OGH 8Ob20/22g

OGH8Ob20/22g22.4.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn und die Hofräte Dr. Stefula und Dr. Thunhart als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen Kinder 1. *, geboren am * 2012 und 2. *, geboren am * 2016, wegen Obsorge und Kontaktrecht, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Pflegemutter des jüngeren Kindes Mag. *, vertreten durch Dr. Alois Autherith, LL.M., und andere Rechtsanwälte in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 24. November 2021, GZ 42 R 352/21g‑296, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0080OB00020.22G.0422.000

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:
Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Die vom Gericht beigezogene Sachverständige ist in der Sachverständigenliste für das Fachgebiet „04.35 Familienpsychologie, Kinderpsychologie, Jugendpsychologie (inkl. Obsorge, Besuchsrecht, Fremdunterbringung, Kindeswohl, Missbrauch, Entwicklung)“ eingetragen. Die Revisionsrekurswerberin vertritt die Ansicht, die Sachverständige hätte im vorliegenden, die Rückführung eines Kindes zu seinen leiblichen Eltern nach Aufenthalt des Kindes bei einer Pflegemutter betreffenden Fall nicht hinzugezogen werden dürfen, weil bei der Eintragung der Sachverständigen in der Liste nicht als Spezialisierung „Pflegefamilien“ aufscheine, die Sachverständige mithin diese Kompetenz nicht aufweise.

[2] Diese Ansicht widerspricht der höchstgerichtlichen Rechtsprechung. Die Auswahl eines Sachverständigen liegt im Ermessen des Gerichts. Dessen Ermessensübung bei der Sachverständigenbestellung ist an keine konkreten gesetzlichen Vorgaben gebunden, insbesondere nicht an die Verpflichtung, nur solche Personen heranzuziehen, die zur Erstattung von Gutachten über ein bestimmtes Thema öffentlich bestellt sind (RIS‑Justiz RS0040607 [T7, T8]; Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § 31 Rz 77). Der Nichteintragung einer Person in die Sachverständigenliste für ein bestimmtes Fachgebiet kommt keine Indizwirkung dahin zu, dass ihr die zur Erfüllung eines in dieses Fachgebiet fallenden Gutachtensauftrags erforderliche Befugnis oder Fachkompetenz fehlt (RS0040607 [T25]); dies gilt erst recht in Bezug auf eine „Spezialisierung“ für ein Fachgebiet.

[3] 2. Für die Aufhebung einer bereits wegen Gefährdung des Kindeswohls erfolgten Einschränkung der elterlichen Rechte muss, da grundsätzlich jede Maßnahme, die Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung reißt, vermieden werden soll, mit großer Wahrscheinlichkeit klargestellt sein, dass nunmehr die ordnungsgemäße elterliche Pflege und Erziehung gewährleistet ist (RS0009676). Mit anderen Worten hat selbst dann, wenn bereits die Obsorge wegen Gefährdung des Kindeswohls entzogen werden musste, die Aufhebung einer Obsorgeübertragung an einen Dritten zu erfolgen, wenn gewährleistet ist, dass keine Gefahr mehr für das Wohl des Kindes besteht (3 Ob 155/11g [Pkt 4.5]). Die Vorinstanzen nahmen aufgrund des von ihnen festgestellten Sachverhalts vertretbar an, dass eine Rückführung (auch) des jüngeren Kindes zu seinen leiblichen Eltern samt deren Betrauung mit der Obsorge dessen Wohl entspreche.

[4] 3. Auch im Außerstreitverfahren gilt in dritter Instanz das Neuerungsverbot; der Entscheidung sind die Umstände zum Zeitpunkt der Beschlussfassung in erster Instanz zugrunde zu legen. Ungeachtet des Neuerungsverbots ist der Maxime des Kindeswohls im Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren aber dadurch zu entsprechen, dass neue Tatsachen auch dann zu berücksichtigen sind, wenn sie erst nach der Beschlussfassung der Vorinstanzen eingetreten sind. Das bezieht sich aber nur auf unstrittige und aktenkundige Umstände, nicht auf Umstände, die erst noch durch ein Beweisverfahren zu klären sind, ist der Oberste Gerichtshof doch keine Tatsacheninstanz (6 Ob 204/21z [Rz 11] mwN; siehe auch 1 Ob 146/10t [Pkt 2.]; Beck in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG I2 § 107 Rz 55).

[5] Dass er die Mutter (oder gar die Kinder) wenige Tage nach Erlassung der rekursgerichtlichen Entscheidung körperlich misshandelte hat der Vater bestritten, sodass die allenfalls vorliegende Gewalt nicht Ausgangspunkt für eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs sein kann. Dies ist ohne Gefährdung des Kindeswohls möglich, da sowohl der Kinder- und Jugendhilfeträger, welcher am 3. 1. 2022 eine Maßnahme nach § 211 Abs 1 Satz 2 ABGB traf, als auch – unter anderem durch einen am 22. 12. 2021 eingelangten Antrag der Mutter auf Erhalt der Alleinobsorge – das Erstgericht in Kenntnis der Verdachtslage sind. Im Übrigen wurde der Vater polizeilich und gerichtlich weggewiesen.

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