European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0010OB00041.22V.0420.000
Rechtsgebiet: Zivilrecht
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.
Begründung:
[1] Der bisher für den Betroffenen bestellte Erwachsenenvertreter – ein Mitarbeiter des Sozialvereins * – ersuchte um Enthebung, weil er sich „der Herausforderung nicht mehr gewachsen“ fühle. Die „ständigen Hiobsbotschaften und Katastrophenmeldungen“, darunter psychotische bzw paranoide Schübe und Suizidversuche des Betroffenen sowie Polizei- und Feuerwehreinsätze, die zumeist ein umgehendes Handeln erforderten, hätten ihn an seine Belastungsgrenzen gebracht.
[2] Die Tochter des Betroffenen lehnte die Übernahme der Erwachsenenvertretung für ihren Vater aus persönlichen Gründen ab. Der Verein VertretungsNetz – Erwachsenenvertretung lehnte die Übernahme mangels freier Kapazitäten ab.
[3] Nachdem das Erstgericht dem Rechtsanwalt Mag. Dr. F* mitgeteilt hatte, dass es nach der iSd § 86 Abs 2 GeO geführten Liste seine Bestellung in Aussicht nehme, lehnte dieser die Übernahme der Erwachsenenvertretung mit Schriftsatz vom 5. 2. 2021 ebenfalls ab, weil die Besorgung der Angelegenheiten nicht vorwiegend Rechtskenntnisse erfordere und ihm diese Vertretung unter Berücksichtigung seiner persönlichen, beruflichen und sonstigen Verhältnisse, insbesondere der erst kürzlichen Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit als Rechtsanwalt bei einer Obsorgepflicht für zwei Kleinkinder während der COVID‑19-Pandemie, nicht zugemutet werden könne.
[4] Das Erstgericht enthob den bisherigen gerichtlichen Erwachsenenvertreter seines Amtes und bestellte stattdessen Rechtsanwalt Mag. Dr. F* zum Erwachsenenvertreter mit dem Wirkungsbereich Einkommens- und Vermögensverwaltung, Einkommens- und Vermögenssicherung, Vertretung bei Ämtern, Behörden und Gerichten. Der Rechtsanwalt habe keine hinreichenden Gründe vorgebracht, die gegen seine Bestellung sprechen würden. Immerhin sei jeder Mensch weltweit von der COVID‑19-Pandemie betroffen.
[5] Dem gegen diesen Beschluss erhobenen Rekurs des neu bestellten Erwachsenenvertreters gab das Rekursgericht nicht Folge. Richtig sei zwar, dass das gegen den Betroffenen geführte Räumungsverfahren bereits erledigt sei. Ungeachtet dessen ergebe sich aber aus dem gesamten Akteninhalt, dass der Betroffene immer wieder Handlungen setze, die Verfahren jeglicher Art nach sich ziehen könnten. So habe er etwa seinen Wohnplatz im Wohnheim verloren, weil er in seinem Zimmer gezündelt habe. Weiters sei er die meiste Zeit auf der geschlossenen Abteilung des Neuromed-Campus aufhältig. Im *‑Stüberl habe er Hausverbot, weil er einem Klienten einen Aschenbecher an den Kopf geworfen habe. Er habe sich gewaltsam Zugang zu den Büroräumlichkeiten des Sozialvereins * verschafft und eine Sekretärin an der Hand verletzt. Weiters habe er die Seitenscheibe eines PKWs eingeschmissen und im Neuromed-Campus mutwillig einen Feueralarm ausgelöst. Allein diese Vorfälle zeigten, dass der Betroffene einen Erwachsenenvertreter mit guten rechtlichen Kenntnissen benötige. Der ordentliche Revisionrekurs sei mangels Rechtsfragen in der Qualität des § 62 Abs 1 AußStrG nicht zulässig.
[6] In seinem außerordentlichen Revisionsrekurs macht der neu bestellte gerichtliche Erwachsenenvertreter geltend, dass das Rekursgericht zu Unrecht die von ihm geltend gemachten Ablehnungsgründe verneint habe.
[7] Revisionsrekursbeantwortungen wurden trotz Freistellung nicht erstattet.
Rechtliche Beurteilung
[8] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil die Rechtslage einer Klarstellung bedarf; er ist auch berechtigt.
[9] 1. § 128 AußStrG regelt das Verfahren zur Änderung (Erweiterung oder Einschränkung), Übertragung, Erneuerung und Beendigung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung. Nach dessen Abs 1 sind – soweit nichts anderes bestimmt ist – die Vorschriften über die Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters anzuwenden.
[10] Bei der Auswahl des gerichtlichen Erwachsenenvertreters ist nach § 273 Abs 1 ABGB idFd 2. ErwSchG, BGBl I 2017/59, auf die Bedürfnisse der volljährigen Person und deren Wünsche, die Eignung des Erwachsenenvertreters und auf die zu besorgenden Angelegenheiten Bedacht zu nehmen (7 Ob 6/19m).
[11] Zum Erwachsenenvertreter ist nach § 274 Abs 1 ABGB vorrangig mit deren Zustimmung die Person zu bestellen, die aus einer Vorsorgevollmacht, der Vereinbarung einer gewählten Erwachsenenvertretung oder einer Erwachsenenvertreter-Verfügung hervorgeht. Ist eine solche Person nicht verfügbar oder geeignet, so ist nach Abs 2 leg cit mit deren Zustimmung eine der volljährigen Person nahestehende und für die Aufgabe geeignete Person zu bestellen. Kommt auch eine solche Person nicht in Betracht, so ist nach Abs 3 leg cit ein Erwachsenenschutzverein mit dessen Zustimmung zu bestellen. Ist auch die Bestellung eines solchen nicht möglich, so ist nach Abs 4 leg cit ein Notar (Notariatskanditat) oder Rechtsanwalt (Rechtsanwalts-anwärter) oder mit deren Zustimmung eine andere geeignete Person zu bestellen. Nach Abs 5 leg cit ist ein Notar oder Rechtsanwalt (weiterhin) vor allem dann zu bestellen, wenn die Besorgung der Angelegenheiten vorwiegend Rechtskenntnisse erfordert (vgl RS0048291), ein Erwachsenenschutzverein vor allem dann, wenn sonst besondere Anforderungen mit der Erwachsenenvertretung verbunden sind, wie sie sich etwa aus der sozialen Situation oder aus der psychischen Verfassung des Betroffenen ergeben können (vgl RS0126464; Stefula in KBB6 § 274 ABGB Rz 3 unter Hinweis auf ErlRV 1420 BlgNR 22. GP 18: „schwierige Klienten“).
[12] Das Pflegschaftsgericht ist grundsätzlich an diesen gesetzlichen „Stufenbau“ gebunden, weshalb ein Abgehen davon sachlich gerechtfertigt sein muss (7 Ob 49/20m; Parapatits in Kletečka/Schauer ABGB‑ON1.04 § 275 Rz 11).
[13] Für den Fall, dass weder eine selbst gewählte oder nahestehende Person noch der Erwachsenenschutzverein zur Verfügung steht, kann bzw muss das Pflegschaftsgericht („am Ende der Prioritätenhierarchie“) auf Rechtsanwälte, Notare oder deren Berufsanwärter auch dann zurückgreifen, wenn nicht vorwiegend Rechtskenntnisse erforderlich sind (Barth/Koza in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 § 274 ABGB Rz 32; Pfurtscheller in Schwimann/Neumayr, ABGB Takom5 § 274 Rz 4).
[14] Angehörige dieser Rechtsberufe müssen auch nach § 275 ABGB idF des 2. ErwSchG, BGBl I 2017/59, gerichtliche Erwachsenenvertretungen grundsätzlich übernehmen, sofern nicht ein in dieser Bestimmung genannter Ablehnungsgrund vorliegt (6 Ob 143/19a; vgl RS0123440).
[15] Die Möglichkeit der Ablehnung gilt nach § 275 ABGB jedoch nur für jene Notare (Notariatskandidaten) oder Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsanwärter), die nicht (iSd § 10b RAO) aufrecht in die von den Kammern zu führenden Listen als zur Übernahme von Vorsorgevollmachten und gerichtlichen Erwachsenenvertretungen besonders geeignete Notare oder Rechtsanwälte eingetragen sind.
[16] Der Revisionsrekurswerber scheint in der von der Rechtsanwaltskammer Oberösterreich nach § 28 Abs 1 lit o RAO geführten und auf deren Website allgemein zugänglich bereitgestellten Liste nicht auf. Damit kann er sich auf die (voneinander unabhängigen; Stefula in KBB6 § 275 ABGB Rz 2 mwN) Ablehnungsfälle des § 275 Z 1 bis 3 ABGB berufen.
[17] 2. Nach der vom Revisionsrekurswerber herangezogenen Z 1 dieser Bestimmung kann die Übernahme der gerichtlichen Erwachsenenvertretung abgelehnt werden, wenn die Besorgung der Angelegenheiten nicht vorwiegend Rechtskenntnisse erfordert. Mit dieser Ablehnungsmöglichkeit wurde einer langjährigen Forderung der Notare und Rechtsanwälte nachgekommen (Weitzenböck in Schwimann/Kodek 5 § 275 ABGB Rz 2 unter Hinweis auf ErlRV 1461 BlgNR 25. GP 44).
[18] Nach Stabentheiner (in Rummel/Lukas 4 § 279 ABGB Rz 6) sind Rechtskenntnisse dann vorwiegend erforderlich, wenn es sich „um einigermaßen verdichtete rechtliche Aufgaben handelt, die von einer Person ohne juristische Ausbildung nicht eigenständig erfüllt werden können“. Beispielhaft führt er etwa die Durchsetzung bestimmter sozialrechtlicher oder schadenersatzrechtlicher Ansprüche oder die Vertretung der Person in sonstigen gerichtlichen oder behördlichen Verfahren an.
[19] Ähnlich stellt Parapatits (aaO § 275 ABGB Rz 16) darauf ab, ob eine dritte Person für die Erledigung der Angelegenheiten vernünftigerweise professionelle rechtliche Beratung oder Vertretung suchen würde, etwa im Fall der Prozessführung oder der Geltendmachung rechtlicher Ansprüche.
[20] Weitzenböck (aaO § 275 ABGB Rz 2) meint, dass für die Ausübung der Vertretung nur dann „vorwiegend“ Rechtskenntnisse erforderlich sind, wenn neben Angelegenheiten, die ein Großteil der Bevölkerung üblicherweise zu besorgen hat, Angelegenheiten anstehen, in denen sich der „Durchschnittsmensch“ fachliche Beratung einholt, etwa ein anhängiges gerichtliches Verfahren, ein Schadensereignis, Streitigkeiten mit Nachbarn oder Vertragspartnern etc.
[21] Nach Ansicht von Stefula (aaO § 275 ABGB Rz 3) steht allerdings selbst ein anhängiges gerichtliches Verfahren, in dem ein Durchschnittsmensch fachliche Beratung einholen würde oder gar Anwaltspflicht herrscht, dem Ablehnungsrecht nicht unbedingt entgegen, weil uU andere zu besorgende Angelegenheiten überwiegen, die nicht vorwiegend Rechtskenntnisse erfordern.
[22] 3. Bei der Beurteilung, ob Angelegenheiten zu besorgen sind, für die vorwiegend Rechtskenntnisse erforderlich sind, kommt dem Gericht stets ein Ermessensspielraum zu (RS0117452 [T2]). Die Vorinstanzen haben den ihnen eingeräumten Beurteilungsspielraum hier allerdings überschritten, wie der Revisionsrekurswerber richtig aufzeigt:
[23] Die vom Rekursgericht genannten Vorfälle legen nahe, dass der Betroffene – wie im Übrigen auch der bisherige Erwachsenenvertreter einräumt – eher einen Erwachsenenvertreter mit einer sozialpädagogischen oder psychologischen als einer juristischen Ausbildung benötigt. Derzeit gibt es weder eine Angelegenheit, die von einer Person ohne juristische Ausbildung nicht eigenständig erfüllt werden könnte, noch ist eine solche konkret abzusehen. Allein der Umstand, dass der Betroffene immer wieder Handlungen setzt, die Verfahren jeglicher Art nach sich ziehen könnten, steht einer Ablehnung nach § 275 Z 1 ABGB nicht entgegen. Das mit dem 2. ErwSchG neu statuierte Ablehnungsrecht würde unterlaufen, wollte man die bloß abstrakte Möglichkeit, dass in Zukunft Prozesse und Verfahren anfallen, für die Schlussfolgerung genügen lassen, dass zur Besorgung der Angelegenheiten des Betroffenen vorwiegend Rechtskenntnisse erforderlich sind. Vielmehr müssen diese Angelegenheiten aktuell oder in naher Zukunft zu besorgen sein (vgl dazu auch das Erfordernis der „gegenwärtig zu besorgenden“ Angelegenheiten nach § 272 Abs 1 ABGB). Das ist hier nicht der Fall.
[24] Da die Vorinstanzen dem Revisionsrekurswerber zu Unrecht eine Berufung auf das Ablehnungsrecht nach Z 1 des § 275 ABGB verwehrt haben, ist dem Revisionsrekurs Folge zu geben, ohne dass auf den weiters geltend gemachten Ablehnungsgrund nach Z 3 leg cit eingegangen werden müsste.
[25] 4. Das Erstgericht wird im fortgesetzten Verfahren, sofern es an der Übertragung der Erwachsenenvertretung festhält, einen anderen Erwachsenenvertreter als den Revisionsrekurswerber zu bestellen haben. Aufgrund der Sachlage ist vorrangig an eine/n Sozialarbeiter/in als geeignete Person zu denken, sofern er/sie mit der Bestellung einverstanden ist (§ 274 Abs 4 letzter Fall ABGB). Hilfsweise müsste auf einen Angehörigen eines einschlägigen Rechtsberufs zurückgegriffen werden, der von seinem Ablehnungsrecht keinen Gebrauch machen will oder dem – wegen Eintragung in die von den Kammern zu führenden Listen dafür besonders geeigneter Rechtsanwälte oder Notare – ein solches nicht zusteht.
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)