OGH 8ObA78/22m

OGH8ObA78/22m16.12.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.‑Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Tarmann‑Prentner und den Hofrat Dr. Stefula und die fachkundigen Laienrichter Mag. Andrea Kehrer (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Wolfgang Jelinek (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei D* R*, vertreten durch die Bischof Zorn + Partner Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei G* GmbH, *, vertreten durch Mag. Thomas Lechner, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kündigungsanfechtung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 11. August 2022, GZ 10 Ra 19/22w‑21, womit das Urteil des Landesgerichts Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgericht vom 21. Dezember 2021, GZ 41 Cga 10/21i‑15, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:008OBA00078.22M.1216.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

Fachgebiet: Arbeitsrecht

Entscheidungsart: Zurückweisung mangels erheblicher Rechtsfrage

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei hat die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

 

Begründung:

[1] Die Klägerin wurde in der ersten Märzwoche 2021 von einer Angestellten im Büro der Beklagten darauf aufmerksam gemacht, dass die Beklagte Überlegungen treffe, nicht gegen Covid‑19 geimpfte Mitarbeiter nicht weiter zu beschäftigen. Die Klägerin erbat sich Bedenkzeit. Einige Zeit später sagte die Geschäftsführerin der Beklagten zur Klägerin, dass sie bis Ostern 2021 Zeit hätte, sich impfen zu lassen, ansonsten die Zusammenarbeit beendet werden würde. Die Klägerin erwiderte, dass sie sich „vergewaltigt“ und zur Impfung gezwungen fühle. Im Weiteren wurde von der Büromitarbeiterin erneut „eingefordert“, dass sich die Klägerin impfen lassen solle. Die Klägerin erbat sich erneut Bedenkzeit. Sie wurde sodann am 29. 4. 2021 gekündigt.

[2] Das Berufungsgericht wies das Begehren, die Kündigung für rechtsunwirksam zu erklären, ab. Es ließ die ordentliche Revision mit der Begründung zu, es fehle oberstgerichtliche Rechtsprechung zu einer Kündigung im Zusammenhang mit einer verweigerten COVID-19-Impfung.

Rechtliche Beurteilung

[3] Die Revision ist entgegen dem den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig.

[4] Nach dem von der Klägerin angezogenen Kündigungsanfechtungsgrund nach § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG kann die Kündigung „wegen der offenbar nicht unberechtigten Geltendmachung vom Arbeitgeber in Frage gestellter Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis durch den Arbeitnehmer“ beim Gericht angefochten werden.

[5] Bei diesem Kündigungsanfechtungsgrund geht es darum, dass der Arbeitgeber nach Meinung des Arbeitnehmers bestehende Ansprüche nicht erfüllt, dass der Arbeitnehmer diese nicht erfüllten Ansprüche dem Arbeitgeber gegenüber geltend macht und dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer wegen dieser Geltendmachung kündigt. Vom Schutzzweck sind nicht nur schon entstandene Ansprüche, sondern zusätzlich Ansprüche auf Wahrung der Rechtsposition aus dem bestehenden Arbeitsverhältnis gegen einseitige Eingriffe erfasst (RIS‑Justiz RS0051666). Ziel des § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG ist es, dem Arbeitnehmer die Rechtsdurchsetzung im aufrechten Arbeitsverhältnis zu ermöglichen. Unter „Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis“ ist auch der Anspruch des Arbeitnehmers zu verstehen, zur Erfüllung seiner Hauptleistung nur in den durch Gesetz und Arbeitsvertrag gezogenen Grenzen herangezogen zu werden und Arbeitsleistungen, die unter Missachtung dieser Grenzen angeordnet werden, zu unterlassen (RS0104686).

[6] Von der „Geltendmachung“ eines Anspruchs kann nach ständiger Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs nur dann die Rede sein, wenn sich der Arbeitnehmer erkennbar – sei es auch nur konkludent – auf eine Rechtsposition beruft (9 ObA 223/93 = DRdA 1994/38 [W. Anzenberger]; 8 ObA 298/99b = DRdA 2000/58 [Kürner]; RS0051666 [T11]). Das Erbitten von „Bedenkzeit“ und die Erklärung sich durch eine Aufforderung zu einer Impfung „vergewaltigt“ oder gezwungen zu fühlen, ist keine Berufung auf eine Rechtsposition.

[7] Selbst wenn man annehmen wollte, dass die Klägerin durch obiges die Rechtsposition erkennen ließ, nicht verpflichtet zu sein, sich impfen zu lassen, wäre § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG nicht anwendbar. Die Vorschrift setzt nämlich unter anderem auch voraus, dass der Arbeitgeber den vom Arbeitnehmer geltend gemachten Anspruch „in Frage gestellt“ hat (9 ObA 237/99i). Ein Anspruch wird vom Arbeitgeber „in Frage gestellt“, wenn er ihn – was nur bei Leistungsansprüchen möglich ist – nicht erfüllt oder – was bei allen Ansprüchen möglich ist – wenn er seine Berechtigung in Zweifel zieht (9 ObA 114/93). Solches ist hier nicht ersichtlich. Vielmehr hat die Klägerin bereits in ihrer Klage vorgebracht, dass die Geschäftsführerin der Beklagten ihr gegenüber erklärte, dass sie – die Klägerin – die Wahl habe. Die Beklagte hat damit gerade nicht den Standpunkt eingenommen, die Klägerin sei ihr gegenüber zur Impfung verpflichtet.

[8] Weitere Fragen der Anwendung des § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG auf eine Kündigung wegen Verweigerung einer Covid‑Impfung stellen sich hier nicht.

[9] Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 40 Abs 1, § 50 Abs 1 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision nicht hingewiesen und muss deshalb die Kosten ihrer nicht der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung dienenden Revisionsbeantwortung selbst tragen (6 Ob 119/22a [Rz 16] mwN).

Stichworte