OGH 1Ob146/10t

OGH1Ob146/10t14.9.2010

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Fichtenau, Dr. Grohmann, Dr. Musger und Dr. E. Solé als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Nicolas A***** H*****, geboren am *****, wegen Zuweisung der alleinigen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter R***** Maria V*****, vertreten durch Mag. Christian Steurer, Rechtsanwalt in Bregenz, gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch als Rekursgericht vom 29. Juni 2010, GZ 3 R 213/10m-99, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Bregenz vom 4. Mai 2010, GZ 7 PS 166/09p-76, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

 

Spruch:

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Text

Begründung

Das Erstgericht hob die gemeinsame Obsorge der Eltern über den 2004 geborenen Nicolas auf und betraute den Vater künftig mit der alleinigen Obsorge.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs der Mutter ist mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG zurückzuweisen.

Maßstab für den Inhalt einer Entscheidung nach § 177a ABGB ist allein, welcher Elternteil zur Übernahme der alleinigen Obsorge besser geeignet ist und welche Entscheidung dem Wohl des Kindes besser dient. Das Wohl des Kindes hat stets im Vordergrund zu stehen (RIS-Justiz RS0048969). Die nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffende Entscheidung, welchem Elternteil bei Gegenüberstellung der Persönlichkeit, Eigenschaften und Lebensumstände die Obsorge für das Kind übertragen werden soll, ist immer eine solche des Einzelfalls, der keine grundsätzliche Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG zuerkannt werden kann (RIS-Justiz RS0007101), sofern auf das Kindeswohl ausreichend Bedacht genommen wurde (RIS-Justiz RS0115719). Das ist hier der Fall.

I. 1. Das Erstgericht traf lediglich die Feststellungen zur Erziehungsfähigkeit, Bindungstoleranz und Kooperationsbereitschaft sowie zur Frage, ob die Trennung von den Halbgeschwistern dem Wohl des Minderjährigen abträglich wäre, aufgrund des psychologischen Sachverständigengutachtens. Ein Verfahrensmangel, der darin liegen soll, dass die Beweiswürdigung "in weiten Strecken“ nicht vom Erst- bzw Rekursgericht, sondern "in unzulässiger Weise“ vom psychologischen Sachverständigen vorgenommen worden sei, liegt nicht vor.

2. Nach der neueren Rechtsprechung ist das gemäß § 66 Abs 2 AußStrG im Revisionsrekursverfahren an sich herrschende Neuerungsverbot im Obsorgeverfahren aus Gründen des Kindeswohls insofern durchbrochen, als der Oberste Gerichtshof aktenkundige Entwicklungen, die die bisherige Tatsachengrundlage wesentlich verändern, auch dann berücksichtigen muss, wenn sie erst nach der Beschlussfassung einer der Vorinstanzen eingetreten sind (RIS-Justiz RS0048056). Obsorgeentscheidungen sollen auf einer aktuellen Tatsachengrundlage getroffen werden (RIS-Justiz RS0106312).

Im vorliegenden Fall gelangte ein Auszug aus der Insolvenzdatei zum Akt, aus dem sich ergibt, dass das Landesgericht Feldkirch am 26. Mai 2010 - somit nach Ergehen des erstgerichtlichen Beschlusses und nach Rekurserhebung, aber noch vor Ergehen der Entscheidung des Rekursgerichts - das Konkursverfahren über das vom Vater in W***** betriebene Gebäudereinigungsunternehmen mangels Kostendeckung nicht eröffnet hat; weiters erliegt ein Beschäftigungsangebot eines in St. M***** (in der Schweiz) ansässigen Dienstgebers im Akt, nach dem der Vater dort ab 1. Juli 2010 als Vollzeitangestellter zu einem Gehalt von 3.200 Sfr (nach dessen Angaben etwa 1.400 bis 1.500 EUR netto) tätig sein könne. In ihrem Revisionsrekurs will die Revisionsrekurswerberin ersichtlich geltend machen, dass das Rekursgericht den Auszug aus der Insolvenzdatei sowie das Beschäftigungsangebot seiner Entscheidung zu Grunde zu legen gehabt hätte. Beide Urkunden vermögen aber keine (aktenkundige) wesentliche Änderung der Tatsachengrundlagen zu bewirken:

Dass der Vater nunmehr - nach Ablehnung der Konkurseröffnung - in Folge der Verpflichtung zur Abdeckung von Verbindlichkeiten gegenüber Gläubigern außerstande wäre, für die materiellen Bedürfnisse des Kindes in ausreichender Weise zu sorgen und dadurch dessen Wohl gefährdet sein könnte, lässt sich aus dem Auszug aus der Insolvenzdatei nicht ableiten und ist daher nicht aktenkundig. Eine derartige - im Revisionsrekurs im Übrigen gar nicht behauptete - Entwicklung wäre erst durch ein Beweisverfahren zu klären, weshalb sie vom Obersten Gerichtshof nicht zu berücksichtigen ist (2 Ob 130/08v). Dies trifft auch auf die ebenfalls nicht aktenkundigen Umstände zu, ob der Vater die ihm angebotene Beschäftigung in der Schweiz angetreten hat und sich daraus etwaige Nachteile für Nicolas ergeben könnten, wie etwa wesentlich verlängerte Fremdbetreuungszeiten oder die Notwendigkeit einer Übersiedlung. Letzteres erscheint im Übrigen schon deshalb unwahrscheinlich, weil der in der Schweiz gelegene Dienstort unweit vom bisherigen Wohnort des Vaters (in H*****) liegt. Eine Pflicht zur ständigen amtswegigen Erhebung der jeweiligen (neu eingetretenen) Umstände besteht nicht (RIS-Justiz RS0048056 [T2, T3]; RS0106313 [T1, T2]).

3. Der behauptete Verfahrensmangel, der in einer Unterlassung der von der Mutter geforderten Einholung eines weiteren Gutachtens, einer weiteren (dritten) Stellungnahme der Bezirkshauptmannschaft und der Einvernahme einer Zeugin liegen soll, wurde vom Rekursgericht verneint und kann somit auch nach der zum AußStrG 2005 ergangenen Judikatur keinen Revisionsrekursgrund bilden (RIS-Justiz RS0050037; 5 Ob 256/07v ua). Gründe dafür, dass dieser Grundsatz im vorliegenden Fall zur Wahrung des Kindeswohls zu durchbrechen sei, hat die Revisionsrekurswerberin nicht behauptet.

4. Da das psychologische Gutachten auf Antrag der Revisionsrekurswerberin im Rahmen der Tagsatzung vom 25. März 2010 mündlich erörtert wurde und anschließend die Einvernahme der Revisionsrekurswerberin erfolgte, bleibt auch ihr weiterer Vorwurf unberechtigt, sie sei zu maßgeblichen, im Gutachten verwerteten Sachverhalten nicht gehört worden.

5. Die zur mangelnden Kooperationsbereitschaft der Revisionsrekurswerberin erhobene Tatsachenrüge kann im Verfahren dritter Instanz nicht mehr erfolgreich geltend gemacht werden (RIS-Justiz RS0007533).

II. Auch die im Rahmen der Rechtsrüge ins Treffen geführten Argumente sind nicht geeignet, eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG aufzuzeigen.

1. Ab Oktober 2009 hielt sich Nicolas gemäß einer Vereinbarung der Eltern abwechselnd jeweils eine Woche beim Vater und eine Woche bei der Mutter auf. Aus dem Beschluss des Erstgerichts vom 23. August 2010 über die Ausübung des Besuchsrechts ist ableitbar, dass er derzeit durchgehend beim Vater lebt. Fest steht, dass die Übertragung der Obsorge auf den Vater eine Verbesserung des Kindeswohls mit sich bringt. Auch wenn Nicolas nach der Trennung der Eltern im September 2008 vorerst bei der Mutter lebte, stellt vor diesem Hintergrund der Grundsatz der Kontinuität nicht das entscheidende Argument für die Obsorgezuteilung dar (vgl auch RIS-Justiz RS0047928 [T2]).

2. Der Vater erhält bei der Betreuung von Nicolas Unterstützung "von der Familie“. Da sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass durch diese Art der unterstützenden Betreuung eine Gefährdung des Wohls von Nicolas gegeben sein könnte, liegt kein entscheidungswesentlicher Feststellungsmangel darin, dass keine Feststellungen dazu existieren, welches Familienmitglied jeweils die Betreuung ausübt bzw ausüben wird.

3. Liegen - wenngleich den Vorstellungen der Revisionsrekurswerberin zuwiderlaufende - Feststellungen zu den Auswirkungen der Trennung von den Halbgeschwistern ohnehin vor, kann ein Feststellungsmangel nicht mehr erfolgreich geltend gemacht werden (RIS-Justiz RS0043320 [T18]).

Einer weiteren Begründung bedarf diese Entscheidung nicht (§ 71 Abs 3 AußStrG).

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