OGH 9ObA105/22i

OGH9ObA105/22i20.10.2022

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Dr. Fichtenau als Vorsitzende, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Mag. Ziegelbauer und Dr. Hargassner sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Alexander Noga (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Stefan Gschwendt (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei I* K*, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei W* GmbH & Co KG, *, vertreten durch Dr. Christian Schubeck & Dr. Michael Schubeck, Rechtsanwälte in Salzburg, wegen 2.989,02 EUR brutto sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei (Revisionsstreitwert: 2.805,34 EUR) gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits‑ und Sozialrechtssachen vom 27. Juni 2022, GZ 9 Ra 121/21m‑18, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:009OBA00105.22I.1020.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Die außerordentliche Revision der beklagten Partei wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Nach § 82 lit f GewO 1859 kann ein Arbeitnehmer dann entlassen werden, wenn er beharrlich seine Pflichten vernachlässigt. Unter Pflichtvernachlässigung im Sinne dieser Bestimmung ist die Nichterfüllung oder nicht gehörige Erfüllung der dem Dienstnehmer aus dem Dienstvertrag, der Arbeitsordnung, dem Kollektivvertrag oder Gesetz treffenden, mit der Ausübung des Dienstes verbundenen und ihm zumutbaren Pflichten zu verstehen (RS0060172). Unter „beharrlich“ ist die Nachhaltigkeit, Unnachgiebigkeit oder Hartnäckigkeit des zum Ausdruck gelangenden Willens zu verstehen, die Dienste oder die Befolgung der Anordnung zu verweigern (RS0104124). Daher muss sich die Weigerung entweder wiederholt ereignet haben oder von derart schwerwiegender Art sein, dass auf die Nachhaltigkeit der Willenshaltung des Angestellten mit Grund geschlossen werden kann. Nur im ersten Fall bedarf es einer vorangegangenen Ermahnung oder einer wiederholten Aufforderung zur Dienstleistung beziehungsweise Befolgung der Anordnung (RS0029746). Die Beurteilung der Pflichtwidrigkeit und der Beharrlichkeit des Verhaltens eines Arbeitnehmers hängt regelmäßig von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab und begründet keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO (RS0105987 [T2]). Dies ist auch hier der Fall.

[2] 2. Nach den Feststellungen war der Kläger als Wachorgan für die Überwachung einer Baustelle eines Kunden der Beklagten zuständig. Er hatte die Aufgabe, ein- und ausfahrende LKW sowie Arbeiter zu überprüfen. Im letzten halben Jahr vor seiner Entlassung rief er in alkoholisiertem Zustand drei‑ oder viermal seinen Vorgesetzten auf dessen privaten Handy an und bezeichnete alle auf der Baustelle beschäftigten Mitarbeiter des Kunden mit einem Schimpfwort. Nachdem der Kläger auch in einem Telefonat mit einer Mitarbeiterin dieses Kunden alle Mitarbeiter des Kunden auf dieselbe Weise beschimpft hatte, wurde er von der Beklagten entlassen. Etwa zwei Wochen vor diesem Vorfall war der Kläger von der Beklagten wegen verschiedener Verletzungen von Dienstpflichten im Zusammenhang mit der Dienstübergabe sowie wegen eines ungebührlichen Verhaltens gegenüber seinem Vorgesetzten (aggressives Auftreten) verwarnt worden.

[3] Das Berufungsgericht ging davon aus, dass Beleidigungen von Geschäftspartnern oder Kunden des Arbeitgebers durch seine Arbeitnehmer angesichts des taxativen Wortlauts zwar nicht unter den Tatbestand des § 82 lit g GewO 1859 fielen (vgl 8 ObA 22/19x), aber Beleidigungen betriebsfremder Dritter den Entlassungsgrund der beharrlichen Pflichtenvernachlässigung gemäß § 82 lit f GewO 1859 erfüllen könnten, weil sie die Vertragsbeziehungen jedenfalls belasten würden und im Einzelfall sogar zum Erliegen bringen könnten. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dem Kläger sei durch die festgestellten Beschimpfungen auch keine beharrliche Pflichtenvernachlässigung im Sinne des § 82 lit f GewO 1859 vorzuwerfen, weil er zuvor nicht abgemahnt worden sei, Beschimpfungen der Mitarbeiter des Kunden der Beklagten zu unterlassen, hält sich im Rahmen des vom Gesetz eingeräumten Ermessensspielraums.

[4] Richtig ist zwar, dass nach der Rechtsprechung der Arbeitnehmer nicht wegen Vernachlässigung gerade der Pflichten verwarnt worden sein muss, deren Nichteinhaltung dann zur Entlassung führte (RS0060643 [T5]). Der Entlassungstatbestand des § 82 lit f GewO 1859 erfordert nur, dass der Arbeitnehmer in einer dem Ernst der Lage angepassten Weise zur Einhaltung seiner Dienstpflichten aufgefordert wird (RS0029701). Zweck der Ermahnung ist es vor allem, den Arbeitnehmer über seine mangelhaften Leistungen in Kenntnis zu setzen, ihn zur Einhaltung seiner Pflichten aufzufordern und ihm nochmals Gelegenheit zur Leistungsverbesserung zu geben (9 ObA 49/08h). Die Ermahnungen/Verwarnungen müssen daher erkennen lassen, auf welches Verhalten des Arbeitnehmers sie sich beziehen, in welchen Umständen also der Arbeitgeber die Nichterreichung des Arbeitserfolgs erblickt und welches Verhalten der Arbeitgeber vom Arbeitnehmer in Hinkunft verlangt (Kuderna, Entlassungsrecht², 115; 9 ObA 49/08h mwN).

[5] Durch die hier ausgesprochene Verwarnung der Beklagten betreffend verschiedener Verletzungen von Dienstpflichten im Zusammenhang mit der Dienstübergabe sowie wegen eines ungebührlichen Verhaltens des Klägers gegenüber seinem Vorgesetzten musste der Kläger aber (noch) nicht erkennen, dass die Beklagte (auch) sein ungebührliches Verhalten gegenüber Mitarbeitern ihres Kunden in keiner Weise toleriert, sondern die Beklagte von ihm auch eine anständige Begegnung mit ihren Kunden als Inhalt seiner Dienstpflichten ansieht und verlangt.

[6] 3. Die außerordentliche Revision der Beklagten argumentiert (unter Bezugnahme auf Friedrich, Entlassung wegen Beleidigung eines Kunden, JAS 2020, 401) hilfsweise damit, dass das Fehlverhalten des Klägers nicht entschuldbar und die Pflichtverletzung derart schwerwiegend gewesen sei, dass es vor Ausspruch der Entlassung gar keiner Ermahnung bedurft hätte.

[7] Wie bereits oben erwähnt, kann nach der Rechtsprechung eine Ermahnung vor Ausspruch der Entlassung wegen beharrlicher Pflichtenvernachlässigung gemäß § 82 lit f GewO 1859 nur dann unterbleiben, wenn sich die Weigerung entweder wiederholt ereignet hat oder von derart schwerwiegender Art ist, dass auf die Nachhaltigkeit der Willenshaltung des Arbeitnehmers mit Grund geschlossen werden kann. Auch diese Frage kann nur nach den konkreten Umständen des Einzelfalls entschieden werden und stellt dementsprechend regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0029746 [T27]).

[8] Wiederholte Beschimpfungen gegenüber Mitarbeiter des Kunden der Beklagten haben nicht stattgefunden. Der Kläger hatte zwar diese Mitarbeiter auch in Gesprächen mit seinem Vorgesetzten beschimpft, es steht aber nicht fest, dass er deshalb verwarnt worden wäre. Die Rechtsansicht des Berufungsgerichts, die einmalige abfällige Äußerung des Klägers über Mitarbeiter des Kunden der Beklagten in einem Telefongespräch mit einer Mitarbeiterin dieses Kunden sei daher noch nicht als derart schwerwiegend anzusehen, dass es vor Ausspruch der Entlassung keiner Abmahnung bedurft hätte, ist vertretbar. Ein vom Obersten Gerichtshof wahrzunehmender Korrekturbedarf im Sinne der Rechtssicherheit besteht nicht.

[9] Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision des Klägers zurückzuweisen.

Stichworte