OGH 15Os129/22t

OGH15Os129/22t2.2.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 2. Februar 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.‑Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in der Strafsache gegen * S* wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter und sechster Fall, Abs 2 Z 1 und Abs 4 Z 1 und Z 3 SMG über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil das Landesgerichts Wiener Neustadt als Schöffengericht vom 12. September 2022, GZ 43 Hv 36/22b‑63, sowie über die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss der Vorsitzenden vom 5. Dezember 2022 (ON 85) nach Einsichtnahme durch die Generalprokuratur nichtöffentlich (§ 62 Abs 1 zweiter Satz OGH‑Geo 2019) den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0150OS00129.22T.0202.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Suchtgiftdelikte

 

Spruch:

Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Beschluss aufgehoben.

Über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufungen wird gesondert entschieden werden.

 

Gründe:

[1] Mit Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Schöffengericht vom 12. September 2022, GZ 43 Hv 36/22b-63, wurde * S* des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter und sechster Fall, Abs 2 Z 1, Abs 4 Z 1 und Z 3 SMG, teils als Beteiligter nach § 12 dritter Fall StGB, schuldig erkannt.

[2] Inhaltlich des Hauptverhandlungsprotokolls (ON 62 S 25) meldete der Angeklagte (nach Rechtsmittelbelehrung) „unverzüglich Rechtsmittel an, dies wird nach Rücksprache mit seinem Verteidiger aufrecht erhalten“.

[3] Nach Vollmachtswechsel (ON 67) und Zustellung einer Urteilsausfertigung („zur Ausführung der angemeldeten Rechtsmittel“; ON 1 S 31) führte die (neue) Verteidigerin des Angeklagten die Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung wegen Strafe aus (ON 81).

[4] Mit Beschluss vom 5. Dezember 2022 (ON 85) wies die Vorsitzende des Schöffengerichts die Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten gemäß § 285a Z 1 StPO zurück.

[5] Zur Anmeldung einer Nichtigkeitsbeschwerde bedürfe es einer deutlichen und bestimmten Erklärung, ein bezeichnetes Urteil wegen vorliegender Nichtigkeitsgründe anzufechten (RIS-Justiz RS0100007). Die bloß allgemein gehaltene Erklärung „Rechtsmittel zu erheben“ – wie konkret der Fall– sei zur Beachtlichkeit der Anmeldung einer Nichtigkeitsbeschwerde nicht ausreichend, denn sie stelle bloß eine nicht näher spezifizierte Absichtserklärung dar, die die Frist zur Rechtsmittelanmeldung offen lasse (RIS‑Justiz RS0099993; 13 Os 2/08f).

Rechtliche Beurteilung

[6] Dagegen richtet sich die Beschwerde des Angeklagten (ON 87), der Berechtigung zukommt.

[7] Bei der Beurteilung, ob ein Angeklagter ein Rechtsmittel anmeldet, kommt es auf den gesamten Inhalt seiner Erklärung in ihrem Zusammenhalt und ihrem Sinn, nicht aber auf einzelne von ihm gebrauchte Worte an (RIS‑Justiz RS0099951). Denn die Bedeutung der Erklärung einer Prozesspartei hängt grundsätzlich nicht von deren Bezeichnung, sondern von ihrem Inhalt ab (RIS‑Justiz RS0099973).

[8] Nach der von der Vorsitzenden veranlassten wörtlichen Transkription des Protokolls aus der Bild‑ und Tonaufnahme wurde dem Angeklagten die Rechtsmittelbelehrung der Vorsitzenden durch die Dolmetscherin übersetzt. Seine dazu abgegebene Erklärung wurde von der Dolmetscherin mit: „Ich möchte ein Rechtsmittel erheben ...“ wiedergegeben (im Resümeeprotokoll der Hauptverhandlung ON 62 S 25: „Der Angeklagte meldet unverzüglich Rechtsmittel an“). Nach Beratung mit dem Angeklagten erklärte der Verteidiger, er könne die Äußerung seines Mandaten nicht zurücknehmen. Auf den Einwurf der Vorsitzenden, er könne „das Rechtsmittel zurückziehen“, antwortete der Verteidiger mit: „Nein“ (ON 79 S 2 f; im Resümeeprotokoll ON 62 S 25: „dies wird nach Rücksprache mit seinem Verteidiger aufrecht erhalten“).

[9] Aus dem konkreten Ablauf der Ereignisse und dem Wortlaut der Protokollierung („meldet … an“, „dies wird … aufrecht erhalten“) ergibt sich, dass der Angeklagte nicht bloß die Absicht kund tat, ein Rechtsmittel erheben zu wollen (RIS‑Justiz RS0099993), sondern dass Bedeutungsinhalt seiner Erklärung war, tatsächlich ein (nicht näher spezifiziertes) Rechtsmittel anzumelden. In dieser uneindeutigen Situation wäre es an der Vorsitzenden gelegen, aufgrund der gegebenen – auch durch die Fremdsprachigkeit des Angeklagten bedingten – Unklarheit eine Konkretisierung der Rechtsmittelanmeldung herbeizuführen.

[10] Bei der nunmehr vorliegenden Konstellation ist– im Zweifel – davon auszugehen, dass diese Erklärung des Angeklagten einen umfassenden Anfechtungswillen (vgl RIS‑Justiz RS0099951 [T3]) zum Ausdruck brachte und er daher Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung (wegen Strafe; vgl die Ausführung ON 81) angemeldet (und auch ausgeführt) hat.

[11] Über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufungen (des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft) wird gesondert entschieden werden (§ 285g StPO).

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