aufhebung der Beschlagnahme nach § 115 Abs 6 StPO – die im Übrigen bei gesetzeskonformer Beschlagnahme dazu geführt hätte, dass die Inhaberin des Kontos über dieses wieder frei verfügen kann – stand demnach nicht in Rede. Eine gesetzliche Grundlage, welche die Übertragung des Bankguthabens an die Privatbeteiligte vor einer Entscheidung über die privatrechtlichen Ansprüche (§§ 366 ff StPO) stützen würde, ist der Strafprozessordnung – wie oben dargestellt – nicht zu entnehmen.
[34] Indem die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 23. April 2020, AZ 317 HR 303/17m (ON 55), und des Oberlandesgerichts Wien vom 21. April 2022, AZ 31 Bs 158/20t (ON 59), die Bejahung der Möglichkeit der Ausfolgung des beschlagnahmten Vermögenswertes an die Privatbeteiligte auf eine analoge Anwendung des § 114 Abs 2 StPO gestützt haben, verletzen sie daher jeweils das Gesetz in dieser Bestimmung.
[35] Der Ausspruch der aufgezeigten Gesetzesverletzung war nicht mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 vorletzter Satz StPO).
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