European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:010OBS00180.21Z.0420.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache zu Recht erkannt, dass das das Klagebegehren abweisende Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei hat die Kosten des Rechtsmittelverfahrens selbst zu tragen.
Entscheidungsgründe:
[1] Mit Bescheid vom 26. 11. 2018 wurde der Antrag der Klägerin vom 28. 9. 2018 auf Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension abgelehnt. Da vorübergehende Berufsunfähigkeit vorlag, wurde der Klägerin ab 1. 10. 2018 für die weitere Dauer der Berufsunfähigkeit ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung zuerkannt.
[2] Die 1977 geborene Klägerin erwarb im Jahr 1996 im Kosovo ein Diplom als Krankenschwester, welches aber in Österreich zunächst ohne die erforderliche Ergänzungsausbildung nicht anerkannt wurde.
[3] Die Klägerin absolvierte in Österreich von 27. 10. 2014 bis 12. 7. 2015 eine Ergänzungsausbildung zur Diplomierten Gesundheits‑ und Krankenschwester mit einer täglichen Ausbildungszeit von 8 Stunden. Diese Ausbildung umfasste folgende Ergänzungsausbildungen in theoretischer wie praktischer Hinsicht, welche Voraussetzung für eine Nostrifizierung des Zeugnisses der Klägerin waren (vgl Beil ./B):
- Berufsethik und Berufskunde der Gesundheits‑ und Krankenpflege;
- Gesundheits‑ und Krankenpflege;
- Pflege von alten Menschen;
- Hygiene und Infektionslehre;
- Pharmakologie;
- Strukturen und Einrichtungen des Gesundheitswesens samt Organisationslehre;
- berufsspezifische Rechtsgrundlagen;
- Praktikum Akutpflege im operativen Fachbereich (200 Stunden);
- Praktikum Akutpflege im konservativen Bereich (200 Stunden)
- Praktikum Langzeitpflege/rehabilitative Pflege (200 Stunden).
[4] Es kann nicht festgestellt werden, ob eine Nostrifizierung der ausländischen Ausbildung der Klägerin stattfand.
[5] Die Klägerin war in Österreich seit 1. 10. 2003 42 Monate berufstätig. Seit Beendigung der Ergänzungsausbildung war sie in Österreich 29 Monate berufstätig. Die Klägerin war in folgenden Zeiträumen seit 1998 in Österreich berufstätig: 1. 12. 2003 bis 31. 5. 2004, 24. 6. bis 2. 7. 2004, 15. 10. bis 22. 10. 2009, 31. 1. bis 30. 7. 2014 und 9. 11. 2015 bis 16. 3. 2018. Es kann nicht festgestellt werden, inwieweit die Klägerin außerhalb Österreichs berufstätig war.
[6] Die Klägerin war zum Stichtag der Gewährung von Rehabilitationsgeld am ersten Arbeitsmarkt nicht arbeitsfähig. Seitdem trat eine wesentliche Verbesserung ihrer Leistungsfähigkeit ein, eine generelle Erwerbsunfähigkeit besteht nicht mehr. Zumindest seit 29. 2. 2020 ist die Klägerin aufgrund ihres körperlichen und geistigen Leistungskalküls in der Lage, am allgemeinen Arbeitsmarkt die vom Erstgericht festgestellten Verweisungstätigkeiten zu verrichten.
[7] Mit dem angefochtenen Bescheid vom 8. 11. 2020 sprach die beklagte Pensionsversicherungsanstalt aus, dass vorübergehende Berufsunfähigkeit bei der Klägerin nicht mehr vorliege und das Rehabilitationsgeld mit 29. 2. 2020 entzogen werde. Medizinische Maßnahmen der Rehabilitation seien nicht zweckmäßig, ein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe nicht. Der Gesundheitszustand der Klägerin habe sich kalkülsrelevant verbessert.
[8] Mit ihrer gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrt die Klägerin die Weitergewährung von Rehabilitationsgeld über den Ablauf des 29. 2. 2020 hinaus. Ihr Zustand habe sich nicht verbessert, sondern im Gegenteil verschlechtert.
[9] Die Beklagte wandte ein, dass die Klägerin keinen Berufsschutz genieße. Ihr Gesundheitszustand habe sich wesentlich gebessert, die Voraussetzungen für die Gewährung von Rehabilitationsgeld lägen nicht mehr vor.
[10] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab und stellte den angefochtenen Bescheid wieder her. Die Klägerin sei in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag weniger als 90 Monate berufstätig gewesen. Das Ende der Ausbildung im Sinn des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG sei im Sinn des § 255 Abs 2a ASVG spätestens mit der Aufnahme der ersten Arbeitstätigkeit der Klägerin in Österreich anzusetzen. Das Ende der Zusatzausbildung liege zu knapp vor dem Stichtag, um der Klägerin noch einen Berufsschutz zu vermitteln. Invalidität gemäß § 255 Abs 3 ASVG liege infolge einer wesentlichen Besserung zum Entziehungszeitpunkt nicht mehr vor.
[11] Das von der Klägerin angerufene Berufungsgericht hob dieses Urteil auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Die Klägerin genieße keinen Berufsschutz gemäß § 273 Abs 1 ASVG. Gehe man davon aus, dass der Eintritt der Klägerin ins Berufsleben in Österreich mit 1. 12. 2003 erfolgt sei, umfasse der Beobachtungszeitraum bis zum Stichtag nur 178 Monate, daher knapp weniger als 15 Jahre. Daher gelange die „Hälfteregelung“ des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG zur Anwendung. Die Klägerin habe im Zeitraum zwischen 12. 7. 2015 – dem Ende der abgeschlossenen Ausbildung zur Krankenschwester – 29 Versicherungsmonate, daher mehr als die Hälfte des bis zum Stichtag 38 Monate umfassenden Beobachtungszeitraums erworben. Da für die Frage des Berufsschutzes wesentliche Feststellungen über die konkret in diesen Monaten ausgeübten Tätigkeiten fehlten, sei das Verfahren ergänzungsbedürftig. Der Rekurs sei zulässig, weil die Frage zu beurteilen sei, ob der Beginn des Beobachtungszeitraums immer ab dem erstmaligen Eintritt ins Berufsleben anzusetzen sei, auch wenn dieser weniger als 15 Jahre vor dem Stichtag erfolgt sei.
[12] Gegen diesen Beschluss richtet sich der von der Klägerin beantwortete Rekurs der Beklagten.
Rechtliche Beurteilung
[13] Der Rekurs ist zulässig und berechtigt.
[14] Die Rekurswerberin führt aus, dass der Gesetzgeber des BBG 2011 das Ziel verfolgt habe, die Erlangung des Berufsschutzes dahin zu erschweren, dass eine Mindestversicherungszeit einer qualifiziert ausgeübten Tätigkeit vorliegen müsse. Davon solle nur in Ausnahmefällen abgegangen werden, wenn diese Mindestversicherungszeit von vornherein nicht erworben werden konnte. Die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts habe das unsachliche Ergebnis zur Folge, dass der Beobachtungszeitraum im konkreten Fall um 140 Monate auf 38 Monate verkürzt werde. Der Klägerin wäre es jedoch möglich gewesen, die volle Mindestversicherungszeit, jedenfalls aber eine im Verhältnis zur Verkürzung des Beobachtungszeitraums anteilsmäßig verkürzte Mindestversicherungszeit (89 Pflichtversicherungsmonate im erlernten Beruf als Krankenschwester) zu erwerben. Dem kommt Berechtigung zu:
[15] 1. Berufsschutz im Sinn des § 273 Abs 1 ASVG liegt vor, wenn die Versicherte innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit als Angestellte oder nach § 255 Abs 1 ASVG ausgeübt hat. Diese Voraussetzung ist bei der Klägerin unstrittig nicht erfüllt.
[16] 2.1 Liegen zwischen dem Ende der Ausbildung (§ 255 Abs 2a ASVG) und dem Stichtag weniger als 15 Jahre, so muss nach der Ausnahmeregelung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG (hier iVm § 273 Abs 1 Satz 2 ASVG) zumindest in der Hälfte der Kalendermonate, jedenfalls aber für zwölf Pflichtversicherungsmonate, eine Erwerbstätigkeit nach § 255 Abs 1 ASVG oder als Angestellter vorliegen. § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG stellt nach der Rechtsprechung eine Ausnahmeregelung für jene Versicherten dar, bei denen zwischen dem Ende der – ersten (10 ObS 97/20t SSV‑NF 34/61; RS0127798 [T2]) – Ausbildung und dem Stichtag weniger als 15 Jahre liegen und denen daher der Erwerb der Mindestversicherungszeit einer qualifizierten Erwerbstätigkeit von vornherein nicht möglich war (10 ObS 86/16v SSV‑NF 30/48). Nur in diesem Fall genügt das Vorliegen einer qualifizierten Erwerbstätigkeit zumindest in der Hälfte der Kalendermonate.
[17] 2.2 Mit der Neuregelung des Berufsschutzes in § 255 Abs 2 ASVG bezweckte der Gesetzgeber des Budgetbegleitgesetzes 2011, BGBl I 2010/111, eine Verschärfung der Anforderungen an die Erlangung des Berufsschutzes. Vor diesem Hintergrund ist bei wertender Betrachtung auch die Regelung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG als Ausnahmeregelung zur Grundregelung des § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG einschränkend auszulegen (10 ObS 50/12v DRdA 2013/11, 136 [Panhölzl] = SSV‑NF 26/33).
[18] 3.1 Im vorliegenden Fall steht lediglich der Eintritt der aus dem Kosovo stammenden Klägerin in das Erwerbsleben in Österreich fest. Darauf, dass dieser Zeitpunkt nur 178 Monate, daher weniger als 15 Jahre, vor dem Stichtag am 1. 10. 2018 liegt, kommt es jedoch im konkreten Fall nicht an:
[19] 3.2 Die Klägerin erwarb ihr Diplom als Krankenschwester im Kosovo im Jahr 1996. Sie hat selbst in der Berufung geltend gemacht, dass diese Ausbildung im Jahr 2015 durch Ablegung der erforderlichen Ergänzungsprüfungen und ‑praktika in Österreich im Sinn des § 32 Gesundheits‑ und Krankenpflegegesetz, BGBl I 1997/108 (GuKG), nostrifiziert worden sei. § 32 GuKG lautet auszugsweise in der im Jahr 2015 vor Aufhebung dieser Bestimmung mit der Novelle BGBl I 2016/75 noch geltenden Fassung BGBl I 2013/185 (Hervorhebungen durch den Senat):
„ Nostrifikation
§ 32. (1) Personen, die eine im Ausland staatlich anerkannte Ausbildung im gehobenen Dienst für Gesundheits‑ und Krankenpflege absolviert haben und beabsichtigen, in Österreich eine Tätigkeit im gehobenen Dienst für Gesundheits‑ und Krankenpflege auszuüben, sind berechtigt, die Anerkennung ihrer außerhalb Österreichs erworbenen Urkunden über eine mit Erfolg abgeschlossene Ausbildung im entsprechenden gehobenen Dienst für Gesundheits‑ und Krankenpflege beim Landeshauptmann … zu beantragen.
…
(8) Sofern die Gleichwertigkeit nicht zur Gänze vorliegt, ist die Nostrifikation an eine oder beide der folgenden Bedingungen zu knüpfen:
1. erfolgreiche Ablegung einer oder mehrerer kommissioneller Ergänzungsprüfungen,
2. erfolgreiche Absolvierung eines Praktikums oder mehrerer Praktika an einer Schule für Gesundheits- und Krankenpflege.“
[20] 3.3 Daraus ergibt sich im vorliegenden Zusammenhang, dass die von der Klägerin absolvierte Ausbildung zur Krankenschwester im Kosovo eine dort staatlich anerkannte Ausbildung im gehobenen Dienst für Gesundheits‑ und Krankenpflege war. Sie beendete diese Ausbildung – im Alter von 18 Jahren – im Jahr 1996. Dass es der Klägerin (spätestens) nach Abschluss dieser Ausbildung nicht möglich gewesen wäre, in das Berufsleben einzutreten, hat sie nicht behauptet. Aus dem Akteninhalt ergibt sich lediglich ein Hinweis darauf, dass die Klägerin vor dem Krieg im Kosovo im Jahr 1998 nach Österreich flüchten musste (Beil ./4). Daraus folgt aber nicht, dass der Klägerin der Eintritt in das Berufsleben nicht bereits vor diesem Zeitpunkt, aber auch bereits vor dem Jahr 2003 in Österreich möglich gewesen wäre. Nach ihrem Vorbringen und den Verfahrensergebnissen stand der Klägerin daher der grundsätzlich für den Erwerb des Berufsschutzes im Sinn des § 255 Abs 2 ASVG erforderliche Zeitraum von 15 Jahren vor dem Stichtag zur Verfügung. Nach dem Erwerb ihres Diploms als Krankenschwester war es ihr nicht von vornherein unmöglich, bis zum Stichtag am 1. 10. 2018 in erlernten oder angelernten Tätigkeiten zu arbeiten.
[21] 3.4 Der Umstand, dass die Klägerin die erforderlichen Ergänzungsprüfungen in Österreich erst in den Jahren 2014, 2015 ablegte, sodass sie erst nach dem 12. 7. 2015 durch ihre Tätigkeit in Österreich als Krankenschwester qualifizierte Zeiten im Sinn des § 255 Abs 1 ASVG ausüben konnte, kann nach der gebotenen einschränkenden Auslegung des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG nicht anders beurteilt werden, als die Situation eines Versicherten, der nach Eintritt in das Berufsleben zunächst als ungelernter Arbeiter tätig war und erst zu einem späteren Zeitpunkt seiner Berufslaufbahn eine Lehrabschlussprüfung macht (vgl 10 ObS 50/12v SSV‑NF 26/33; 10 ObS 86/16v SSV‑NF 30/48; 10 ObS 81/19p). Bereits in der Entscheidung 10 ObS 86/16v wurde ausgeführt, dass es mit dem vom Gesetzgeber verfolgten Zweck einer Verschärfung der Bestimmungen über die Erlangung von Berufsschutz unvereinbar ist, in jenen Fällen die „Hälfteregelung“ des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG anzuwenden, in denen dieser Zeitraum dem Versicherten – wie hier der Klägerin – zwar zur Verfügung stand, aber nicht von ihm zur Erlangung des Berufsschutzes genützt wurde.
[22] 4. Der Oberste Gerichtshof kann gemäß § 519 Abs 2 letzter Satz ZPO über einen Rekurs gegen einen Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts nach § 519 Abs 1 Z 2 ZPO durch Urteil in der Sache selbst erkennen, wenn die Sache zur Entscheidung reif ist. Da die „Hälfteregelung“ des § 255 Abs 2 Satz 3 ASVG auf die Klägerin nicht anwendbar ist und die Klägerin nicht zumindest 90 Pflichtversicherungsmonate in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag erworben hat, hat das Erstgericht ihre zum Entziehungszeitpunkt wieder bestehende Verweisbarkeit im Ergebnis zutreffend nach § 273 Abs 2 ASVG (RS0084408) bejaht. Ausgehend davon war dem Rekurs der Beklagten im Sinn der Wiederherstellung des Ersturteils stattzugeben.
[23] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG. Gründe für einen Kostenzuspruch nach Billigkeit wurden nicht geltend gemacht und ergeben sich auch nicht aus der Aktenlage.
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