OGH 14Os129/22k

OGH14Os129/22k24.1.2023

Der Oberste Gerichtshof hat am 24. Jänner  2023 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz‑Hummel LL.M., den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Seidenschwann in der Strafsache gegen * J* wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB, AZ 10 U 116/22f des Bezirksgerichts Donaustadt, über die von der Generalprokuratur gegen mehrere Vorgänge in diesem Verfahren erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Wehofer, zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2023:0140OS00129.22K.0124.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

Fachgebiet: Jugendstrafsachen

 

Spruch:

 

Im Verfahren AZ 10 U 116/22f des Bezirksgerichts Donaustadt verletzen

1./ die Durchführung der Hauptverhandlung sowie die Urteilsfällung am 20. Juli 2022 in Abwesenheit des Angeklagten § 32 Abs 1 erster Satz iVm § 46a Abs 2 JGG;

2./ die in der Hauptverhandlung erfolgte Verlesung des Amtsvermerks der Polizeiinspektion * vom 16. August 2021, in dem die Aussage eines Zeugen festgehalten wurde, § 252 Abs 1 iVm § 458 zweiter Satz StPO;

3./ das Unterbleiben der Anführung der in § 260 Abs 1 Z 1 StPO bezeichneten Angaben im Hauptverhandlungsprotokoll § 271 Abs 1 Z 7 iVm § 458 zweiter Satz StPO;

4./ die Unterlassung der Zustellung einer Ausfertigung des Hauptverhandlungsprotokolls spätestens zugleich mit der Urteilszustellung an den Angeklagten § 271 Abs 6 letzter Satz iVm § 447 StPO.

Das Abwesenheitsurteil vom 20. Juli 2022, GZ 10 U 116/22f‑8, sowie der zugleich gefasste Beschluss auf Absehen vom Widerruf einer bedingten Strafnachsicht werden aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Donaustadt verwiesen.

 

Gründe:

[1] Im Verfahren AZ 10 U 116/22f des Bezirksgerichts Donaustadt legte die Staatsanwaltschaft Wien dem am 29. September 2002 geborenen * J* ein als Vergehen des Diebstahls nach § 127 StGB beurteiltes Verhalten zur Last (ON 4).

[2] Der Hauptverhandlung am 20. Juli 2022 blieb der gesetzeskonform geladene Angeklagte fern. Das Bezirksgericht beschloss die Durchführung der Hauptverhandlung in seiner Abwesenheit und verlas den gesamten Akteninhalt mit Ausnahme der Angaben des Zeugen * R* (ON 7 S 2). Der Akt beinhaltet einen Amtsvermerk der Polizeiinspektion * vom 16. August 2021, in dem die Aussage des Zeugen * R* festgehalten wurde (ON 2.7, 1 f).

[3] Mit Abwesenheitsurteil vom selben Tag wurde der Angeklagte des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB schuldig erkannt und über ihn eine Geldstrafe verhängt. Zugleich fasste das Bezirksgericht einen Beschluss auf Absehen vom Widerruf der vom Landesgericht für Strafsachen Wien zu AZ 163 Hv 33/20y gewährten bedingten Strafnachsicht.

[4] Im Protokoll über die Hauptverhandlung wurde hinsichtlich des Schuldspruchs bloß „Schuldspruch wegen § 127 StGB“ vermerkt (ON 7 S 3).

[5] Eine Ausfertigung des Abwesenheitsurteils wurde dem Angeklagten samt Rechtsmittelbelehrung persönlich zugestellt (siehe Zustellverfügung ON 8, Rückschein). Eine Zustellung des Protokolls über die Hauptverhandlung erfolgte nach dem Akteninhalt nicht. Das Urteil erwuchs unbekämpft in Rechtskraft.

Rechtliche Beurteilung

[6] Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend aufzeigt, verletzen mehrere Vorgänge im genannten Verfahren das Gesetz:

[7] 1./ Gemäß § 32 Abs 1 erster Satz iVm § 46a Abs 2 JGG sind in Strafverfahren gegen junge Erwachsene die Bestimmungen über das Abwesenheitsverfahren nicht anzuwenden. Ist der Angeklagte zur Hauptverhandlung nicht erschienen, so ist diese zu vertagen und gegebenenfalls die Vorführung des Angeklagten anzuordnen (§ 32 Abs 1 zweiter Satz iVm § 46a Abs 2 JGG). Die Durchführung der Hauptverhandlung sowie die Urteilsfällung am 20. Juli 2022 in Abwesenheit des (zum Zeitpunkt der Verfahrenshandlung 19‑jährigen) Angeklagten (vgl § 1 Z 5 JGG) verletzen daher § 32 Abs 1 erster Satz iVm § 46a Abs 2 JGG (RIS‑Justiz RS0121343 [T1]; siehe auch Schroll in WK2 JGG § 32 Rz 6 und § 46a Rz 5).

[8] 2./ Amtsvermerke, in denen Aussagen von Zeugen festgehalten worden sind, dürfen in der Hauptverhandlung nur in den in § 252 Abs 1 Z 1 bis 4 StPO genannten Fällen verlesen werden. Während eine Verlesungsermächtigung iSd Z 1 bis 3 dieser Bestimmung hier überhaupt nicht in Rede stand, ist aus dem Nichterscheinen des gesetzeskonform geladenen Angeklagten zur Hauptverhandlung dessen Einverständnis mit einer diesbezüglichen Verlesung iSd Z 4 nicht abzuleiten (RIS‑Justiz RS0117012; RS0099242 [T7]; Ratz, WK‑StPO § 281 Rz 234; Bauer, WK‑StPO § 427 Rz 13; Kirchbacher, WK‑StPO § 252 Rz 103). Demnach entsprach die Verlesung des Amtsvermerks der Polizeiinspektion *, in dem die Aussage des Zeugen R* festgehalten wurde, nicht dem Gesetz (§ 252 Abs 1 iVm § 458 zweiter Satz StPO).

[9] 3./ Das über die Hauptverhandlung aufzunehmende Protokoll hat gemäß § 271 Abs 1 Z 7 StPO den Spruch des Urteils mit den in § 260 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO bezeichneten Angaben zu enthalten. Darunter ist auch der Ausspruch zu verstehen, welcher Tat der Angeklagte schuldig befunden worden ist (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO; RIS‑Justiz RS0098552 [T2]). Der im Hauptverhandlungsprotokoll enthaltene Vermerk genügt diesen Anforderungen nicht.

[10] 4./ Den Beteiligten des Verfahrens ist, soweit sie darauf nicht verzichtet haben, ehestmöglich, spätestens aber zugleich mit der Urteilsausfertigung eine Ausfertigung des Protokolls über die Hauptverhandlung zuzustellen (§ 271 Abs 6 letzter Satz StPO). Auch gegen diese Anordnung hat das Bezirksgericht Donaustadt verstoßen, indem es dem Angeklagten mit der Urteilsausfertigung nicht auch ein Protokoll über die Hauptverhandlung zustellte.

[11] Es ist nicht auszuschließen, dass die Gesetzesverletzungen zu 1./ und 2./ dem Angeklagten zum Nachteil gereichen. Deren Feststellung war daher mit konkreter Wirkung zu verknüpfen (§ 292 letzter Satz StPO), das Urteil ebenso wie der davon abhängige Beschluss auf Absehen vom Widerruf einer bedingten Strafnachsicht aufzuheben (RIS‑Justiz RS0101886; Jerabek/Ropper, WK‑StPO § 494a Rz 11 und § 498 Rz 8) und die Verfahrenserneuerung anzuordnen (zum Verschlechterungsverbot im weiteren Verfahren RIS‑Justiz RS0115530, RS0100547).

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte