European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00028.22Y.0524.000
Spruch:
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen.
Begründung:
[1] Der im Juni 1957 geborene Kläger leistete von 1. 7. 1976 bis 28. 2. 1977 den Präsenzdienst. Zum Stichtag 1. 6. 2020 lagen 532 Beitragsmonate aufgrund einer Erwerbstätigkeit und acht Ersatzmonate des Präsenzdienstes vor. Der Kläger beantragte am 6. 4. 2020 die Zuerkennung einer Korridorpension ab 1. 6. 2020.
[2] Mit Bescheid vom 9. 9. 2020 anerkannte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Anspruch des Klägers auf Zuerkennung einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer ab 1. 6. 2020 in Höhe von 3.562,87 EUR brutto monatlich. Dabei nahm sie eine Verminderung der monatlichen Bruttoleistung um 8,75% aufgrund der frühzeitigen Inanspruchnahme vor.
[3] Das Erstgericht wies die dagegen erhobene Klage, mit welcher der Kläger die Zuerkennung einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer in gesetzlicher Höhe ohne Abschläge begehrt, ab.
[4] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers mit der Maßgabe nicht Folge, dass es – in Wiederherstellung des angefochtenen Bescheids – die beklagte Pensionsversicherungsanstalt schuldig erkannte, dem Kläger ab 1. 6. 2020 eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer in Höhe von monatlich 3.562,87 EUR brutto zu zahlen, hingegen das Mehrbegehren auf Zahlung einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer ohne Abschlag abwies. Die Revision an den Obersten Gerichtshof ließ es im Hinblick auf den eindeutigen Wortlaut des § 236 Abs 4b ASVG nicht zu.
[5] In seiner außerordentlichen Revision zeigt der Kläger keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO auf:
Rechtliche Beurteilung
[6] 1. Nach § 236 Abs 4b ASVG idF PAG 2020, BGBl I 2019/98, ist eine Verminderung der Leistungen aus der Pensionsversicherung unzulässig, wenn die versicherte Person mindestens 540 Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit erworben hat, wobei auch bis zu 60 Versicherungsmonate für Zeiten der Kindererziehung als Beitragsmonate aufgrund einer Erwerbstätigkeit gelten. Zur inhaltsgleichen Regelung in § 120 [zweiter] Abs 7 GSVG hat der Oberste Gerichtshof am 22. 2. 2022 in der Entscheidung 10 ObS 175/21i ausgesprochen, dass Ersatzzeiten für den Präsenzdienst nach § 227 Abs 1 Z 7 und 8 ASVG aufgrund des klaren Wortlauts des Gesetzes keine Beitragsmonate der Pflichtversicherung aufgrund einer Erwerbstätigkeit sind und daher einen Abschlag für den vorzeitigen Pensionsantritt nicht verhindern können. Dabei hat der Oberste Gerichtshof eine unsachliche Differenzierung im Vergleich zu den Zeiten der Kindererziehung, wie sie auch vom Kläger behauptet wird, mit ausführlicher Begründung verneint und eine verfassungskonforme Auslegung dieser Bestimmung mit dem vom Kläger gewünschten Ergebnis, dass auch Ersatzzeiten für den Präsenzdienst als Beitragsmonate anzusehen seien, abgelehnt. Daran hat der Oberste Gerichtshof auch in der Entscheidung vom 29. 3. 2022, 10 ObS 24/22k, zur auch hier zu behandelnden Bestimmung des § 236 Abs 4b ASVG festgehalten.
[7] 2.1 Der Revisionswerber macht ua auch geltend, dass er aufgrund § 236 Abs 4b ASVG „(un)mittelbar“ im Sinn des Art 4 Abs 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (in Folge: RL 79/7/EWG ) diskriminiert werde. Die Voraussetzungen für eine Ausnahme im Sinn des Art 7 RL 79/7/EWG lägen nicht vor. Dem kommt keine Berechtigung zu:
[8] 2.2 Sicherlich ist für den Kläger als im Ruhestand befindlicher ehemaliger Arbeitnehmer, der eine Leistung aus der gesetzlichen Pensionsversicherung geltend macht, der persönliche und sachliche Anwendungsbereich der RL 79/7/EWG eröffnet (Art 2 und 3 RL 79/7/EWG ). Gemäß Art 4 Abs 1 3. Gedankenstrich RL 79/7/EWG beinhaltet der Grundsatz der Gleichbehandlung den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe‑ oder Familienstand, bei der Berechnung der Leistungen.
[9] 2.3 Alle sozialrechtlichen Regelungen, die direkt ein Geschlecht begünstigen oder benachteiligen, sind als unmittelbare Diskriminierung verboten (zB eine nationale Regelung, nach der die Berechnung der Alters‑ und Ruhestandsrenten weiblicher Grenzgänger – bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit – auf niedrigeren fiktiven und/oder pauschalen Tageslöhnen beruhte als bei männlichen Grenzgängern: EuGH C‑577/08 , Brouwer,ECLI:EU:C:2010:449). § 236 Abs 4b ASVG unterscheidet jedoch nach seinem Wortlaut nicht zwischen Männern und Frauen, sodass die vom Kläger behauptete „unmittelbare“ Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nicht vorliegt (EuGH C‑161/18 , Villar Láiz, ECLI:EU:C:2019:382, Rn 36).
[10] 2.4 Der Begriff der mittelbaren Diskriminierung ist im Kontext der RL 79/7/EWG genauso zu verstehen wie im Kontext der Richtlinie 2006/54 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits‑ und Beschäftigungsfragen (in der Folge: RL 2006/54 ). Aus Art 2 Abs 1 lit b RL 2006/54 geht hervor, dass eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in einer Situation zu sehen ist, in der dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen des einen Geschlechts in besonderer Weise gegenüber Personen des anderen Geschlechts benachteiligen können, es sei denn, die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich (EuGH C‑161/18 , Villar Láiz, Rn 37 mwH).
[11] 2.5 Der vom Kläger behaupteten Benachteiligung hat bereits das Berufungsgericht entgegengehalten, dass weibliche Versicherte, die vor dem 1. 1. 2024 das 60. Lebensjahr vollenden, bereits mit diesem Zeitpunkt Anspruch auf eine (Regel‑)Alterspension ohne Abschläge haben. § 236 Abs 4b ASVG begünstige daher ausschließlich männliche Versicherte. Weibliche Versicherte könnten diese Regelung nur theoretisch in Anspruch nehmen, wenn sie vor der Vollendung des 15. Lebensjahres eine Erwerbstätigkeit antreten und bis zum Pensionsantritt (nahezu) durchgängig Beitragsmonate aufgrund einer Versicherung oder Ersatzmonate für Zeiten der Kindererziehung erworben haben. Dies erscheine faktisch – von Ausnahmefällen in der bäuerlichen Pensionsversicherung abgesehen – (nahezu) ausgeschlossen. Dieser Argumentation – die mit der Entscheidung 10 ObS 175/21i übereinstimmt – tritt der Revisionswerber nicht entgegen, sodass er auch in diesem Punkt keine Korrekturbedürftigkeit der Entscheidung des Berufungsgerichts aufzeigt.
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