European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00043.22G.0330.000
Spruch:
Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.
Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Heimaufenthaltssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Begründung:
[1] Das S* ist ein gemeinnütziger Verein. Der Zweck dieses Vereins ist in seinen Statuten wie folgt festgelegt:
„ § 2 Vereinszweck
S* ist ein überparteiliches, auf privater Initiative beruhendes Sozialwerk zur Betreuung und Begleitung in Not geratener und hilfsbedürftiger Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener in S*‑Familien, familienähnlichen Gemein‑ schaften und familienstärkenden Angeboten. ...
§ 3 Ideelle Verwirklichung des Vereinszweckes
(1) Der Verein erstreckt seine Tätigkeit über das gesamte Staatsgebiet der Republik Österreich.
Er verwirklicht seine Ziele durch folgende Tätigkeiten:
a) Errichtung und Betrieb von S* für in Not geratene Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Betreuungsformen von S*‑Familien, Wohngruppen und begleiteten Gastfamilien.
b) Errichtung und Betrieb von sozial‑ pädagogischen und therapeutischen Wohngemeinschaften für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.
...
§ 8 Regionale Förderkreise
(1) Der Aufsichtsrat kann für geografisch abgegrenzte Bereiche regionale Förderkreise (Sektionen) einrichten bzw auflösen.
(2) Der regionale Förderkreis ist als Sektion ein rechtlich unselbständiger Teil des Vereins i m Sinn des § 1 Abs 4 VerG.
(3) Der Aufsichtsrat erlässt eine einheitliche Geschäftsordnung für die regionalen Förderkreise und ernennt den Leiter bzw die Leiterin der Sektion sowie einen Stellvertreter bzw eine Stellvertreterin aus den Mitgliedern des Vereins.“
[2] Die Tätigkeit des Vereins im Bundesgebiet ist in die Sektionen West, Süd und Nord aufgeteilt. Die Sektion Nord besteht unter anderem aus den Standorten S* W* und S* W*‑W*. Leiter des Standorts S* W* ist E* R*. Der Standort S* W* umfasst die Bezirke F* und D* und besteht aus insgesamt zehn Wohngruppen.
[3] Dem Leiter eines Standorts unterstehen pädagogische Leiterinnen, welche jeweils für zwei Wohngruppen zuständig sind. Sie sind dem Leiter des Standorts zu einem Rechenschaftsbericht verpflichtet und diesem gegenüber in allen Belangen weisungsgebunden. Pädagogische Leiterin der Wohngruppe J*, in der der Bewohner lebt, ist Mag. M* W*.
[4] Der Standort S* W* ist im Auftrag der Wiener Kinder‑ und Jugendhilfe tätig. Vor der Entscheidung der Aufnahme seitens des Standorts wird abgewogen, ob das Kind überhaupt in die Wohngruppe passt. Bei den Wohngruppen wird zwischen sozialpädagogischen, sozialtherapeutischen, sozialpsychiatrischen und den Wohngruppen für Kinder mit einer Behinderung unterschieden. Die zehn Wohngruppen des Standorts S* W* bestehen ausschließlich aus sozialpädagogischen Wohngruppen. Wenn ein Kind, das in einer sozialpädagogischen Wohngruppe wohnt, psychisch krank wird und dann einer psychotherapeutischen wie auch einer psychiatrischen Behandlung auch mit Medikamenten bedarf, wird das Kind zunächst einmal in der Wohngruppe behalten, dies auch im Hinblick auf die längerfristig schon bestehenden sozialen Kontakte. Wenn das jedoch auf Dauer nicht möglich ist, wird die Kinder‑ und Jugendhilfe verständigt und das psychisch kranke Kind dann in einer anderen Wohngemeinschaft, die dafür geeignet ist, untergebracht.
[5] Sobald drei Kinder in der Wohngemeinschaft psychisch erkranken, wird sofort mit der Wiener Kinder‑ und Jugendhilfe Kontakt aufgenommen und es wird mitgeteilt, dass aufgrund der Personal‑ und sonstigen Ressourcen eine weitere Betreuung dieser psychisch kranken Kinder nicht mehr möglich ist. Kinder, die bereits psychisch krank sind, werden vom Standort S* W* nicht aufgenommen.
[6] Der Bewohner lebt seit 26. 6. 2018 in der Wohngruppe J* des Standorts S* W*.
[7] Der Verein beantragt die Unzulässigerklärung von Freiheitsbeschränkungen durch Festhalten.
[8] Das Erstgericht wies den Antrag zurück. Es verneinte die Anwendbarkeit des HeimAufG. Die Wohngruppe J* sei eine „andere Einrichtung“ iSd § 2 Abs 1 HeimAufG. Weder in dieser Wohngruppe noch in den neun anderen Wohngruppen des Standorts S* W* sei es möglich, wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen ständig zu betreuen oder zu pflegen, weil die dafür erforderlichen infrastrukturellen Voraussetzungen (Fachpersonal, besondere räumliche Gestaltung der Wohngemeinschaften) dafür nicht gegeben seien.
[9] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Abzustellen sei darauf, ob in der konkreten Einrichtung, hier der Wohngruppe J*, wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Minderjährige ständig betreut oder gepflegt werden könnten. Dies sei nicht der Fall.
[10] Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu, weil die Frage, ob eine sozialpädagogische Wohngemeinschaft, die einem bestimmtem Standort zugeordnet sei, eine Einrichtung darstelle, noch nicht an den Obersten Gerichtshof herangetragen worden sei.
[11] Gegen diesen Beschluss wendet sich der Revisionsrekurs des Vereins mit dem Antrag, die beanstandeten Freiheitsbeschränkungen für unzulässig zu erklären; hilfsweise die angefochtene Entscheidung aufzuheben und dem Erstgericht die Fortführung des Verfahrens unter Abstandnahme vom herangezogenen Zurückweisungsgrund aufzutragen.
[12] Die Leiterin der Wohngruppe J* begehrt, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.
[13] Der Revisionsrekurs ist zulässig und auch berechtigt.
Rechtliche Beurteilung
[14] 1. Das HeimAufG regelt die Voraussetzungen und die Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen in Alten‑ und Pflegeheimen, Behindertenheimen sowie in anderen Einrichtungen, in denen wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen ständig betreut oder gepflegt werden können. Der Geltungsbereich des HeimAufG wird daher einrichtungsbezogen abgegrenzt (RS0122132).
[15] 2. Unstrittig ist, dass die Wohngruppe J* nicht in der Lage ist, zumindest drei psychisch kranke Kinder ständig zu betreuen. Der den Bewohner vertretende Verein vertritt jedoch den Standpunkt, zur Beurteilung des Einrichtungsbegriffs sei nicht auf die operative Einheit der einzelnen Wohngemeinschaften abzustellen, sondern auf die den Wohngruppen übergeordnete Organisationsstruktur, hier den Standort S* W* mit dem Leiter E* R*. Die Leiterin der Wohngruppe J* hält dem entgegen, als Einrichtung seien die einzelnen Wohngemeinschaften anzusehen.
[16] 2.1 Mit § 2 Abs 2 HeimAufG idFdes 2. Erwachsenenschutz‑Gesetzes, BGBl I 2017/59 (2. ErwSchG), ist die Ausnahme des Anwendungsbereichs des HeimAufG in Bezug auf Heime und andere Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger weggefallen. Dadurch sind nunmehr alle Einrichtungen, auch jene, die unter der Aufsicht des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers stehen, vom HeimAufG umfasst, wenn sie die Voraussetzungen des § 2 Abs 1 HeimAufG erfüllen. Nach den Materialien (222/ ME 25. GP, 78) fallen darunter sowohl Landesjugendheime, Heime privater Träger, sonder‑, heil‑ und sozialpädagogische Wohngemeinschaften, S* oder Sonderschulen (7 Ob 80/19v; 7 Ob 183/21v).
[17] 2.2 Bei diesen Einrichtungen kommt es nach der Generalklausel des § 2 Abs 1 HeimAufG darauf an, dass wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Minderjährige in der Einrichtung ständig betreut oder gepflegt werden können. Ausschlaggebend ist dabei nicht, dass drei oder mehrere Minderjährige mit einer psychischen Erkrankung oder geistigen Behinderung dort aufgenommen sind, sondern einzig, ob die strukturelle Möglichkeit besteht, diese in den Einrichtungen aufzunehmen und betreuen zu können. Mit dem Auffangtatbestand werden demnach jene Einrichtungen erfasst, in denen aufgrund der dort vorhandenen strukturellen (pflegerischen bzw pädagogischen) Bedingungen und der daraus für die betreuten und gepflegten Personen resultierenden „Lebenswelt“ heimähnliche Bedingungen vorliegen (7 Ob 107/21t mwN; 7 Ob 183/21v). Die vom Gesetz geforderte Mindestanzahl der Pflegeplätze bedingt im Allgemeinen eine Organisation der Pflege und Betreuung, die dazu führt, dass auftretende Probleme nicht mehr allein durch zwischenmenschliche Zuwendung wie etwa in einer Familie gelöst werden können, sondern dass es hierfür struktureller Vorkehrungen bedarf (RV 353 BlgNR 22. GP 7). Zur Abgrenzung der umfassten Einrichtungen kommt es hingegen weder darauf an, von wem die Bewohner der Einrichtung zugewiesen werden, noch darauf, auf wessen Ersuchen sie dort aufgenommen werden oder wer ihren Aufenthalt finanziert. Auch ist nicht die Bezeichnung der Einrichtung, sondern die beschriebene Struktur entscheidend (7 Ob 107/21t, 7 Ob 183/21v mwN).
[18] 2.3.1 Wird eine Einrichtung mit mehreren Abteilungen an einem Standort betrieben, so ist nach herrschender Lehre auf die Gesamteinrichtung und nicht auf die einzelnen Abteilungen abzustellen (sog „Makrolösung“, vgl Strickmann, Heimaufenthaltsrecht2 96; Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 2 HeimAufG Rz 11; Herdega/Bürger in Resch/Wallner, Handbuch Medizinrecht3 VII HeimAufG Rz 36). Zahlreiche Einrichtungen der Kinder‑ und Jugendhilfe sowie der Behindertenhilfe betreiben hingegen dislozierte Betreuungseinrichtungen. Bürger/Halmich (HeimAufG2 § 2 Rz 2) führen aus, dass für diese dislozierten Einheiten teilweise unterschiedliche Bezirksgerichte örtlich zuständig seien und auch die Namhaftmachung der Bewohnervertreter standortbezogen erfolge. Zudem würden diese Wohngemeinschaften bzw Tagesstätten über eigenständige pädagogische Leitungen verfügen, denen weitgehend eine Selbstverwaltung zukomme. Insoweit sei für den Einrichtungsbegriff ausschlaggebend, ob die allenfalls betriebenen Sub‑Einrichtungen an einem Standort oder disloziert bestünden.
[19] 2.3.2 Der Oberste Gerichtshof hat erst jüngst ausgesprochen, dass nicht ausschlaggebend ist, ob die Betreuung der Bewohner durch einen Rechtsträger an einem Standort (zB in mehreren Wohneinheiten) oder disloziert an mehreren Standorten erfolgt. Vielmehr kommt es in Fällen wie auch diesem, in denen an den einzelnen – disloziert gelegenen – Standorten nicht zumindest drei psychisch kranke oder geistig behinderte Betroffene ständig betreut oder gepflegt werden können, für die Frage der Anwendbarkeit des HeimAufG darauf an, ob bei Betrachtung der Organisation des Gesamtgebildes eine heimähnliche oder eine familienähnliche Betreuungssituation vorliegt (7 Ob 183/21v).
[20] 2.3.3 Zwar steht fest, dass der Standort S* W* insgesamt zehn Gruppen betreibt, in denen jeweils acht Minderjährige leben und die pädagogische Leitung der einzelnen Wohngemeinschaften gegenüber dem Leiter des Standorts S* W* in allen Belangen weisungsgebunden ist. Auf Basis dieser Feststellungen kann aber noch nicht abschließend beurteilt werden, ob die Einrichtungsleitung beim Leiter des Standorts S* W* liegt und zentral vorgegebene Aufgaben und Abläufe bloß dezentral ausgeführt werden, sodass die dislozierten Einheiten als Gesamteinrichtung zu werten sind oder ob eine familienähnliche Betreuungssituation vorliegt. So fehlen jegliche Feststellungen über die Organisation der tatsächlichen Betreuung vor Ort, beispielsweise ob – wie in Familienverbänden üblich – die gleichen Betreuungspersonen ständig (Tag und Nacht) vor Ort sind oder diese ihre Tätigkeit wie in einem Heim arbeitsteilig in Diensträdern verrichten.
[21] 2.4. Für den Fall, dass der Standort S* W* als Gesamteinrichtung zu betrachten ist, ist zu klären, ob dort wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Minderjährige ständig betreut oder gepflegt werden können. Die allein getroffene Feststellung, dass eine Aufnahme psychisch Kranker nicht vorgesehen ist, reicht für die Beurteilung nicht aus. Vielmehr werden konkrete Feststellungen insbesondere zur fachlichen Qualifikation des Personals und zu den von der Einrichtung erbrachten Leistungen (Art und Fachzugehörigkeit [medizinische, sozialpädagogische, etc], Betreuungs‑ und Pflegedienste, Konsiliardienste) zu treffen sein, um – allenfalls auch durch Beiziehung eines (kinder‑)psychiatrischen Sachverständigen – beurteilen zu können, ob die sich daraus ergebende Struktur die Möglichkeit bietet, mindestens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Minderjährige in den zehn Wohngruppen des Standorts des S* W* aufnehmen.
[22] 3. Daher ist die Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen und die Zurückverweisung der Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung unumgänglich, wobei dem fortzusetzenden Verfahren auch der Leiter des Standorts S* W* beizuziehen sein wird. Im fortgesetzten Verfahren ist weiters zu beachten:
[23] 4.1 Falls die Einrichtung nicht in den Anwendungsbereich des HeimAufG fallen würde, wäre der Antrag nicht zurück‑, sondern abzuweisen (7 Ob 107/21t; 7 Ob 183/21v je mwN).
[24] 4.2.1 Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens nach dem HeimAufG sind die Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen, die zur Zeit der Antragstellung noch aufrecht sind, gemäß §§ 11 ff HeimAufG und die nachträgliche Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen, die zur Zeit der Antragstellung nicht mehr aufrecht sind, gemäß § 19a HeimAufG. In beiden Fällen muss der Antrag ausreichend bestimmt sein, also hinreichend deutlich erkennen lassen, welche Entscheidung der Antragsteller anstrebt und aus welchem Sachverhalt er dies ableitet (7 Ob 161/21h mwN).
[25] 4.2.2 Dem wird der vorliegende Antrag nicht gerecht. Zum einen erfolgt in der Antragserzählung die weitwendige Wiedergabe von Vorfallsprotokollen und Dienstbucheinträgen vom 28. 3., 9. 4., 15. 5., 24. 5., 26. 6., 19. 7., 12. 8., 24. 8. und 14. 10. 2020, wobei die offenbar inkriminierten Eingriffe durch das bloße Unterstreichen einzelner Textpassagen innerhalb der Antragserzählung bezeichnet werden und keinen Eingang in das pauschale Antragsbegehren, die am Bewohner „vorgenommenen Freiheitsbeschränkungen durch körperlichen Zugriff/Festhalten formell und materiell hinsichtlich ihrer Zulässigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls für unzulässig zu erklären“, fanden. Die inkriminierten in sich abgeschlossenen Eingriffe wurden darüber hinaus vor Einlangen des Überprüfungsantrags am 12. 2. 2021 gesetzt, die Ausführungen beziehen sich insoweit also auf die Überprüfung bereits stattgefundener Eingriffe nach § 19a HeimAufG. Im Widerspruch dazu wird der Antrag ausdrücklich auf § 11 HeimAufG gestützt und die Erteilung von Auflagen gemäß § 15 Abs 2 HeimAufG beantragt. Insoweit bezieht er sich auf eine fortdauernde Freiheitsbeschränkung. Damit ist schon der Prüfungsgegenstand völlig unklar.
[26] 4.2.3 Daher ist auch eine Erörterung des Prüfungsumfangs unumgänglich. Dabei ist festzuhalten, dass je nach Prüfungsgegenstand unterschiedliche verfahrensrechtliche Regelungen anzuwenden sind.
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