OGH 7Ob49/20m

OGH7Ob49/20m24.4.2020

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.‑Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Erwachsenenschutzsache der betroffenen Person W* A*, geboren am * 1978, *, vertreten durch den Erwachsenenvertreter Dr. Eric Heinke, Rechtsanwalt in Wien, wegen Übertragung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung, über den Revisionsrekurs der betroffenen Person gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom 27. Jänner 2020, GZ 16 R 328/19b‑543, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Neunkirchen vom 13. August 2019, GZ 14 P 32/18v‑532, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2020:E128529

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden ersatzlos behoben.

 

Begründung:

Mit Beschluss des Bezirksgerichts Schwechat vom 29. 3. 2006, AZ 1 P 13/04a‑99, wurde Rechtsanwalt Dr. Eric Heinke zum Sachwalter (nunmehr Erwachsenenvertreter) für W* A* bestellt.

Der Betroffene wurde am 4. 7. 2012 beim Grünen Kreis, Verein für Rehabilitation und Integration suchtkranker Menschen, aufgenommen und befindet sich nach einer stationären Behandlung bis 3. 1. 2014 in stationärer Dauerbetreuung mit dislozierter Wohnform („E*“). Er absolviert Therapien in der Einrichtung „K*“.

Über – amtswegige – Anfrage des Erstgerichts vom 8. 8. 2019 gab der Niederösterreichische Landesverein für Erwachsenenschutz (NÖ Landesverein) bekannt, zur Übernahme der gegenständlichen Erwachsenenvertretung bereit zu sein.

Daraufhin enthob das Erstgericht den bisherigen gerichtlichen Erwachsenenvertreter seines Amtes und trug diesem auf, binnen vier Wochen Schlussbericht zu erstatten, Schlussrechnung zu legen, die Bestellungsurkunde dem Gericht zurückzusenden, sowie dem neuen gerichtlichen Erwachsenenvertreter alle die Erwachsenenvertretung betreffenden maßgeblichen Unterlagen zu übermitteln und relevanten Auskünfte zu erteilen. Zum neuen gerichtlichen Erwachsenenvertreter bestellte es den NÖ Landesverein Erwachsenenschutz Wiener Neustadt. Die Übertragung entspreche nach der Aktenlage dem Wohl des Betroffenen. Da nach der Reihung des § 274 ABGB vorrangig vor Bestellung eines Rechtsanwalts oder Notars ein Erwachsenenschutzverein auszuwählen sei, der regional zuständige NÖ Landesverein nunmehr die Bereitschaft zur Übernahme erklärt habe, derzeit keine vorwiegend Rechtskenntnisse erfordernden Angelegenheiten anstünden, und auch eine beträchtliche räumliche Distanz zwischen dem Wohnort des Vertretenen und dem Kanzleisitz seines bisherigen Vertreters bestehe, sei mit der Übertragung der Erwachsenenvertretung vorzugehen gewesen.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss. Durch die vom Erstgericht vorgenommene Übertragung stehe dem Betroffenen nunmehr ein mit entsprechend sozialarbeiterischen und psychologischen Fachkenntnissen ausgestatteter Erwachsenenvertreter in unmittelbarer räumlicher Nähe zur Verfügung. Auch seien aktuell keine Angelegenheiten zu besorgen, die vorwiegend Rechtskenntnisse erforderten. Zum Wohl des Betroffenen seien die langfristigen Vorteile einer Übertragung in Übereinstimmung mit dem Erstgericht über die kurzfristige allenfalls mögliche emotionale Belastung aufgrund der Änderung der Person des Erwachsenenvertreters zu stellen.

Gegen diesen Beschluss richtet sich der Revisionsrekurs des Betroffenen, mit einem Abänderungsantrag dahin, die Beschlüsse der Vorinstanzen zur Gänze zu beheben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus Gründen der Rechtssicherheit zulässig, er ist auch berechtigt.

1.1 Eine Übertragung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung auf eine andere Person hat nach § 246 Abs 3 Z 2 ABGB dann zu erfolgen, wenn der Vertreter verstorben ist, nicht die erforderliche Eignung aufweist, durch die Vertretung unzumutbar belastet wird oder es sonst das Wohl der vertretenen Person erfordert.

1.2 Nur der letztgenannte Übertragungsgrund kommt hier in Frage. Die Beurteilung, was zum Wohl einer betroffenen Person gereicht und ob die Übertragung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung notwendig ist, kann immer nur auf den Einzelfall bezogen erfolgen. Daran hat sich durch das Inkrafttreten des zweiten Erwachsenenschutzgesetzes nichts geändert. Auch die neue Rechtslage gewährleistet weder eine Übertragung allein aufgrund einer Wunschäußerung der betroffenen Person, noch eine freie Auswahl des (gerichtlichen) Erwachsenenvertreters (vgl RS0132245; 8 Ob 164/18b mwN).

1.3 Das Wohl der betroffenen Person ist nicht ausschließlich von einem materiellen Gesichtspunkt aus zu beurteilen, sondern es ist auch auf ihre Befindlichkeit und ihren psychischen Zustand abzustellen (RS0117813 [T7]), im Allgemeinen ist eine stabile Betreuungssituation wünschenswert, weshalb es nur aus besonderen Gründen zu einer Übertragung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung kommen soll (vgl RS0117813 [T10], 8 Ob 164/18b).

2.1 Zum Erwachsenenvertreter ist nach § 274 Abs 1 ABGB vorrangig mit deren Zustimmung die Person zu bestellen, die aus einer Vorsorgevollmacht, einer Vereinbarung einer gewählten Erwachsenenvertretung oder einer Erwachsenenvertreter‑Verfügung hervorgeht. Ist eine solche Person nicht verfügbar oder geeignet, so ist nach Abs 2 leg cit mit deren Zustimmung eine der volljährigen Person nahestehende und für die Aufgabe geeignete Person zu bestellen. Kommt auch eine solche Person nicht in Betracht, so ist nach Abs 3 leg cit ein Erwachsenenschutzverein mit dessen Zustimmung zu bestellen. Ist auch die Bestellung eines solchen nicht möglich, so ist nach Abs 4 leg cit ein Notar (Notariatskanditat) oder Rechtsanwalt (Rechtsanwalts-anwärter) oder mit deren Zustimmung eine andere geeignete Person zu bestellen. Nach Abs 5 leg cit ist ein Notar oder Rechtsanwalt vor allem dann zu bestellen, wenn die Besorgung der Angelegenheiten vorwiegend Rechtskenntnisse erfordert, ein Erwachsenenschutzverein vor allem dann, wenn sonst besondere Anforderungen mit der Erwachsenen-vertretung verbunden sind.

2.2 Zwar ist das Pflegschaftsgericht grundsätzlich an diesen gesetzlichen Stufenbau gebunden, weshalb auch ein Abgehen davon sachlich gerechtfertigt sein muss (Parapatits in Kletečka/Schauer ABGB‑ON1.04 § 275 Rz 11).

2.3 Dieser vom Gesetz angeordnete Vorrang der Vertretung durch den Erwachsenenschutzverein allein kann aber zu keiner Übertragung der Erwachsenenvertretung führen. Wie ausgeführt, kommt im vorliegenden Fall die Übertragung der Erwachsenenvertretung lediglich dann in Betracht, wenn sie dem Wohl des Betroffenen entspricht.

3.1 Zur Beurteilung, ob die Übertragung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung von dem seit 14 Jahren betrauten Rechtsanwalt – trotz ebenfalls bereits länger bestehender räumlicher Distanz – auf den Erwachsenen-schutzverein dem Wohl des Betroffenen entspricht, bedarf es zumindest eines verwertbaren Tatsachensubstrats, das hier fehlt.

3.2 Hier traf das Erstgericht überhaupt keine Feststellungen. Damit fehlen aber die wesentlichen Grundlagen für die Beurteilung eines allfälligen Bedürfnisses des Betroffenen nach Stabilität und die (negativen oder positiven) Auswirkungen der Übertragung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung vor dem Hintergrund der langjährig bestehenden Betreuungssituation durch den bisherigen Erwachsenenvertreter auf den Betroffenen. Die Annahme des Rekursgerichts, die Übertragung der Erwachsenenvertretung sei allenfalls mit einer kurzfristigen emotionalen Belastung aufgrund der Änderung der Person des Erwachsenenvertreters verbunden, findet keine Deckung in den (nicht vorhandenen) Tatsachenfeststellungen. Die darauf aufbauende Beurteilung des Rekursgerichts, diese Belastung sei über die langfristigen Vorteile der geringeren räumlichen Distanz zum Erwachsenenschutzverein zu stellen und die Übertragung somit zum Wohl des Betroffenen, entbehrt demnach der Sachverhaltsgrundlage.

4. Im vorliegenden Fall erfolgte die Übertragung der gerichtlichen Erwachsenenvertretung durch das Erstgericht amtswegig ohne erklärten Grund, weshalb mit einer ersatzlosen Behebung der Beschlüsse der Vorinstanzen vorzugehen ist. Sollte das Erstgericht die Übertragung der Erwachsenenvertretung für notwendig erachten, wird es seiner Entscheidung ein Tatsachensubstrat zugrundezulegen haben, dass die Beurteilung erlaubt, ob dieses Vorgehen nach Abwägung aller Umstände dem Wohl des Betroffenen entspricht.

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