OGH 12Os10/22w

OGH12Os10/22w28.4.2022

Der Oberste Gerichtshof hat am 28. April 2022 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Oshidari, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel‑Kwapinski und Dr. Brenner und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Mag. Socher in der Strafsache gegen * G* und eine Beschuldigte wegen des Vergehens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2, 15 StGB, AZ 16 St 224/20w der Staatsanwaltschaft Innsbruck, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 18. Mai 2021, AZ 21 Bl 7/21v (ON 16), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Janda zu Recht erkannt:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0120OS00010.22W.0428.000

Rechtsgebiet: Strafrecht

 

Spruch:

 

Der Beschluss des Landesgerichts Innsbruck vom 18. Mai 2021, AZ 21 Bl 7/21v (ON 16), verletzt § 91 Abs 2 StPO und § 195 Abs 1 iVm § 196 Abs 2 erster Satz StPO.

 

Gründe:

[1] Im Verfahren AZ 16 St 224/20w der Staatsanwaltschaft Innsbruck warf * Sch* mit Sachverhaltsdarstellung vom 23. Oktober 2020 (ON 2) * G* und * S* als das Vergehen des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2, 15 StGB beurteiltes Verhalten vor und erklärte, sich dem Verfahren als Privatbeteiligter anzuschließen.

[2] Am 30. Oktober 2020 forderte die Staatsanwaltschaft den Verteidiger des * G* (ON 2 S 57) auf, binnen drei Wochen eine Stellungnahme zu dieser Sachverhaltsdarstellung abzugeben (ON 1 S 1), wobei sie G* in der Note die Stellung eines „Verdächtigen“ zuwies (vgl dazu die [jeweils nicht einjournalisierte] Fortsetzung des Anordnungs- und Bewilligungsbogens vom 21. Mai 2021 sowie die „aus VJ ausgedruckte Note vom 2. November 2020 samt Screenshot vom 21. Mai 2021“).

[3] Nach Einlangen der für den Genannten (und zwei weiteren als Verdächtigen bezeichneten Personen) verfassten Eingabe („aufgetragene Stellungnahme“; ON 4), verfügte die Staatsanwaltschaft am 26. November 2020 die Nacherfassung der * S* als Verdächtige, die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen * G* und die zuletzt Genannte gemäß § 190 Z 2 StPO sowie die Verständigung des Anzeigervertreters hierüber (ON 1 S 3).

[4] Über dessen Ersuchen (ON 5) begründete die Staatsanwaltschaft mit Note vom 14. Dezember 2020 das Vorgehen iSd § 194 Abs 2 zweiter Satz StPO (ON 1 S 5 und ON 6).

[5] Am 22. Dezember 2020 beantragte * Sch* die Fortführung des Ermittlungsverfahrens gemäß § 195 Abs 1 Z 2 StPO (ON 8).

[6] Diesen Antrag wies das Landesgericht Innsbruck mit Beschluss vom 18. Mai 2021, AZ 21 Bl 7/21v (ON 16), als unzulässig zurück, weil die Staatsanwaltschaft die Sachverhaltsdarstellung nicht zum Anlass für Ermittlungen genommen, sondern durch das – auch keine Belehrung über Rechte als Verdächtiger oder Beschuldigter enthaltende – Ersuchen vom 30. Oktober 2020 an den rechtsfreundlichen Vertreter des * G*, binnen drei Wochen eine Stellungnahme abzugeben, bloße Erkundigungen zur Klärung getätigt habe, ob ein Anfangsverdacht vorliege, und solcherart nie ein Ermittlungsverfahren geführt habe, wobei die Staatsanwaltschaft * G* im Gegensatz zu * S* weder die Stellung als Verdächtiger noch als Beschuldigter zugewiesen habe (ON 16 S 6 f).

[7] In ihrer gegen diesen Beschluss erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (§ 23 StPO) führt die Generalprokuratur aus:

1./ Gemäß § 195 Abs 1 StPO hat das Gericht auf Antrag des Opfers die Fortführung eines nach §§ 190 bis 192 StPO beendeten Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft anzuordnen, wenn das Gesetz verletzt oder unrichtig angewendet wurde (Z 1), erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der Tatsachen bestehen, die der Entscheidung über die Beendigung zugrunde gelegt wurden (Z 2), oder neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die für sich allein oder im Zusammenhalt mit übrigen Verfahrensergebnissen geeignet erscheinen, den Sachverhalt soweit zu klären, dass nach dem 11. oder 12. Hauptstück vorgegangen werden kann (Z 3).

2./ Anträge, die – soweit hier von Relevanz – den Voraussetzungen des § 195 StPO nicht entsprechen, sind vom Gericht gemäß § 196 Abs 2 erster Satz (vierter Fall) StPO als unzulässig zurückzuweisen. Sieht die Staatsanwaltschaft – mangels Vorliegens eines Anfangsverdachts (§ 1 Abs 3 StPO) – von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ab (§ 35c StAG), so liegt ein (als solches geführtes [vgl Ratz, Aktuelle Probleme des Ermittlungsverfahrens, ÖJZ 2021/100, 772 {773 mwN in FN 12}]) Strafverfahren, welches (nach § 190 StPO eingestellt und) gemäß § 195 StPO fortgeführt werden könnte, (ungeachtet einer irrig erteilten darauf bezogenen Belehrung der Staatsanwaltschaft) nicht vor (EBRV 181 BlgNR 25. GP  22; RIS‑Justiz RS0127791 [T3], RS0132159 [T1]; Nordmeyer, WK‑StPO § 194 Rz 1/4), wovon das Landesgericht Innsbruck fallbezogen rechtlich ausgeht (vgl BS 2 und 6 f)

3./ Gemäß § 1 Abs 2 erster Satz StPO beginnt das Strafverfahren, sobald Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zur Aufklärung eines Anfangsverdachts ermitteln. Ein Anfangsverdacht (§ 1 Abs 3 StPO) liegt vor, wenn aufgrund bestimmter Anhaltspunkte angenommen werden kann, dass eine Straftat begangen, demnach ein Verhalten gesetzt worden ist, das Gegenstand eines Ausspruchs gemäß § 260 Abs 1 Z 2 StPO sein kann, das also tatbestandsmäßig, rechtswidrig und (von § 21 Abs 1 StGB abgesehen) schuldhaft ist und auch den zusätzlichen Voraussetzungen (wie insbesondere dem Fehlen von Strafausschließungsgründen) genügt (17 Os 3/18x; vgl auch Ratz in WK² StGB Vorbemerkungen zu §§ 28–31 Rz 1).

4./ Liegen keine Anhaltspunkte vor, die annehmen lassen, dass eine Straftat begangen wurde, so sieht das Gesetz Ermittlungshandlungen – demnach Tätigkeiten, die der Gewinnung, Sicherstellung, Auswertung oder Verarbeitung einer Information zur Aufklärung des Verdachts einer Straftat dienen und in Form von Erkundigungen (§§ 151 f StPO) oder Beweisaufnahmen (gemäß dem 8. Hauptstück der StPO) erfolgen (§ 91 Abs 2 erster und zweiter Satz StPO) – überhaupt nicht vor. In einem solchen Fall hat die Staatsanwaltschaft vielmehr – mangels Anfangsverdachts – von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abzusehen und den Anzeiger hievon mit dem Hinweis in Kenntnis zu setzen, dass ein Antrag auf Fortführung gemäß § 195 StPO nicht zusteht (§ 35c StAG).

5./ Bestehen auf Basis einer Anzeige insofern jedoch Zweifel, so ermöglicht § 91 Abs 2 letzter Satz StPO zur Klärung der Frage, ob ein Anfangsverdacht vorliegt (oder nicht), Vorfeldermittlungen minderer Intensität, die noch nicht als „Ermitteln“ im Sinn des Abs 2 erster Satz des § 91 StPO gelten und daher auch nicht den Beginn des Strafverfahrens begründen (Vogl, WK‑StPO § 91 Rz 10; vgl auch Markel, WK‑StPO § 1 Rz 26): Darunter fallen die bloße Nutzung bestimmter Informationsquellen und – hier von Relevanz – die Durchführung von Erkundigungen.

6./ Eine „Erkundigung“ ist definitionsgemäß (nur) das Verlangen von (freiwilliger) Auskunft und das Entgegennehmen einer Mitteilung von einer Person (§ 151 Z 1 StPO; zur Abgrenzung einer solchen Erkundigung von einer Vernehmung vgl Kirchbacher/Keglevic, WK‑StPO § 152 Rz 1 ff).

7./ Ob eine Erkundigung (iSd § 151 Z 1 und § 152 StPO; vgl dazu den Erlass des Bundesministeriums für Justiz vom 12. Dezember 2014 über ein Bundesgesetz, mit dem die Strafprozessordnung 1975, das Jugendgerichts-gesetz 1988, das Suchtmittelgesetz, das Geschworenen- und Schöffengesetz 1990 und das Gebührenanspruchsgesetz geändert werden [Strafprozessrechtsänderungsgesetz 2014], BMJ‑S578.028/0021‑IV 3/2014, 6 f; Kirchbacher/Keglevic, WK‑StPO § 151 Rz 2; siehe aber Hinterhofer/Oshidari, System des österreichischen Strafverfahrens, Rz 7.6, die für Erkundigungen in diesem Sinne bereits das Vorliegen eines Anfangsverdachts voraussetzen), die zur Aufklärung eines Anfangsverdachts (§ 1 Abs 3 StPO) erfolgt, eine Ermittlung iSd § 91 Abs 2 erster Satz StPO darstellt und damit das Strafverfahren beginnen lässt (§ 1 Abs 2 StPO), oder ob die Erkundigung nur der Klärung dient, ob ein solcher Anfangsverdacht vorliegt (§ 91 Abs 2 dritter Satz StPO), hängt vom objektiven Bestehen eines Anfangsverdachts zum Zeitpunkt ihrer Vornahme ab (vgl dazu Fuchs, Beginn des Strafverfahrens und Beschuldigtenstellung, in Lewisch/Nordmeyer, Liber Amicorum Eckart Ratz, 31 [37 bis 39]; Sadoghi, Anfangsverdachtsermittlung – Ein Blick auf die Rechtsprechung des OGH dazu, ÖJZ 2021/49, 363 [364 f]).

8./ Dieser Umstand ist aus Anlass eines (gemäß § 195 Abs 3 zweiter Satz StPO von der Staatsanwaltschaft übermittelten) Fortführungsantrags vom Gericht als Zulässigkeitsvoraussetzung zu prüfen (vgl Steiner, LiK‑StPO § 195 Rz 4 f und § 196 Rz 30). Eine Bindung des Gerichts an die rechtliche Beurteilung der Staatsanwaltschaft zum (Nicht-)Vorliegen eines Anfangsverdachts (§ 1 Abs 3 StPO) besteht dabei insoweit nicht. Ein Fortführungsantrag wäre freilich selbst bei objektivem Vorliegen eines Anfangsverdachts als unzulässig zurückzuweisen, wenn das Ermittlungsverfahren mangels Ermittlung iSd § 91 Abs 2 erster StPO nicht in Gang gesetzt wurde (vgl Ratz, WK‑StPO Vor §§ 280–296a Rz 8/4; Ratz, Vom Übergang in ein Ermittlungs- und Hauptverfahren, ÖJZ 2020, 353 [356], der im Übrigen betont, dass bei Informationsbeschaffung, die über das nach § 91 Abs 2 letzter Satz StPO Zulässige hinausgeht, unwiderlegbar die Annahme [zumindest] eines Anfangsverdachts durch Kriminalpolizei oder auch Staatsanwaltschaft, somit ein nach § 1 Abs 2 StPO geführtes Ermittlungsverfahren vorliegt).

9./ Indem das Landesgericht Innsbruck weder Feststellungen dazu getroffen hat, ob und gegebenenfalls welcher Anfangsverdacht der Anzeige (ON 2) objektiv zu entnehmen war, noch konstatiert hat, ob die Staatsanwaltschaft von einem solchen ausging, bleibt die (Rechts‑)Behauptung, die hier gegenständliche Aufforderung zur Stellungnahme (vgl Kroschl in Schmölzer/Mühlbacher, StPO 12 § 1 Rz 13 f) wäre eine „bloße Erkundigung zur Klärung, ob ein Anfangsverdacht vorliegt“ (BS 7), ohne Sachverhaltsbezug. Durch diesen Rechtsfehler mangels Feststellungen verletzt der Beschluss § 91 Abs 2 StPO und § 195 Abs 1 iVm § 196 Abs 2 erster Satz StPO.

9./ [richtig: 10./] Diese den Beschuldigten nicht zum Nachteil gereichende Gesetzesverletzung wäre festzustellen.

 

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

Rechtliche Beurteilung

[8] Gemäß § 91 Abs 2 letzter Satz StPO stellen die bloße Nutzung von allgemein zugänglichen oder behördeninternen Informationsquellen sowie die Durchführung von Erkundigungen zur Klärung, ob ein Anfangsverdacht (§ 1 Abs 3 StPO) vorliegt, keine Ermittlung iSd § 91 Abs 1 erster Satz StPO dar.

[9] Durch § 91 Abs 2 letzter Satz StPO soll die Führung eines Ermittlungsverfahrens bei leicht durchführbarem Ausschluss eines Anfangsverdachts vermieden werden. Zweck des § 91 Abs 2 letzter Satz StPO ist insbesondere der Schutz einer angezeigten Person davor, ohne Anlass Objekt eines Strafverfahrens zu werden und Schutz vor öffentlicher Brandmarkung, obwohl gar kein konkreter Tatverdacht vorliegt (vgl zum Ganzen jüngst 12 Os 92/21b [verstärkter Senat] mwN).

[10] Diese Maßstäbe sind somit nicht nur für die Auslegung des Begriffs der „behördeninternen Informationsquellen“ (siehe dazu erneut 12 Os 92/21b), sondern auch für die Beantwortung der Frage heranzuziehen, inwieweit die Staatsanwaltschaft die in § 91 Abs 2 letzter Satz StPO normierten Erkundigungen durchführen darf. Demnach können im Stadium vor Beginn des Strafverfahrens nur Erkundigungen minderer Intensität (Vogl, WK‑StPO § 91 Rz 10) stattfinden, mit denen etwa bloße Grundlagen für eine erst in weiterer Folge stattfindende Auseinandersetzung mit dem Anzeigesachverhalt geschaffen werden sollen (zB Erhebung von Dienstzeiten einer angezeigten Person; vgl Vogl, WK‑StPO § 91 Rz 11).

[11] Hat aber die Staatsanwaltschaft (wie hier) Personen direkt mit der vom Anzeiger geäußerten Verdachtslage konfrontiert und solcherart eine über die genannte Schwelle hinausgehende Aufklärungstätigkeit entfaltet, hat sie unwiderlegbar – ohne dass es daher auf die rechtliche Einschätzung der Staatsanwaltschaft oder (im Fortführungsverfahren) des Gerichts bezüglich der Intensität der Verdachtslage ankäme – ein Ermittlungsverfahren iSd § 1 Abs 2 StPO in Gang gesetzt (vgl abermals 12 Os 92/21b; Ratz, Vom Übergang in ein Ermittlungs- und Hauptverfahren, ÖJZ 2020, 353 [356]).

[12] Somit waren der Beschwerdeauffassung zuwider keine „Feststellungen“ in Bezug auf das Vorliegen eines Anfangsverdachts erforderlich, doch zeigt die Generalprokuratur im Ergebnis zutreffend auf, dass das Landesgericht Innsbruck den Fortführungsantrag des Anzeigers nicht als unzulässig hätte zurückweisen dürfen, womit dessen Beschluss vom 18. Mai 2021, AZ 21 Bl 7/21v (ON 16), das Gesetz wie im Spruch ersichtlich verletzt.

[13] Mangels Nachteils für die Beschuldigten ist bloß die Feststellung der aufgezeigten Gesetzesverletzung die Folge (§ 292 vorletzter Satz StPO).

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte