OGH 7Ob183/21v

OGH7Ob183/21v12.1.2022

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätin und Hofräte Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich, MMag. Matzka und Dr. Weber als weitere Richter in der Heimaufenthaltssache des Bewohners E* H*, geboren am * 2007, *, vertreten durch den Vater M* H*, und den Verein VertretungsNetz Erwachsenenvertretung, Patientenanwaltschaft, Bewohnervertretung, 4600 Wels, Rennbahnstraße 15/2, (Bewohnervertreter T* G*, Msc), dieser vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, Einrichtungsleiter DSA E* L*, Teamleiter T* K*, wegen Überprüfung einer Freiheitsbeschränkung, über den Revisionsrekurs des Vereins gegen den Beschluss des Landesgerichts Linz als Rekursgericht vom 23. August 2021, GZ 15 R 300/21z‑7, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Rohrbach vom 25. Juni 2021, GZ 2 Ha 1/21b‑4, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

European Case Law Identifier: ECLI:AT:OGH0002:2022:0070OB00183.21V.0112.000

Rechtsgebiet: Zivilrecht

 

Spruch:

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Heimaufenthaltssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

 

Begründung:

[1] Die N* GmbH (in der Folge GmbH) bietet eine vom Land Oberösterreich finanzierte Sonderbetreuungsform für Minderjährige an, die sich „Leben in Familien“ (in der Folge LiF) nennt. Dadurch soll eine Betreuungsform nachempfunden werden, wie sie in einer Familie üblich ist. Die Betreuung erfolgt dabei an mehreren Standorten, in denen jeweils maximal zwei Kinder betreut werden. Derzeit wird – mit einer Ausnahme – jeweils nur ein Kind pro Standort betreut. Der „LiF‑Elternteil“ betreut den/die Minderjährigen vor Ort und ist gleichzeitig Teamleiter. Er wird durch ein Support Team der GmbH unterstützt. Dieses Team besteht aus verschiedenen Personen, die jenen Beitrag leisten, der in „herkömmlichen Familien von Geschwistern oder Großeltern“ übernommen wird.

[2] Der minderjährige Betroffene wird seit 1. April 2020 mit Zustimmung des obsorgeberechtigten Vatersvom LiF‑Vater T* K* in dessen Haus grundsätzlich rund um die Uhr (24/7) betreut. Er wird vom Support Team der GmbH im Ausmaß von bis zu 30 Wochenstunden unterstützt. Sein Dienstvertrag ist „an die Dienstverträge von Pflegeeltern angelehnt“. Die Lebensgefährtin des LiF‑Vaters wohnt ebenfalls im Haus. Sie ist seit Mai 2021 geringfügig bei der GmbH beschäftigt und Teil des Support Teams. Das Haus steht im Alleineigentum des LiF‑Vaters und dient diesem, seiner Lebensgefährtin und dem Betroffenen als Hauptwohnsitz.

[3] Dem Betroffenen wurden von einerOberärztin der Universitätsklinik für Jugendpsychiatrie L* Medikamente verordnet, die er regelmäßig einnehmen muss. Diese werden ihm vom LiF‑Vater am Morgen und am Abend (je nach Verordnung) bereit gelegt und von ihmselbst eingenommen. Dem Betroffenen wurde auch die Bedarfsmedikation Truxal verschrieben, wobei er selbst entscheiden kann, ob er sie im Bedarfsfall einnimmt.

[4] Der Verein beantragt die Unzulässigerklärung der Freiheitsbeschränkungen durch Verabreichung der Dauermediaktion Intuniv Ret. und Risperidon Gen. sowie der Einzelfallmediaktion Truxal und durch Festhalten. Die organisatorische Zusammengehörigkeit der einzelnen LiF‑Wohngemeinschaften unter der Leitung des Geschäftsführers der GmbH führe dazu, dass die GmbH als Einrichtung im Sinn des § 2 Abs 1 HeimAufG zu qualifizieren sei, in der zumindest drei psychisch kranke oder geistig behinderte Personen ständig betreut oder gepflegt werden können.

[5] Das Erstgericht wies den Antrag zurück. Im vorliegenden Fall werde eine minderjährige Person in einer familienähnlichen Situation ständig betreut. Es sei weder die vom Gesetzgeber geforderte „Heimähnlichkeit“ noch die Mindestanzahl der zu betreuenden Personen gegeben, sodass das HeimAufG nicht anzuwenden sei.

[6] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Es könne unabhängig davon, dass die „LiF‑Eltern“ über eine entsprechende Ausbildung verfügen müssten, im Angestelltenverhältnis tätig seienund das Land die Betreuungsplätze finanziere, nicht von heimähnlichen Bedingungen gesprochen werden. Vielmehr liege hier eine der Familie ähnliche Betreuungsform vor, wie dies auch bei klassischen Pflegefamilien der Fall sei. Auch dort gebe es ein Support Team zur Unterstützung. Die vom Rekurswerber vermissten Feststellungen, die die organisatorische Zusammengehörigkeit der einzelnen LiF‑Wohngemeinschaften unter der Leitung der GmbH und damit den einheitlichen Einrichtungsbegriff belegen sollen, seien daher rechtlich nicht relevant.

[7] Das Rekursgericht erklärte den ordentlichen Revisionsrekurs für zulässig, weil das hier maßgebliche Abgrenzungskriterium des § 2 Abs 1 HeimAufG bislang noch nicht Gegenstand höchstgerichtlicher Entscheidungen gewesen sei.

[8] Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekursdes Vereins mit einem Abänderungsantrag; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

[9] Der Revisionsrekurs ist zulässig, weil Rechtsprechung zu der vom Rekursgericht aufgeworfenen Rechtsfrage fehlt; er ist auch im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

[10] Eine Revisionsrekursbeantwortung wurde nicht erstattet.

[11] 1. Dass der Betroffene an einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung leidet, ist nicht strittig.

[12] 2. Das HeimAufG regelt die Voraussetzungen für die Überprüfung von Freiheitsbeschränkungen in Alten‑ und Pflegeheimen, Behindertenheimen sowie in anderen Einrichtungen, in denen wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen ständig betreut oder gepflegt werden können. Der Geltungsbereich des HeimAufG wird daher einrichtungsbezogen abgegrenzt (RS0122132).

[13] 2.1. Mit § 2 Abs 2 HeimAufG idF des 2. Erwachsenenschutz‑Gesetzes, BGBl I 2017/59 (2. ErwSchG), ist die Ausnahme des Anwendungsbereichs des HeimAufG in Bezug auf Heime und andere Einrichtungen zur Pflege und Erziehung Minderjähriger weggefallen. Dadurch sind nunmehr alle Einrichtungen, auch jene, die unter der Aufsicht des Kinder‑ und Jugendhilfeträgers stehen, vom HeimAufG umfasst, wenn sie die Voraussetzungen des § 2 Abs 1 HeimAufG erfüllen. Nach den Materialien fallen darunter sowohl Einrichtungen der Länder als auch private Kinder‑ und Jugendhilfeeinrichtungen, etwa Landesjugendheime, Heime privater Träger, sonder‑, heil‑ und sozialpädagogische Wohngemeinschaften, SOS‑Kinderdörfer oder Sonderschulen (222/ME 25. GP  78). Das HeimAufG kommt wie bisher aber nicht zur Anwendung, wenn der behinderte Minderjährige in der Familie gepflegt wird (7 Ob 80/19v).

[14] 2.2. Der Begriff der Einrichtung ist im HeimAufG nicht definiert. Es müssen daher die jeweiligen Organisationsvorschriften der Einrichtung herangezogen werden (7 Ob 80/19v). Bestehen Unklarheiten bei der Grenzziehung, ist unter Anwendung der Generalklausel des § 2 Abs 1 HeimAufG darauf abzustellen, ob wenigstens drei psychisch kranke oder geistig behinderte Minderjährige in der Einrichtung ständig betreut oder gepflegt werden können. Ausschlaggebend ist dabei nicht, dass drei oder mehrere Minderjährige mit einer psychischen Erkrankung oder geistigen Behinderung dort aufgenommen sind, sondern einzig, ob die strukturelle Möglichkeit besteht, diese in den Einrichtungen aufnehmen und betreuen zu können. Mit dem Auffangtatbestand werden demnach jene Einrichtungen erfasst, in denen aufgrund der dort vorhandenen strukturellen (pflegerischen bzw pädagogischen) Bedingungen und der daraus für die betreuten und gepflegten Personen resultierenden „Lebenswelt“ heimähnliche Bedingungen vorliegen (7 Ob 107/21t). Die vom Gesetz geforderte Mindestanzahl der Pflegeplätze bedingt im Allgemeinen eine Organisation der Pflege oder Betreuung, die dazu führt, dass auftretende Probleme nicht mehr allein durch zwischenmenschliche Zuwendung wie etwa in einer Familie gelöst werden können, sondern dass es hierfür struktureller Vorkehrungen bedarf (RV 353 BlgNR 22. GP  7). Zur Abgrenzung der umfassten Einrichtungen kommt es hingegen weder darauf an, von wem die Bewohner der Einrichtung zugewiesen werden, noch darauf, auf wessen Ersuchen sie dort aufgenommen werden oder wer ihren Aufenthalt finanziert (7 Ob 1/14v). Auch ist nicht die Bezeichnung der Einrichtung, sondern die beschriebene Struktur entscheidend (7 Ob 107/21t).

[15] 2.3. Wird eine Einrichtung mit mehreren Abteilungen an einem Standort betrieben, so ist nach herrschender Lehre auf die Gesamteinrichtung und nicht auf die einzelne Abteilung abzustellen (sogenannte „Makrolösung“; vgl Strickmann, Heimaufenthaltsrecht2 96; Höllwerth in Gitschthaler/Höllwerth, AußStrG II § 2 HeimAufG Rz 11; Herdega/Bürger in Resch/Wallner, Handbuch Medizinrecht3 VII. HeimAufG Rz 36). Zahlreiche Einrichtungen der Kinder‑ und Jugendhilfe sowie der Behindertenhilfe betreiben hingegen dislozierte Betreuungseinrichtungen. Bürger/Halmich (HeimAufG² § 2 Rz 2) führen aus, dass für diese dislozierten Einheiten teilweise unterschiedliche Bezirksgerichte örtlich zuständig seien und auch die Namhaftmachung der Bewohnervertreter standortbezogen erfolge. Zudem würden diese Wohngemeinschaften bzw Tagesstätten über eigenständige pädagogische Leitungen verfügen, denen weitgehend eine Selbstverwaltung zukomme. Insoweit sei für den Einrichtungsbegriff ausschlaggebend, ob die allenfalls betriebenen Sub‑Einrichtungen an einem Standort oder disloziert bestünden.

[16] 3.1. Der Revisionsrekurswerber ist der Ansicht, dass die organisatorische Zusammengehörigkeit der einzelnen LiF‑Wohngemeinschaften unter der Leitung (Fachaufsicht) des Geschäftsführers der GmbH, die Ausbildung, die Dokumentationspflicht und die professionelle Unterstützung (Support Team) des LiF‑Vaters sowie dessen Weisungsgebundenheit gegenüber der GmbH dazu führe, dass die GmbH als (Gesamt‑)Einrichtung im Sinn des § 2 Abs 1 HeimAufG zu qualifizieren sei.

Dazu wurde erwogen:

[17] 3.2. Ob die Betreuung der Bewohner durch einen Rechtsräger an einem Standort (zB in mehreren Wohneinheiten) oder disloziert an mehreren Standorten erfolgt, ist nach Ansicht des Fachsenats für die hier entscheidungswesentliche Frage nicht ausschlaggebend. Vielmehr kommt es in Fällen wie diesem, in denen an den einzelnen – disloziert gelegenen – Standorten nicht zumindest drei psychisch kranke oder geistig behinderte Betroffene ständig betreut oder gepflegt werden können, für die Frage der Anwendbarkeit des HeimAufG darauf an, ob bei einer Betrachtung der Organisation des Gesamtgebildes eine heimähnliche oder eine familienähnliche Betreuungssituation vorliegt.

[18] Dies kann auf Basis des festgestellten Sachverhalts nicht abschließend beurteilt werden. Vielmehr bedarf es dazu ergänzender Feststellungen, wie etwa welchen konkreten Inhalt der „Dienstvertrag“ der LiF‑Eltern hat, wie die vorzunehmende Dokumentation aussieht, ob die Teamleiter selbständig und eigenverantwortlich für die Betreuung der Kinder verantwortlich sind oder ob diese durch generelle Richtlinien der GmbH vorgegeben ist, ob ein Weisungsrecht der GmbH gegenüber den LiF‑Eltern besteht und wenn ja, wie dieses ausgestaltet ist sowie welche konkrete Aufgaben das Support Team übernimmt und wie dieses organisiert ist und eingesetzt wird. Auf Basis des ergänzend festgestellten Sachverhalts muss eine Beurteilung möglich sein, ob die Einrichtungsleitung beim Geschäftsführer der GmbH liegt und die von der GmbH zentral vorgegebenen Aufgaben und Abläufe bloß dezentral ausgeführt werden, sodass die dislozierten Einheiten als Gesamteinrichtung zu werten sind oder ob eine pflegefamilienähnliche Betreuung an mehreren dislozierten und eigenständigen Standorten erfolgt.

[19] 4. Daher ist die Aufhebung der Beschlüsse der Vorinstanzen und die Zurückverweisung der Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung unumgänglich, wobei für das fortzusetzende Verfahren darauf hingewiesen wird, dass der Antrag nicht zurück‑, sondern abzuweisen wäre, falls die Einrichtung nicht in den Anwendungsbereich des HeimAufG fallen würde (7 Ob 194/12y; 7 Ob 107/21t).

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