OGH 2Ob125/22d

OGH2Ob125/22d27.9.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon.‑Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj A, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Mag. Dr. V*, vertreten durch Dr. Simone Metz LL.M., Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 29. April 2022, GZ 43 R 6/22h‑253, mit dem ihrem Rekurs gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom 1. Dezember 2021, GZ 2 Ps 16/16f‑234, nicht Folge gegeben wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0020OB00125.22D.0927.000

 

Spruch:

1. Die Revisionsrekursbeantwortung wird zurückgewiesen.

2. Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluss des Rekursgerichts wird dahin abgeändert, dass der Antrag des Vaters auf Beteiligung an der Obsorge abgewiesen wird.

 

Begründung:

Ad 1.:

[1] Die dem Vater am 8. 9. 2022 (Zustellungszeitpunkt) freigestellte, entgegen § 68 Abs 4 Z 2 AußStrG beim Erstgericht eingebrachte Revisionsrekursbeantwortung langte erst am 23. 9. 2022 und somit nach Fristablauf beim Obersten Gerichtshof ein (RS0041584 [T21, T22]).

Ad 2.:

[2] Die Obsorge für den Minderjährigen kommt seit seiner Geburt im Jahr 2014 der Mutter alleine zu; der hauptsächliche Aufenthalt liegt bei ihr.

[3] Die Trennung der Eltern erfolgte unmittelbar nach der Geburt des Minderjährigen. Einige Wochen danach kam es zur Etablierung grundsätzlich regelmäßiger Treffen, die etwa einmal pro Woche stattfanden und in der Regel von der Mutter, manchmal auch von anderen Personen begleitet wurden. Alleine sah der Vater den Minderjährigen zunächst nicht, obwohl er sich das wünschte.

[4] Im Februar 2016 unterbrach die Mutter als Reaktion auf einen Kontaktrechtsantrag des Vaters monatelang den Kontakt. Ein mit Beschluss vom 29. 8. 2016 dem Vater eingeräumtes vorläufiges, vom Familienbund begleitetes Kontaktrecht im Ausmaß von zwei Stunden pro Woche fand nach Anlaufschwierigkeiten grundsätzlich regelmäßig statt. Während der begleiteten Besuchskontakte ging der Vater liebevoll und altersadäquat mit dem Minderjährigen um. Die Mutter beschwerte sich wiederholt, dass die Besuchsbegleiterinnen zuließen, dass der Vater dem Minderjährigen auf der Toilette half, weil sie sexualisierte Berührungen des Vaters befürchtete. Die Bemühungen der Besuchsbegleiterin, den Vater daraufhin von der Toilette „fernzuhalten“, führten zu vermehrtem Einnässen und immer wieder verzweifelten Rufen des Kindes nach seinem Vater.

[5] Im Sommer 2017 hatte A* nach einem Besuchskontakt eine Abschürfung am Rücken, wobei unklar blieb, ob diese Verletzung beim Spiel mit dem Vater entstanden war. Jedenfalls handelte der Vater nicht in einer Weise, die A* vorsätzlich oder auch nur fahrlässig gefährdete. Dennoch setzte die Mutter, als sie die Verletzung sah, die Kontakte monatelang aus. Eine Freundin der Mutter übermittelte als „behandelnde Kinderärztin“ ein Beschwerdeschreiben an den Familienbund und erstattete eine Mitteilung an die Kinder- und Jugendhilfe wegen Kindeswohlgefährdung.

[6] Auch im Jahr 2018 wurde der Kontaktrhythmus häufig durch längere Abwesenheiten der Mutter unterbrochen. Der Minderjährige und sein Vater hatten zu diesem Zeitpunkt bereits eine stabile Beziehung aufgebaut, die auch durch längere Abwesenheiten nicht erschüttert wurde.

[7] Ab Juli 2018 fanden die Kontakte unbegleitet statt.

[8] Im Juni 2019 kam es zu einem Spitalsaufenthalt der Mutter im Zuge einer Operation, worüber sie den Vater nicht vorab informiert hatte. Da der Vater nicht wusste, wie und von wem der Minderjährige in dieser Zeit betreut wurde, leitete er eine Gefährdungsabklärung bei der Wiener Kinder- und Jugendhilfe ein.

[9] Im Sommer 2019 erhob die Mutter neuerlich den – unbegründeten – Vorwurf, der Vater habe den Minderjährigen unsittlich berührt.

[10] Im Zuge des ersten von der Bundesregierung während der COVID-19-Krise ausgesprochenen „Lockdowns“ im März 2020 verweigerte die Mutter die Übergabe desMinderjährigen an den Vatermit der Begründung, sie sei als Risikopatientin einzustufen, und legte ein ärztliches Attest einer Allgemeinmedizinerin vor, das weder eine bestimmte Diagnose noch eine sonstige Begründung enthielt.

[11] Mit Beschluss vom 4. 12. 2020 wurden dem Vater Kontakte jeweils am Mittwoch von 14:00 Uhr bis 18:00 Uhr und zunächst am Samstag, später auch am Sonntag jeweils von 10:00 Uhr bis 17:00 Uhr zugesprochen. Seitdem fanden die Kontakte grundsätzlich regelmäßig statt, wobei die Eltern nun auch immer wieder einvernehmlich Ersatzkontakte für entfallene Termine vereinbarten. Zwischendurch gibt es aber nach wie vor Konflikte zwischen den Eltern, beispielsweise über das von der Mutter zubereitete Mittagessen oder von der Mutter beobachtete Erschöpfung nach den Kontakten zum Vater. Diese Konflikte führen regelmäßig zu einseitigen Abänderungen oder Aussetzungen der Kontakte zum Vater durch die Mutter.

[12] Bei beiden Elternteilen zeigen sich keine Hinweise auf das Vorliegen einer psychischen Erkrankung oder einer Persönlichkeitsstörung.

[13] Der Vater setzt keine Handlungsweisen, die den Minderjährigen in seiner Entwicklung schädigen. Insbesondere hat sich der Vater keinerlei verbaler oder physischer Übergriffe schuldig gemacht. Er geht mit dem Minderjährigen in einer liebevollen, kindgerechten Weise um. Er ist in seiner Bindungstoleranz nicht eingeschränkt, zeigt aber leichte Persönlichkeitsakzentuierungen im Hinblick auf narzisstische Elemente. Er ist aber uneingeschränkt in der Lage, die Bedürfnisse des Kindes in feinfühliger Weise zu erfassen und darauf zu reagieren. Er lässt auch Äußerungen zu, die nicht mit seinen Meinungen übereinstimmen, und kann A* Grenzen setzen. Ein regelmäßiger und auch zunehmend intensiver Kontakt zu seinem Vater ist wichtig für die weitere Entwicklung des Minderjährigen.

[14] Die Mutter hat starke Vorbehalte gegenüber dem Vater und misstraut ihm. Die Toleranz der Bindung zwischen dem Minderjährigen und seinem Vater ist bei der Mutter eingeschränkt, ebenso wie ihre Erziehungsfähigkeit in diesem Bereich. Sie erkennt den Wunsch des Minderjährigen nach Bindung und Beziehung zu seinem Vater nicht und instrumentalisiert die elterlichen Konflikte, um diese Beziehung zu stören. Der Minderjährige ist vorrangig an die Mutter gebunden und übernimmt ihre Sichtweisen. Er ist ein aktives, kontaktbereites Kind, das altersgemäß entwickelt ist. Er genießt den Kontakt zu beiden Eltern, befindet sich allerdings aufgrund der massiven Konflikte zwischen ihnen, die bereits seit seiner Geburt andauern, in einem schwerwiegenden Loyalitätskonflikt und ist durch diesen stark belastet. Dieser Loyalitätskonflikt und die negative Haltung der Mutter dem Vater gegenüber hat mittlerweile dazu geführt, dass der Minderjährige Übernachtungen beim Vater strikt ablehnt und auch bereits beginnt, sich ihm grundlegend zu verschließen.

[15] Da der Minderjährige zu Karies neigt und sich bereits mehreren Zahnbehandlungen unterziehen musste, macht die Mutter dem Vater viele konkrete Vorgaben hinsichtlich der Ernährung, an die er sich auch zum Großteil hält.

[16] Seit einiger Zeit leidet A* an juckenden Hautausschlägen, wobei sich die Eltern hinsichtlich deren Ursache und Häufigkeit nicht einig sind. Die Mutter zeigt hinsichtlich dieser Ausschläge eine eingeengte Haltung und ist überzeugt davon, dass die Kontakte zum Vater dafür verantwortlich sind. Welches Ausmaß diese Ausschläge tatsächlich haben und was die Ursache dafür ist, kann nicht festgestellt werden.

[17] Im Zusammenhang mit diesem Thema, aber auch ganz allgemein kommt es zwischen den Eltern immer wieder zu starken Konflikten, da der Vater sich nicht ausreichend informiert fühlt und auch mit der Handlungsweise der Mutter nicht einverstanden ist. Zuletzt waren die Eltern im Hinblick auf die COVID-19-Impfung uneinig, weil der Vater A* impfen lassen möchte, die Mutter jedoch auf den sogenannten „Totimpfstoff“ warten will.

[18] Im Jahr 2017 führten die Eltern eine gemeinsame Elternberatung über fünf Termine durch. Die Beratung wurde schließlich abgebrochen. Eine weitere Elternberatung wurde im Jahr 2018 im Einzelsetting absolviert. Zuletzt nahmen die Eltern auf gerichtliche Anordnung nochmals Erziehungsberatung im Einzelsetting in Anspruch. Dennoch besteht zwischen den Eltern kaum eine Kommunikationsbasis. Wenn, dann kommunizieren sie schriftlich, meist per E-Mail, wobei die Mutter immer wieder auf E-Mails des Vaters nicht antwortet.

[19] Das Erstgericht wies über Antrag des Vaters die Obsorge für den Minderjährigen der Mutter und dem Vater gemeinsam zu (1.), sprach aus, der Hauptaufenthalt liege weiter bei der Mutter (2.), räumte dem Vater ein endgültiges Kontaktrecht ein (3.) und wies einen Antrag des Vaters, ihm Ersatzkontakte im Ausmaß von fünf Stunden einzuräumen, ab (4.). Die Beteiligung des Vaters an der Obsorge habe deshalb zu erfolgen, weil die Mutter den Kontakt zum Vater seit Jahren zu unterbinden versuche und dafür auch in Kauf nehme, dass der Minderjährige Schaden nehme. Aufgrund ihrer eingeschränkten Bindungstoleranz scheine ihre Erziehungsfähigkeit zweifelhaft. Auch in medizinischen Fragen zeige sie eine sehr eingeengte Haltung. Um dies auszugleichen sei eine zweite Perspektive durch Einbindung des Vaters geboten. Auf eine Verbesserung der Kommunikation sei nicht zu hoffen. Es seien vielmehr Tatsachen zu schaffen, die den Vater in die Lage versetzen, sich aus der Abhängigkeit von der Mutter in Bezug auf Informationen und Entscheidungen zu lösen.

[20] Das Rekursgericht gab einem ausschließlich gegen die Beteiligung des Vaters an der Obsorge gerichteten Rekurs der Mutter nicht Folge. Aus den Feststellungen ergebe sich eine regelmäßige Kommunikation der Eltern hinsichtlich der Ernährung und medizinischer Belange. Dass die Erörterungen hauptsächlich schriftlich per E-Mail oder SMS erfolgen, schade nicht. Es liege eine ausreichende Gesprächsbasis vor, auch wenn die Mutter die Kooperation und die Kommunikation erschwere. Auf eine Zukunftsprognose komme es daher nicht an.

[21] Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter, mit dem sie die Abweisung des Antrags des Vaters auf Beteiligung an der Obsorge anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

[22] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil dem Rekursgericht bei Beurteilung der Voraussetzungen für eine Beteiligung des Vaters an der Obsorge eine aufzugreifende Fehlbeurteilung unterlaufen ist. Er ist auch berechtigt.

[23] Der Revisionsrekurs argumentiert, es bestehe keine ausreichende Gesprächs- und Kommunikationsbasis zwischen den Eltern. Vielmehr seien wesentliche Auffassungsunterschiede vorhanden. Es sei nicht möglich, sachlich zu kommunizieren. Entsprechend der Stellungnahme der Familiengerichtshilfe bestehe die Gefahr vermehrter Konflikte zum Nachteil des Minderjährigen.

[24] 1. Auch wenn das Gesetz keine näheren Kriterien dafür aufstellt, ob eine Alleinobsorge eines Elternteils oder eine Obsorge beider Eltern anzuordnen ist, so kommt es doch darauf an, ob die Alleinobsorge eines Elternteils oder die Obsorge beider Eltern dem Wohl des Kindes besser entspricht. Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern setzt dabei allerdings ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit beider voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen. Es ist also eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob bereits jetzt eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder ob zumindest in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet werden kann (RS0128812).

[25] 2. Bei der Beurteilung, ob zwischen den Eltern eine ausreichende Kommunikationsbasis für die Ausübung der gemeinsamen Obsorge besteht, kommt es in erster Linie auf die jeweilige Bereitschaft zum Informationsaustausch und nicht auf die Art der Nachrichtenübermittlung an (RS0132055; RS0128812 [T17, T21, T22]). Es schadet daher nicht, wenn die Eltern primär auf elektronischem Weg miteinander kommunizieren.

[26] 3. Zwar darf ein die Alleinobsorge anstrebender Elternteil die Kooperation und Kommunikation nicht schuldhaft verweigern oder erschweren, weil er es sonst in der Hand hätte, die Belassung bzw Anordnung der beiderseitigen Obsorge einseitig zu verhindern (RS0128812 [T11]).

[27] Dass dies der Fall wäre, ist den Feststellungen aber nicht zu entnehmen. Auch der Vater geht grundsätzlich von einem ausreichenden Mindestmaß an Kommunikation aus, wirft der Mutter aber vor, aufgrund unwahrer Vorwürfe schuld an der angespannten Situation zu sein. Auch aus dem im Akt erliegenden E-Mail-Verkehr ist zumindest ein gewisser Informationsaustausch ersichtlich.

[28] 4. Allerdings dient der Informationsaustausch dazu, Erziehungs- und Betreuungsmaßnahmen gemeinsam zu besprechen, wobei die Bedürfnisse und Wünsche des Kindes möglichst übereinstimmend zu beurteilen sind; die darauf beziehenden Entscheidungen der Elternteile dürfen sich also nicht regelmäßig widersprechen (3 Ob 37/16m; 8 Ob 40/15p Pkt 4.1). Kooperationsfähigkeit und -willigkeit ist deshalb erforderlich, weil nämlich die Eltern bei gemeinsamer Obsorge – mit Ausnahme der Angelegenheiten, die unter § 167 Abs 2 oder 3 ABGB fallen – ein selbständiges Vertretungsrecht haben. Setzt ein Ehegatte eine bestimmte Vertretungshandlung, so kann sie der andere durch eine gegenteilige Handlung bzw Erklärung wieder entkräften, sodass bei solchen Konstellationen das Kind gänzlich verunsichert wird und eine gemeinsame Obsorge nicht ratsam ist (Deixler-Hübner in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.07 § 180 Rz 28).

[29] 5. Aus dem festgestellten Sachverhalt ist zwar eine gewisser Austausch von Informationen der Eltern, aber auch abzuleiten, dass sie in zahlreichen, insbesondere medizinischen Belangen, grundverschiedener Meinung, aber nicht in der Lage sind, eine gemeinsame Entscheidung zum Wohl des Minderjährigen zu treffen. Vielmehr kommt es zu wechselseitigen Vorwürfen und Streitigkeiten, die zu einem Loyalitätskonflikt führen und den Minderjährigen sehr belasten. Trotz mehrfacher Elternberatung besteht kaum eine (inhaltliche) Kommunikationsbasis, sodass es – wovon auch das Erstgericht ausgeht – keinen Sinn macht, auf eine Verbesserung (etwa durch die weitere Anordnung von Maßnahmen nach § 107 Abs 3 Z 1 AußStrG) zu hoffen. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung zum Wohl des Kindes findet praktisch nicht statt.

[30] Die Beteiligung eines Elternteils an der Obsorge dient aber nicht dazu, diesem erleichterten Zugang zu Informationen zu verschaffen. Maßstab ist allein das Wohl des Kindes, das jedoch mangels Fähigkeit der Eltern, gemeinsame, sich nicht regelmäßig widersprechende Entscheidungen zum Wohl des Minderjährigen zu treffen, bei gemeinsamer Obsorge (noch mehr) beeinträchtigt wäre.

[31] 6. Dem Revisionsrekurs der Mutter war daher Folge zu geben.

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte