OGH 1Ob16/23v

OGH1Ob16/23v28.2.2023

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Musger als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Wessely‑Kristöfel und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei I*, vertreten durch die Strasser Huber Rechtsanwälte OG in Graz, gegen die beklagte Partei Dr. G*, wegen Wiederaufnahme des Verfahrens AZ 27 Cg 19/21v des Landesgerichts Eisenstadt (Streitwert 34.000 EUR), über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Klägers gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 9. Jänner 2023, GZ 16 R 230/22v‑7, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0010OB00016.23V.0228.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird gemäß § 526 Abs 2 Satz 1 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 528 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

 

Begründung:

[1] Der Beklagte kontrollierte als Hausarzt des Klägers regelmäßig die Dosierung eines ihm verschriebenen Medikaments zur Blutgerinnung. Im Vorprozess begehrte der Kläger vom Beklagten Schadenersatz, weil dieser am 4. 11. 2019 einen falschen Gerinnungsfaktor (INR‑Wert) ermittelt und sein Medikament daher zu hoch dosiert habe. Der Kläger habe deshalb am 23. 11. 2019 eine Hirnblutung erlitten.

[2] Das Erstgericht wies die Klage im Vorverfahren rechtskräftig ab. Es ging davon aus, dass der Beklagte am 4. 11. 2019 einen richtigen INR‑Wert von 5,3 und nicht – wie vom Kläger behauptet – von 1 ermittelt habe. Dass er eine zu hohe Dosierung seines Medikaments angeordnet hätte, habe daher nicht festgestellt werden können. Der INR‑Wert des Klägers sei vom 4. 11. 2019 bis zur nächsten Messung am 18. 11. 2019 auf 3,5 gesunken. Daraus sei entsprechend dem im Vorverfahren eingeholten Sachverständigengutachten zu schließen gewesen, dass die Dosierung durch den Beklagten richtig war, weil der INR‑Wert bei zu hoher Dosierung nicht gesunken wäre.

[3] In seiner auf § 530 Abs 1 Z 7 ZPO gestützten Wiederaufnahmeklage behauptet der Kläger, der Sachverständige habe dem Klagevertreter mit E‑Mail vom 15. 10. 2022 mitgeteilt, dass „in der Reihe von 5,3 - 3,5 - 6,5 der mittlere Wert eine Fehlmessung war .“ Wäre der Sachverständige schon im Vorverfahren von der Unrichtigkeit des „mittleren“ INR‑Werts (vom 18. 11. 2019) von 3,5 ausgegangen, wäre er zum Ergebnis gelangt, dass die Dosierung durch den Beklagten aufgrund der Messung vom 4. 11. 2019 – wie behauptet – zu hoch gewesen sei.

[4] Das Erstgericht wies die Wiederaufnahmeklage zurück. Der Sachverständige sei im Vorprozess davon ausgegangen, dass der am 18. 11. 2019 gemessene INR‑Wert von 3,5 richtig sei. Sollte er nunmehr von einer Fehlmessung ausgehen, begründe dies keinen Wiederaufnahmegrund, weil ein nachträgliches Gutachten keine neue Tatsache iSd § 530 Abs 1 Z 7 ZPO sei, wenn das Thema des Gutachtens – wie hier – im Vorprozess bekannt war. Auch dass sich aus späteren Tatumständen die Unrichtigkeit des Gutachtens ergebe, rechtfertige für sich genommen keine Wiederaufnahme. Eine im Anlassverfahren mögliche Kritik am Gutachten könne dadurch nicht nachgeholt werden.

[5] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Zweck des § 530 Abs 1 Z 7 ZPO sei es, eine unrichtige Tatsachengrundlage zu beseitigen und nicht Verfahrensfehler der Partei zu korrigieren. Der Kläger sei dafür beweispflichtig, dass er eine neue Tatsache oder ein Beweismittel ohne Verschulden nicht schon im Vorverfahren geltend machen habe können. Der Sachverständige habe im Vorprozess dargelegt, dass dem am 23. 11. 2019 (aufgrund der Hirnblutung im Krankenhaus) gemessenen Wert erhebliche Bedeutung für die Beurteilung der behaupteten Überdosierung des Medikaments durch den Beklagten zukomme. Da der Kläger dazu kein Vorbringen erstattet oder Beweismittel vorgelegt habe, sei der Sachverständige von der Richtigkeit des am 18. 11. 2019 gemessenen INR‑Werts von 3,5 ausgegangen. Wenn dieser nunmehr aus dem am 23. 11. 2019 gemessenen Wert von 6,5 ableite, dass der am 18. 11. 2019 gemessene Wert von 3,5 nicht richtig sein konnte, so lege der Kläger nicht dar, weshalb er „dieses Beweismittel“ nicht schon früher benützen habe können.

[6] Der dagegen erhobene außerordentliche Revisionsrekurs des Klägers ist nicht zulässig :

Rechtliche Beurteilung

[7] 1. Der Kläger weist zu Recht darauf hin, dass das Rekursgericht zu Unrecht davon ausging, er habe im Vorverfahren kein Vorbringen zum INR‑Wert vom 23. 11. 2019 erstattet und dazu keine Beweise vorgelegt. Tatsächlich legte er in der Verhandlung den Laborbefund von diesem Tag vor und verwies auf den sich daraus ergebenden Wert. Der damit aufgezeigten Aktenwidrigkeit kommt aber keine rechtliche Relevanz zu.

[8] 2. Der Wiederaufnahmskläger will die Unrichtigkeit des im Vorprozess eingeholten Sachverständigengutachtens damit dartun, dass der Sachverständige nunmehr zu einer anderen Einschätzung gelangt sei. Nach ständiger Rechtsprechung verwirklicht die Mangelhaftigkeit oder Unrichtigkeit eines Gutachtens für sich genommen aber keinen Wiederaufnahmegrund (9 Ob 299/00m mwN; 7 Ob 92/05p; vgl auch 10 ObS 69/12p). Selbst wenn sich die Unrichtigkeit eines Gutachtens aus späteren Tatumständen ergäbe, würde dies nicht zur Wiederaufnahme berechtigen (RS0044555; RS0044834 [T6, T7]); ebensowenig, wenn ein Sachverständiger von einem von ihm erstatteten Gutachten abgeht (RS0044827; 1 Ob 188/14z [„Kunstfehler“]). Abweichendes könnte – soweit hier relevant – nur gelten, wenn das im Vorprozess erstattete Gutachten auf einer unzulänglichen Grundlage beruht hätte und die Entscheidungsgrundlage aus diesem Grund unvollständig gewesen wäre (RS0044834 [T10, T12]; RS0044555 [T3]).

[9] 3. Dass das Gutachten im Vorprozess aufgrund einer Unvollständigkeit der Befundgrundlage unrichtig geblieben sei, wird vom Kläger gar nicht behauptet. Da die bloße Unrichtigkeit eines Gutachtens nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs „für sich genommen“ keine Wiederaufnahme rechtfertigt, begegnen die Entscheidungen der Vorinstanzen im Ergebnis somit keinen Bedenken. Ob der Sachverständige hier überhaupt von seinem Gutachten abgehen wollte, ist außerdem fraglich, führte er in seinem E‑Mail vom 15. 10. 2022 doch aus, dass es „rückblickend danach ausschaut, als wäre durch die Vorschreibung durch [den Beklagten] der INR‑Wert von 5,3 auf 3,5 zurückgegangen“. Davon ging er aber bereits in seinem im Vorprozess erstatteten Gutachten aus.

[10] 4. Der Revisionsrekurs hält der Rechtsprechung, wonach es keine Wiederaufnahme rechtfertigt, wenn ein Sachverständiger nachträglich von seinem Gutachten abgeht, auch keine überzeugenden Argumente entgegen.

[11] Seinem Hinweis auf die vereinzelte Kritik in der Literatur, wonach die Unterscheidung zwischen einer nachträglich abweichenden Aussage eines Zeugen und dem Fall, dass ein Sachverständiger nachträglich sein Gutachten „revidiert“, unsachlich sei ( Jelinek in Fasching / Konecny 3 § 530 ZPO Rz 153/8), hielt schon das Rekursgericht zutreffend entgegen, dass eine abweichende Zeugenaussage auch nach diesem Autor nur dann zur Wiederaufnahme berechtigen könnte, wenn sie in einem Zivil‑ oder Strafverfahren abgelegt wurde ( Jelinek aaO Rz 152 mwN). Dem kann die außergerichtliche Mitteilung des Sachverständigen in seinem E‑Mail vom 15. 10. 2022 nicht gleich gehalten werden, zumal sich aus dieser auch kein eindeutiges Abgehen von seinem Gutachten ergibt und die Behauptung, der am 18. 11. 2019 gemessene Wert von 3,5 sei unrichtig, gänzlich unbegründet blieb. Insoweit kann auch nicht davon gesprochen werden, der Sachverständige hätte einen „Befundfehler“ zugestanden. Auf die im Revisionsrekurs ins Treffen geführte Kritik von Jelinek (aaO Rz 153/8) an der Entscheidung zu 2 Ob 184/08k muss schon deshalb nicht eingegangen werden, weil sich der Wiederaufnahmekläger dort auf eine neue Untersuchungsmethode berief, die aber tatsächlich schon während des Vorverfahrens zur Verfügung gestanden wäre.

[12] 5. Im Übrigen ist es auch nicht Sinn und Zweck der Wiederaufnahme nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO, Prozessfehler der Partei zu korrigieren (RS0039991). Solche sind ihr als Verschulden iSd § 530 Abs 2 ZPO anzulasten (RS0039991 [T7]; RS0044558 [T7]), wobei den Wiederaufnahmskläger die Behauptungs‑ und Beweislast für sein fehlendes Verschulden trifft (RS0044558 [T7, T9, T11, T12]).

[13] Der Kläger legte den Befund vom 23. 11. 2019 mit einem INR‑Wert von 6,5 in der Verhandlung vor. Er behauptete in seiner Wiederaufnahmeklage, den Sachverständigen mit diesem hohen Wert konfrontiert und gefragt zu haben, inwieweit der am 18. 11. 2019 gemessene Wert von 3,5 daher richtig sein könne. Dies fand im Verhandlungsprotokoll aber ebensowenig Niederschlag wie die vom Kläger behauptete Antwort des Sachverständigen, wonach auch aufgrund des am 23. 11. 2019 gemessenen Werts kein Anhaltspunkt dafür bestehe, dass der Wert vom 18. 11. 2019 falsch sei. Wäre diese (behauptete) Aussage des Sachverständigen protokolliert worden (zur diesbezüglichen Diligenzpflicht der Partei vgl 1 Ob 46/95), hätte die nunmehr behauptete Unrichtigkeit dieser Schlussfolgerung zu einer im Vorverfahren zu bekämpfenden Unrichtigkeit seines Gutachtens geführt (10 ObS 69/12p). Da der Kläger in seiner Wiederaufnahmeklage nicht darlegte, warum ihm eine Gutachtenskritik im Anlassverfahren nicht möglich gewesen wäre (vgl Jelinek aaO Rz 153/4), kam er auch seiner Behauptungslast zum fehlenden Verschulden nicht nach.

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